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Aus dem Leben gerissen
Miriam Richter starrt fassungslos auf das abgegriffene Notizbuch. Zeile für Zeile ist eng beschrieben in der ordentlichen Handschrift ihrer Tochter. Jedes Wort ein Stich ins Herz, wühlt in der Wunde, von der sie gehofft hatte, sie sei verheilt. Leise stöhnt sie auf. Schweiß auf der Stirn, schafft sie es kaum, gegen die schnürende Enge in der Brust anzuatmen. Ihr linker Zeigefinger bearbeitet mechanisch den Nagelfalz des Daumens. Während sie weiterliest, fährt die andere Hand durch die dichten Haare, mehr grau als blond, noch vor ihrem fünfzigsten Geburtstag.
Im Rücken spüre ich Roberts wachsamen Blick.
„Zu riskant“, hatte er gestern gesagt, die buschige rechte Augenbraue skeptisch hochgezogen. Die wulstige Narbe direkt darüber wird zu einer Wellenlinie aufgeworfen. Die rote Welle des Zweifels haben wir sie genannt.
„Sollten wir nicht anfangen, Anne mehr zuzutrauen?“ Doktor Berger hätte mir erlaubt, ohne Begleitung zu gehen.
Die anderen drei Bewohner dieser Wohngemeinschaft schwiegen, taten wie immer so, als ginge sie das alles nichts an. Hauptsache nichts Falsches sagen. Sie werden hier genauso betreut wie ich, jeder für sich und alle zusammen.
Im Zweifel hat immer der Betreuer das letzte Wort, schließlich lebt er mit uns in dieser durchgeknallten WG.
Robert ist eigentlich in Ordnung. Ich glaube, er ist tatsächlich einer von uns. Er kennt sich aus mit der Dunkelheit, hat sie selbst erlebt. Es ist kaum möglich, schwarze Gedanken vor ihm zu verstecken. Er kann sie spüren, aufspüren.
Doch ich wollte unbedingt allein hierher. Fast hätte ich deswegen einen Rückzieher gemacht. Meine Unterarme sind verheilt, kein Platz für neue Narben.
„Das würde dich nicht abhalten.“, flüstert Roberts Blick in meinem Kopf.
„Stimmt, aber ich weiß, dass ich es heute schaffe.“
Es wird nichts passieren. Ich habe einen Plan, den will ich nicht gefährden.
Robert wartet auf ein verräterisches Zeichen. Drehe ich mich etwa zur Seite, um die Rasierklinge unauffällig aus dem Innenfutter zu fingern? Ein kurzes Zucken im Gesicht, wenn der Schmerz den Kokon durchdringt? Ein Blutstropfen auf den hellen Kieselsteinen? Immer das gleiche Spiel.
Ich warte darauf, dass irgendetwas geschieht. Keine Ahnung, was das sein könnte. Ein Blitz vom Himmel, der mich zu Asche verglühen lässt? Asche zu Asche. Mein Herz zerplatzt, zerfetzt mich in tausend Stücke, kann dem Druck der ungesagten Worte nicht mehr standhalten? Blut sickert durch die Erde, immer tiefer hinunter zu dir. Blutsverwandtschaft.
Ich starre auf den Grabstein vor mir. Macht man das nicht so beim Friedhofsbesuch? Zwiesprache halten mit dem Verstorbenen. Was hältst du von meiner Idee? Kann ich es so wieder gutmachen?
Walter Goldmann 1941 – 2021 Der bronzefarbene Schriftzug brennt sich in meine Netzhaut. Brandzeichen. Es soll sich über jedes Bild legen. Es soll sichtbar sein, wie die Spur des glühenden Eisens im Fell jedes einzelnen Tieres der Herde. Alle sollen mich erkennen können, das Mädchen, das mit 12 Jahren seinen Opa umgebracht hat.
Weißt du, sie verstehen mich alle nicht. Es ist schon drei Jahre her, sagen sie, Großeltern sterben eben vor ihren Enkeln, mal früher, mal später. Ich könne nichts dafür. Es gebe keinen Grund, mich schuldig zu fühlen. Das Leben gehe weiter. Zeit, nach vorne zu schauen. Der vielstimmige Chor der Unwissenden. Er wird nicht verstummen, es sei denn, ich gestehe. Doch das kann ich nicht. Mamas Herz würde endgültig zerbrechen, ich würde noch ein Leben zerstören. Darum habe ich einen anderen Weg gesucht.
Die Kälte kriecht von unten herauf, meine eisigen Finger, fast schon weiß, scheinen langsam abzusterben. Es tut weh, richtig gut weh.
Wie kalt ist es da unten in der Erde? Wie tief haben sie dich vergraben? Meine Glasscherbe drängt sich zwischen die Gedanken. Die Finger trommeln unruhig gegen die Oberschenkel. Sie baumelt unsichtbar vor meiner Brust. Im silbernen Medaillon, sicher in Watte verpackt, ist sie hinter deinem Foto gut versteckt. Weißt du noch? Wir beide haben sie am Strand gefunden. Sie war rund und schillerte wunderschön bunt, von Meer und Sand geschliffen. Einen Handschmeichler hast du sie genannt. Ich kannte das Wort nicht, aber ich spürte die glatte, sanfte Oberfläche wohlig in meinen kleinen Fingern. Ich habe sie zerbrochen, in viele messerscharfe Scherben. Die beste habe ich immer dabei. Nie hat sie einer gefunden. Nur ein paar stumpfere habe ich ab und zu in der Matratze versteckt. Robert sollte nicht misstrauisch werden.
„Lass uns zurückfahren Anne, du zitterst ja vor Kälte.“ Robert steht plötzlich neben mir, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Es kribbelt und sticht, in der Wärme des Autos beginnen die Finger aufzutauen. Ich werde müde, so unendlich müde. Aus dem Radio klingt Udo Jürgens „Immer wieder geht die Sonne auf…“ Das Lied katapultiert mich zurück zu diesem Samstag vor drei Jahren und siebenundzwanzig Tagen.
„Ein Tänzchen mit deinem Großvater, meine kleine Sonne?“ Schon drehte mich Opa lachend zur Melodie seines Lieblingsliedes, bis mir schwindlig wurde. Er drückte mich fest an sich, die Welt kam zur Ruhe, schien für diesen perfekten Moment stillzustehen.
Plötzlich war wieder das Kribbeln im Bauch zurück, das mich schon seit Tagen begleitet hatte, mein Blick wanderte suchend über die Geburtstagsgesellschaft. Florian, mein Cousin, der coolste Junge, den ich kannte, chillte in der Hollywoodschaukel.
„Na, dann mal los!“, hatte Opa mir zwinkernd zugeflüstert. „Verstehe ich doch, dass dir der schmucke junge Mann besser gefällt als ich alter Zausel.“
„Du bist kein Zausel, du bist doch der flotteste Achtzigjährige auf der Welt und der beste Opa im gesamten Universum.“
Miriam hält seufzend inne. So unbeschwert wie an diesem wundervollen Tag, hatte sie Anne seither nie wieder gesehen. Strahlende blaue Augen unter den glatten blonden Ponyfransen, der kleine Leberfleck über dem rechten Mundwinkel tanzte bei jedem Lachen auf und ab.
Warum? Die Frage ohne Antwort. Gehen, wenn es am schönsten ist, das war immer ihres Vaters Lebensmotto gewesen. Aber doch nicht so früh, viel zu früh. Anne hatte ihren Opa so sehr geliebt. Miriam wischt sich die Tränen aus den Augen, malt mit der Wimperntusche einen schwarzen Strich bis zur Wange hinunter und setzt die Lesebrille wieder auf.
Robert bremst hart direkt vor dem Hauseingang. Der Sicherheitsgurt rastet ein, klick, ein kurzer Stich in der Brust, unsanfte Landung in der Gegenwart.
„Deine Mutter ist schon da, du weißt schon, Lagebesprechung mit Doktor Berger. Mist, wir sind spät dran. Geh mal vor, ich suche einen Parkplatz.“
Jetzt gilt es leise zu sein, die unerwartete Chance nicht zu verspielen. Die Tür ist nur angelehnt.
„Ich bin so glücklich, dass es Anne endlich besser geht! Sie ist viel offener, hat gute Noten, spricht über Zukunftspläne. Es geht ihr doch besser, oder?“ Mutters Stimme, anfangs betont fröhlich, dann zitternd nach Bestätigung bettelnd, sie kriecht direkt unter die Haut. Mich fröstelt. Ich weiß, ich habe sie zu oft enttäuscht. Diesmal werde ich es durchziehen, Mama, versprochen.
„Sicher, es geht bergauf. Den mittleren Schulabschluss, das hätten wir vor einem Jahr kaum zu hoffen gewagt.“ Doktor Bergers aufmunterndes Lächeln, mit gerade so viel Skepsis in den Mundwinkeln, dass sie das Aber nicht aussprechen muss. Ich sehe ihr Gesicht vor mir, auch wenn meine Augen auf ihren Hinterkopf mit dem straff gebundenen Zopf schauen.
„Die Idee mit der Krankenpflege, Frau Richter, da sollten wir sie etwas bremsen, vielleicht erst mal ein Praktikum. Ich bin skeptisch, dass sie schon stabil genug ist.“
Einen Moment scheint mein Herz still zu stehen. Auf und ab schwillt das Rauschen und das grelle Pfeifen in meinen Ohren, dröhnt in meinem ganzen Kopf, so laut, dass ich kein weiteres Wort mehr verstehen kann. Ich schmecke Blut, zu fest auf die Unterlippe gebissen, um bloß nicht laut aufzuschreien. Tief einatmen und lange wieder aus, ein und wieder aus, die verkrampfte Hand langsam vom Medaillon lösen, geschafft.
Es ist so ungerecht! Sitz, Platz, Aus – seit Wochen mache ich alles brav und ordentlich: Schule, Küchendienste, Morgenkreis, WG-Essen, Spieleabend. Trotzdem muss ich an der kurzen Leine bleiben? Wie Lisas Dackel Rudi, der immer an der roten Kordel war, weil er allzu oft unbemerkt in einen Fuchsbau abgetaucht war. Ich werde mich noch mehr anstrengen müssen. Ich will, nein, ich muss Krankenpflegerin werden.
Roberts Schlüssel klappert in der Wohnungstür. Höchste Zeit, höflich anzuklopfen und ins Zimmer zu gehen.
Es stimmt also, die wichtigen Dinge erfährt man beim Lauschen, heute an der Tür, damals am Fenster. Ich weiß es seit diesem Herbsttag vor drei Jahren, an dem mein Schicksal besiegelt wurde.
Seit diesem Nachmittag war nichts mehr wie zuvor. Ich hatte es geahnt. Als mein Onkel es aussprach, hatte ich Gewissheit. Ich war schuld an Opas Tod. Onkel Anton wusste Bescheid, das machte mir Angst.
„Jetzt hör endlich auf damit, Anton! Deine ewigen Schuldzuweisungen machen Vater auch nicht wieder lebendig. Du hast doch selbst ein schlechtes Gewissen. Du wolltest unbedingt eine große Feier.“ Mamas Stimme tönte unnatürlich schrill von der Terrasse hoch. Das Fenster über meinem Schreibtisch war aufgekippt, das Englischbuch vor mir mit einem Schlag unwichtig.
Nach Opas Tod stritten Mama und Onkel Anton oft. Ich verstand bis dahin nicht warum. Streitet man, weil man traurig ist?
„Ihr hättet zum Beispiel Anne noch mal am Samstag testen können. Alle andern waren geimpft oder zumindest am Morgen des Festes frisch beim Test.“ Anton, bedrohlich zischend, war schwerer zu verstehen.
„Zum hundertsten Mal!“ Mamas Stimme überschlug sich. „Papa kann den verdammten Virus auch vom Heizungsmonteur, vom Fensterputzer oder einfach im Supermarkt eingefangen haben.“
„Sehr unwahrscheinlich, das musst selbst du zugeben.“, fauchte Anton. „Anne ist die Einzige, die am Tag nach Vaters Geburtstag krank wurde und die Einzige, die schon am Freitag, und außerdem nur in der Schule, getestet wurde. Falsch negativ, dass ich nicht lache, vermutlich eher falsch gemacht!“
„Es war Pech, und dass Papa es trotz Impfung nicht geschafft hat, das war…“ der Rest des Satzes ging in Mamas Schluchzen unter.
„Schicksal?“, schnaubte Anton. „Du machst es dir einfach.“
Sie sollte das Heft weglegen, denkt Miriam schwer atmend, die Enge in der Brust ist kaum mehr zu ertragen. Heimlich das Tagebuch ihrer Tochter lesen, das geht gar nicht. Andererseits, hatte sie es vielleicht sogar finden sollen? Es hatte auf Annes Kinderschreibtisch gelegen, mit einer Zeitschrift nur knapp verdeckt. Sie kämpft mit sich, blättert mal vor, mal zurück, legt es wieder auf den Tisch. Sie geht zum Fenster, lehnt die Stirn an die kühle Scheibe, schließt die Augen und atmet tief ein und aus. Warum hatte sie damals nur so wenig verstanden, was in ihrer Tochter wirklich vorging? War sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen? Ihre Ehe war an dieser Tragödie zerbrochen, mit ihrem Bruder hat sie bis heute kaum noch Kontakt. Hatte sie auch ihre Tochter verloren? „Gerichtsakte - Protokoll Anne R.“ steht in roten Druckbuchstaben provozierend auf dem Deckblatt. Das hier ist doch kein Tagebuch. Miriam lässt sich entschlossen auf den Schreibtischstuhl fallen und schlägt die Seiten ungeduldig irgendwo wieder auf.
Schon eine Woche bin ich auf der Intensivstation eingesetzt. Leben und Sterben liegen hier so dicht beieinander, der Tod ist allgegenwärtig und mein eigener Dämon beunruhigend nah.
Der junge Mann in der Eins ist schon zwei Wochen hier. Seit heute Nacht geht es ihm wieder schlechter.
„Hey, Anne, wo bist du mit deinen Gedanken? Wir drehen ihn jetzt bei drei auf den Bauch. Du passt auf, dass der Beatmungsschlauch bleibt, wo er hingehört. Alles klar?“
Müde pellen wir uns aus den Schutzkitteln, Schwester Sigrid streckt den schmerzenden Rücken gerade durch.
„Anne, Sie sind so blass. Alles in Ordnung?“ Der Blick ihrer graugrünen Augen ruht nachdenklich auf meinem Gesicht. „Wir brauchen so engagierte Leute wie Sie hier. Wir würden Sie gerne nach der Prüfung als Kollegin gewinnen. Aber Sie müssen auch lernen, gut auf sich selbst aufzupassen. So schwer kranke Covidpatienten wie Herrn Peters haben wir zum Glück nur noch selten. Anfang der Zwanzigerjahre war das ganz anders. Alle mussten über ihre Grenzen gehen, so viele aus unserem Team sind ausgebrannt und letztendlich gegangen. Ich konnte nur hilflos zusehen. Das wird mir nie wieder passieren.“ Sigrid dreht sich rasch zur Seite. Nicht schnell genug, um ihre feuchten Augen vor mir zu verbergen.
„Mein Opa ist damals hier gestorben.“ Die Worte schlüpfen aus meinem Mund noch bevor das Gehirn sie aufhalten kann.
„Das tut mir so leid, Anne. Da warst du ja noch ein Kind.“ Sigrid nimmt mich fest in den Arm, hüllt mich in tröstliche Wärme, für einen kleinen Moment steht die Welt still. Bloß jetzt nicht weinen. Zu viele zurückgehaltene Tränen warten auf so einen durchlässigen Moment.
Ich darf die Kontrolle nicht verlieren, nicht hier und nicht so kurz vor dem Ziel.
Ich bin so weit gekommen. Die Arbeit lässt mich meistens ruhiger werden. Ich gehe jeden Tag gerne hierher. Wenn der Dämon die Oberhand gewinnt, dann arbeite ich so lange bis es weh tut. Zum Glück brauche ich das nur noch selten.
Was jetzt zählt, ist allein, das Examen bald in der Tasche zu haben. „Belastbar und stabil“ soll im Zeugnis stehen. Das wäre eine gute Voraussetzung für einen Auslandseinsatz.
Seit gestern bin ich endlich volljährig. Jetzt kann ich mich bewerben.
Miriam stockt der Atem. Anne hatte so erfüllt gewirkt. Ihre Tochter schien etwas gefunden zu haben, was ihr Freude macht, einen Weg zurück in ein normales Leben. Manchmal blitzte die fröhliche Anne von früher wieder auf, der kleine Leberfleck über dem Mund begann wieder zu tanzen. Konnte sich eine Mutter so irren? Welchen wahnwitzigen Plan hatte ihre Tochter die ganze Zeit verfolgt? Sie blättert weiter zu den letzten Seiten.
Ich klettere schon vor dem Sonnenaufgang über die Friedhofsmauer. Das Tor ist noch verschlossen. Beim Aufwachen habe ich eine Entscheidung getroffen. Jetzt kann ich keinen Moment länger warten. Opas sechster Todestag. Weit und breit war keine Sonnenblume aufzutreiben, tut mir leid.
Nichts kann so schlimm sein, dass du es mir nicht sagen kannst. Deine Worte, Opa. Ich hoffe so sehr, dass du mich hören kannst.
Die Angeklagte wird heute ein Geständnis ablegen.
Ich habe es nicht gut gemacht. Ich habe das Stäbchen nicht tief genug in die Nase gesteckt, nicht genug gewühlt, nicht lange genug gedreht und in der Flüssigkeit ausgepresst.
Ich habe an Florian gedacht, auf das Kribbeln im Bauch gehört, aufregend und schön.
Lisa hat es gemerkt, mich angestupst, gekichert: „Wo bist du denn mit deinen Gedanken?“
Ich habe es nicht gut gemacht und meine beste Freundin ist die einzige Zeugin.
Ich hatte Angst, dass ich wegen des Tests in letzter Minute nicht mit nach Hamburg fahren darf. So wie zwei Jahre zuvor, statt Klassenreise krank im Bett. Ich hatte Florian so lange nicht gesehen.
Weil ich es nicht richtig gemacht habe, bist du vier Wochen später im Krankenhaus gestorben, allein, selbst Oma durfte nicht zu dir. Es gibt keine Entschuldigung.
Im Fernsehen heißt es immer, zu einem Mord gehört auch Vorsatz.
Ich wollte das nicht. Wenn ich gewusst hätte, was passiert, ich hätte es besser gemacht. Mehr kann ich zu meiner Verteidigung nicht sagen.
Ich weiß, Dummheit schützt vor Strafe nicht. Papas Spruch, Standardeinleitung für Strafpredigten jeder Art. Habe ich also deinen Tod zumindest billigend in Kauf genommen?
Im Zweifel für den Angeklagten, wie oft hast du das lächelnd gesagt. Würdest du auch heute ein mildes Urteil fällen? Ich kann das nicht. Anne Richter muss sich selbst richten. Das Wortspiel hätte dir gefallen.
Ich bin Jahrgangsbeste, Opa. Ich werde bald Krankenpflegerin sein. Dann werde ich weggehen, am liebsten nach Afrika. Ich lerne schon Französisch. Schwester Paula war vor acht Jahren im Kongo, beim letzten Ebola-Ausbruch. Sie hat noch Kontakt zum Kamituga-Hospital.
Das Schicksal soll dort mein Urteil fällen. Mama sagt, dein Tod war Schicksal. Darum lege ich die Verantwortung in seine Hände. Egal wie das Urteil ausfällt, ich werde es dankbar annehmen. Mein Herz ist viel leichter, seit ich auf meine gerechte Strafe warten kann.
Weißt du noch, Opa, unsere Glasscherbe? Ich habe sie wieder geschliffen. Sie ist nur noch klein, dafür wieder sanft und rund, ein Handschmeichler.
Dein roter, lächelnder Mund, kaum habe ich ihn entdeckt, wirbelt die nächste Böe ihn schon hoch, trägt der Wind ihn mit all den anderen bunten Blättern davon.
Danke Opa, dein Ja bedeutet mir wirklich viel.
Miriams Blick wandert unruhig vom Smartphone zum Telefon und zurück. Ihr Daumen tut weh, blutet ein wenig, sie steckt ihn abwesend in den Mund. In Kamituga ist es jetzt schon nach Mitternacht. Fröstelnd zieht sie die Decke enger um sich. Anne wird sich auch heute nicht mehr melden.
„Alles gut bei dir? Denke an dich! Mama“, gibt sie mit zitternden Händen ins Handy ein und drückt auf Senden.
Zugestellt, nicht gelesen, genau wie all die Nachrichten der letzten Tage. Sie lässt das Display nicht aus den Augen, bis sie schließlich doch erschöpft einschläft.