Aus dem Leben gerissen
Klaus ist 13. Gerade erst geworden. 13 Jahre sind im Vergleich zu einem mitteleuropäischen Durchschnittsmenschen, dessen Lebenserwartung bei knapp 80 Jahren liegt, verhältnismäßig wenig. Klaus jedoch sieht das anders. Geboren wurde er in Graz, ist dort aufgewachsen und wächst, wie es für sein Alter normal ist, Jahr für Jahr einige Zentimeter, genauso wie es jeder andere Teenager auch tut. Seine Eltern, Anna und Leopold, beide berufstätig, gehen jeden Tag pflichtgemäß ihrer Arbeit nach. Klaus hatte eine schöne Kindheit. Er wurde wohlbehütet großgezogen. Er hatte viele Freunde, spielte oft bis zum Einbruch der Dunkelheit mit ihnen und gemeinsam durchlebten sie die unvorstellbarsten Phantasiereisen die man sich nur vorstellen kann – Piraten, Dinosaurier, Bestien, Ritter, Drachen, Geisterschlösser, Riesenspinnen, Zauberer, Elfen, Feen, Waldgeister, Hexen, Henker, Skelette, Dämonen…
Vor allem mütterlicherseits wurde ihm schon immer viel Nähe und Fürsorge zuteil. Mit seinem Vater hatte er nie wirklich viel Kontakt, da dieser ein sehr schweigsamer, introvertierter Mann war, der lieber seiner Arbeit nachging als mit seinem Sohn zu spielen.
Die Jahre zogen vorüber und plötzlich war Klaus 12. Mama und Papa haben schon seit längerer Zeit Streit. Jede noch so kleine Kleinigkeit wird in die Waagschale gelegt und dem Gegenüber vorgeworfen. Normale Gespräche zwischen den beiden gibt es nicht mehr. Klaus fühlt sich nicht wohl. Er versucht mehrmals zu schlichten, doch jeder Versuch endet darin, dass sich der Zorn der beiden auf ihn entlädt, also gibt er es auf. Klaus fühlt sich schuldig, verantwortlich. Er zieht sich zunehmend zurück, seine Probleme behält er für sich. Den Kontakt zu seinen Freunden bricht er ab, die Fröhlichkeit, die einst einen Großteil von ihm einnahm schwindet dahin und verwandelt sich in tiefste Bitterkeit. Klaus vereinsamt, Klaus weint. Doch die Eltern merken von all dem nichts, sind nur noch mit sich selbst beschäftigt. Was aus Klaus wird, wie es ihm geht, interessiert sie längst nicht mehr, er leidet, er schluckt Tabletten, doch nichts hilft.
Klaus wacht auf, Leopold sitzt neben seinem Bett und weint. Klaus hat seinen Vater noch nie weinen gesehen. Mama ist fort, sie hat uns verlassen, schluchzte er. Ein kurzer Stich in Klaus Herz, ihm wird übel, doch er weint nicht. Weinen kann er schon lange nicht mehr. Sowieso fällt es ihm seit geraumer Zeit schwer, etwas zu empfinden. Hass, Zorn, Wut, Freude, alles nur noch Begriffe, denn fühlen kann er sie nicht mehr.
Leopold zieht sich noch mehr in sich zurück, redet kaum noch ein Wort mit seinem Sohn, vertieft sich in seine Arbeit, ist unglücklich, freudlos, hat sich selbst aufgegeben. Klaus vermisst seine Mutter, Wut steigt in ihm auf. Er ist verzweifelt, schreit seinen Vater an, schlägt auf ihn ein, doch dieser reagiert nicht, tut nichts, sagt nichts, steht bloß regungslos da. Klaus wird noch wütender.
In der Schule meiden sie seit kurzem den Kontakt mit Klaus. Klaus ist ein anderer Mensch geworden, aggressiv, launisch, unberechenbar. Erst vorige Woche hat er einen 7 jährigen Jungen krankenhausreif geschlagen. Warum? Er war schwach, ängstlich, verletzlich, wehrte sich nicht– das perfekte Opfer. Die Vorfälle häufen sich, das Jugendamt schaltet sich ein, der Vater abermals wie erstarrt, macht nichts, rührt sich nicht, hat keine Macht über Klaus. Klaus will doch nur beachtet werden, geliebt, so wie früher. Wo ist seine Mutter, warum ist sein Vater so ein Versager, warum ist das Leben so beschissen? Klaus prügelt weiter. Das Jugendamt kreuzt abermals auf. Klaus wird in ein Heim gebracht. Sein Leben wird noch komplizierter. Schlägereien, Drogen, Selbstaufgabe. Klaus war 15 als er zum ersten Mal vergewaltigt wurde. Gefickt haben ihn seine Zimmerbewohner, alle schön der Reihe nach, alle schön in Reih und Glied. Anfangs war es noch schrecklich und schwer zu ertragen, doch nach ein paar Wochen kehrte schließlich Routine ein.
Klaus bricht aus. Er ist 16, wohin er soll, keine Ahnung. So wird es die Straße. Alkohol, Diebstahl, Medikamente, Drogen, Streitereien, Kälte, Hass seine ständigen Begleiter. Klaus braucht Geld. Von nun an steht er täglich abends auf der Straße, lässt sich von Unbekannten für ein paar Peanuts in den Arsch ficken, spritzt Heroin, lässt sich wieder ficken, spritzt Heroin…
Kurz vor seinem 18. Geburtstag wird Klaus von der Polizei aufgegriffen, seine Haare zersaust und fettig, sein Gesicht schmal, vom Leben gezeichnet und kreidebleich, seine Zähne, verfault, seine Kleidung bloß ein paar Lumpen. Er wird in eine Zelle gebracht. Später kommt ein Arzt, entnimmt ihm Blut. Ein paar Tage vergehen, Diagnose Aids. Klaus ist ein wenig traurig.
Leopold wird verständigt, holt Klaus ab. Erkennt ihn nicht wieder. Leopold schämt sich, er muss weinen. Klaus weint nicht, er verspürt nur Hass auf seinen Vater. Er sagt kein Wort, steigt schweigend in den Wagen und fährt mit seinem Vater zurück in seine alte Heimat.
Nichts hat sich seither verändert. Das Haus unverändert im selben Zustand, das Zimmer von Klaus unberührt, von Mutter fehlt noch immer jede Spur, der Vater, schweigsam und feige wie immer.
Leopold wacht mitten in der Nacht auf. Klaus steht über ihn gebeugt. Es ist dunkel. Leopold sieht etwas in der Dunkelheit aufflackern. Ein Stich, ein leichtes Stöhnen, plötzlich wird es warm, ein süßer Schmerz. Der nächste Stich, die Bettdecke verfärbt sich rot, Blut tropft auf den Boden. Klaus sticht erneut zu. Keine Regung in seiner Mimik, kein Zucken, kein Anflug der Reue in seinem Gesicht. Klaus starrt nur, er starrt wie damals sein Vater, als Mutter sie verlassen hat. Der Vater Tod.
Klaus steht auf und geht ins Bad. Er duscht, wäscht sich das Blut von seinem Körper, bestellt sich eine Pizza und setzt sich vor den Fernseher. Ein paar Stunden vergehen, Klaus steht vom Sofa auf, zieht sich seine Jacke an, verlässt das Haus, geht in Richtung Bahnhof, legt sich auf die Gleise, sieht die Lichter des Zugs, schließt seine Augen, hört das Rattern der Waggons, ist jetzt glücklich und beginnt endlich wieder zu leben.