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Aus dem Leben gegriffen
Der Regen peitschte auf die Straße. Es war als würde Petrus alle Schleusen öffnen. Der kleine Bach vor dem Haus begann schon gefährlich hochzukommen. Im Haus stand Melina gedankenverloren hinter dem Fenster des Wohnzimmers und sah dem immer stärker werdenden Regen zu. Ihre Augen waren vom vielen Weinen stark gerötet. Sie fröstelte. Ihr Kopf fühlte sich an, als hämmerte jemand wie irre darin herum. Warum musste dies so kommen? Ihre Gedanken schweiften in die Vergangenheit:
Sie war damals fünfundzwanzig Jahre alt, arbeitete ganztags in ihrem eigenen Friseursalon. Es war ein wunderschöner Sommertag im Juli, als sie morgens ihren Salon, der sich an bester Lage befand aufschloss. Die meiste Zeit arbeitete sie alleine. Nur freitags und samstags hatte sie zur Verstärkung eine Aushilfe angestellt, da die Herren unangemeldet Termine bekamen. Weil sie Ihre Arbeit von ganzem Herzen und mit viel Leidenschaft ausführte, war eine Sechs–Tage–Woche kein Thema. Heute war Mittwoch.
Seit dem Öffnen am Morgen waren etwas mehr als zwei Stunden vergangen. Bei der jetzigen Kundin war sie gerade dabei, die gewünschten Farbsträhnen in die Haare zu verteilen, als die Türglocke ging.
Da sie damit fast fertig war, rief sie freundlich: »Einen kleinen Moment bitte. Ich bin gleich bei ihnen.«
Kurz darauf schritt sie nach vorne. Dort stand ein Mann, den Rücken ihr zugewandt. Sie räusperte sich: »Nun bin ich für Sie da. Was wünschen sie?«
In diesem Moment drehte sich der Angesprochene zu ihr um. Es war, als würde der Blitz einschlagen. Kurz stockte ihr der Atem. Da stand er; ihr Traummann. Auch ihm ging es mit ihr ähnlich, da sie sich wie betäubt gegenüber standen. Als sie in die Wirklichkeit zurückfanden, fragte er mit einem verlegenen Lächeln: »Verzeihen sie die Störung. Wäre noch ein Termin zum Haare schneiden frei?«
Melina blätterte fahrig in ihrer Agenda, antwortete dann so ruhig wie möglich: »Eigentlich ist dies nur freitags und samstags möglich«, sah auf ihre Armbanduhr: »aber in einer dreiviertel Stunde bin ich mit meiner jetzigen Kundin fertig und hätte dann Zeit für sie?«
»Vielen Dank. Den Termin nehme ich gerne. Mein Name ist Ricky, Ricky Hauser. Dann werde ich in einer dreiviertel Stunde wieder hier sein.«
Sie nickte. Die Tür schwang auf und weg war er. Langsam löste sich ihre Anspannung.
Zwischenzeitlich versuchte sie sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Doch leider mit sehr wenig Erfolg. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Zu ihrem Glück war es eine neue Kundin, die keine Fragen stellte. Als diese dann zufrieden und mit einem neuen Termin den Laden verließ, war Melina einer Ohnmacht nahe. Nervös sah sie in den Spiegel und strich dabei ihre Lippen nach. Als dann die Türklingel ertönte, war sie ganz kribbelig.
Da stand er wieder. Lachend grüßte er:» Da bin ich.«
Sie ließ ihren Blick sinken, besann sich ihrer Arbeit und meinte: »Sehr gut. Darf ich sie nun bitten hier Platz zu nehmen?« Dabei zeigte sie auf einen der Stühle. Er folgte ihr und setzte sich auf den ihm angebotenen Stuhl. Sie atmete tief ein und aus nahm dann wie immer routinemäßig einen neuen Umhang vom Haken, legte diesen über ihn und fragte so beiläufig wie nur möglich: »Nun Herr Hauser, was wünschen sie?«
»Ich wäre ihnen dankbar, wenn sie einfach überall etwas kürzen. Aber bitte nur so viel, dass ich mir noch einen Knoten binden kann.«
»Das ist kein Problem. Soll ich ihnen die Haare vorher noch waschen oder nur etwas anfeuchten?«
»Ich habe heute beim Duschen die Haare gleich mit gewaschen, also denke ich, dass nur etwas nass machen ausreicht.« Sie nickte, nahm die Sprühflasche und begann mit ihrer Arbeit. Währenddessen sprach niemand. Nur die Hintergrundmusik und das Klicken der Schere waren zu hören.
Als sie ihre Arbeit beendet hatte, war es kurz vor zwölf. Sie hatte es geschafft. Als Ricky aufstand, sah er bewundernd in den Spiegel und dann wieder zu ihr. »Das haben sie wirklich toll hingekriegt liebe Frau…?« Dabei stockte er: »Wie ist ihr Name?«
»Melina Beier!«
»Also liebe Frau Beier, das ist sensationell was sie in so kurzer Zeit mit meinen wilden Haaren gezaubert haben. Sie verstehen ihr Handwerk.«
Bei diesem Kompliment wurde sie nun doch ganz verlegen: »Dies ist ja auch mein Beruf und dazu meine große Leidenschaft.«
Beim Bezahlen machte es den Anschein, dass er gehen würde. Doch dann drehte er sich um und fragte verlegen: »Haben sie jetzt Mittagspause?« Sie nickte.
»Hätten sie denn Lust mit mir in der gegenüberliegenden Pizzeria Mittagessen zu gehen? Ich würde sie sehr gerne einladen.«
Ohne darüber nachzudenken antwortete sie glücklich: »Ja sehr gerne.«
Von diesem Tage an waren sie unzertrennlich. Sie wurden ein Liebespaar. Trotzdem sie beide unterschiedlicher nicht sein konnten. Er der Surfer und selbsternannte Künstler, dadurch meistens pleite. Sie die taffe Geschäftsfrau die alles genau kalkulierte und nichts dem Zufall überlies, heirateten nur ein Jahr nach ihrem ersten Kennenlernen, romantisch ganz in Weiß. Zwei Jahre später bekamen sie eine Tochter und drei Jahre darauf einen Sohn.
Sie waren glücklich. Doch leider trübte das Glück der Beiden, der Unabhängigkeits- und Freiheitsdrang von Ricky und seinem dadurch ständig leeren Bankkonto. Doch hatte sie durch ihre Selbstständigkeit keine Zeit sich große Gedanken darüber zu machen. Er vergötterte sie und die beiden Kinder und las ihnen jeden Wunsch von den Augen ab. Auch war er ein wunderbarer Vater, liebender Ehemann und guter Hausmann noch dazu. Deshalb vergab ihm Melina seinen immer widerkehrenden Freiheitsdrang, bei dem er ganz plötzlich für einige Tage zum Surfen an einen See fuhr. So vergingen die Jahre wie im Flug. Als die Kinder aus dem Haus waren, hatte Melina wie auch Ricky das Gefühl nochmals etwas Neues beginnen zu wollen.
Ohne viel zu überlegen; was eigentlich nicht ihrem Naturell entsprach, gab sie ihr Geschäft an ihre Tochter weiter, die die gleiche Leidenschaft für den Beruf der Friseurin besaß wie sie und flog mit Ricky ans Meer. Dort übernahmen sie ein Wassersportgeschäft, da ihr Mann schon seit ihrem Kennenlernen davon träumte. Ricky gab Kurse für die verschiedenen Wassersportarten. Sie war fürs Verkaufen und die Buchhaltung zuständig.
Da es ja nicht ihr Traum war wurde sie immer unglücklicher und unzufriedener. Fast täglich gerieten sie wegen Kleinigkeiten in Streit. Ein Wort gab das andere. Er hielt ihr vor, dass er zweiundzwanzig Jahre nach ihren Vorstellungen leben musste. Sie hingegen war der Meinung er hätte ja nur davon profitiert.
Als dann bei einem wirklich ganz schlimmen Streit, bei dem er ihr vorwarf dass sie geldgierig sei und er hätte machen können was er wolle; für sie sei er nie gut genug gewesen, die Situation fast eskalierte, entstand Eiszeit zwischen ihnen. Dieser Vorwurf brannte sich richtig in ihre Seele ein. Ihr wurde auf einen Schlag klar, dass was sie bis zum heutigen Tag nicht hatte wahr haben wollen; ihre Träume und Wünsche für die Zukunft nicht zusammen passten.
Deshalb entschied sie nach zwei Jahren, alleine wieder zurückzukehren. Er blieb.
Bei der Liebe die sie füreinander empfanden, mussten über drei Jahre vergehen, damit sie begriffen, dass bei den vielen Streitereien zu viel zerbrochen war. Bei ihren gegenseitigen Besuchen wurde immer deutlicher, wie konträr sie waren. Zweiundzwanzig Jahre hatten sie zusammengelebt, drei Jahre eine Distanzbeziehung geführt und vor zwei Wochen kamen die Scheidungspapiere. Er bat sie bei seinem letzten Besuch vor einem halben Jahr darum. Er hatte eine andere Frau kennengelernt. Es hatte ihr damals fast das Herz herausgerissen. Doch jetzt, wo sie bei diesem strömenden Regen am Fenster stand und die gemeinsame Vergangenheit überdachte, wusste sie, dass es das Richtige war einander frei zu lassen um wieder neu anfangen zu können.
Während sie die Tränen wegwischte, kamen ihr auf einmal die Worte ihres erst kürzlich verstorbenen Vaters in den Sinn; wenn man fünfundzwanzig Jahre mit demselben Menschen zusammen sein darf, dann sei das ein großes Geschenk. Und wenn es nicht mehr zusammenpasste, müsse man loslassen können.
Es hatte zu regnen aufgehört.