Aus dem harten Leben einer Leberzelle
Die Arbeit nimmt heute einfach kein Ende. Ingo trinkt schon sein sechstes Bier. Wäre ich doch bloß eine Stammzelle geblieben. Die Ausdifferenzierung bringt nichts als Ärger. Vielleicht sollte ich mich noch ein letztes Mal verdoppeln und dann in die wohlverdiente Apoptose gehen?
Nein, ich darf jetzt nicht nur an mich denken, Ingo braucht mich. Ich fahre also meine Lipopolysaccharide als Übertragungsleitung aus und pikse einem jungen Klon von mir in die Membran. Dann funke ich ihn wie gewöhnlich auf elektrischer Schwingungsebene an.
„Hey, Klon Nr. 7! Wie steht‘s um deine Alkoholdehydrogenasen?“
Seine Antwort ertönt prompt: „Weitgehend ausgelastet. Ich hoffe, der Ingo übertreibt nicht wieder so, bin doch tatsächlich schon wieder in den Überstunden.“
Klon Nr. 7 hat anscheinend mein gespaltenes Verhältnis zur Arbeit geerbt. Eigentlich logisch, da wir exakt dasselbe Genom besitzen. Und seine Beschwerdemonologe klingen ganz genauso wie meine.
„Diese einseitige Fließbandtätigkeit ist doch zum Aus-der-Membran-Fahren. Ich komme zu nichts anderem mehr, als den Sprit zu zerlegen, den unser Ingo ungehemmt tankt! Eigentlich wollte ich heute ein paar nette Fettsäuren und Proteine synthetisieren, vielleicht sogar an der ein oder anderen Gallensäure tüfteln. Aber da ist wohl nichts zu machen. “
Ich seufze tief, denn ich weiß genau, was mein hochgeschätzter Klon und Kollege meint. Eigentlich dürften wir uns das nicht bieten lassen.
„Vielleicht sollten wir uns mit den anderen zusammentun und uns an das ZNS wenden!“
Klon Nr. 7 ist sofort Feuer und Flamme: „Jepp, Top-Idee! Das zentrale Nervensystem wird schon wissen, was zu tun ist.“
Eifrig fahren wir beide sofort sämtliche Lipopolysaccharide, die wir aufbringen können, in alle Richtungen aus. Ich funke umgehend eine gut durchdachte Nachricht auf dem schnellsten Weg zur zuständigen Einheit:
„Nachricht an ZNS: Leber überlastet, orale Aufnahme von Spirituosen umgehend stoppen!“
Die Botschaft verbreitet sich mit rasanter Geschwindigkeit, sobald sie die ersten Nervenzellen erreicht hat. Eins muss man den glitschigen Kollegen lassen: Sie sind flinke Impulsweiterleiter. In freudvoller Erwartung empfangen Klon Nr. 7 und ich die vielversprechende Antwort der Hirnneuronen.
Doch die Freude währt nicht lange, als wir rasch den Sinn - oder besser Unsinn - der Nachricht entschlüsseln:
„Hey Jungs, bleibt doch mal geschmeidig. Macht euch locker! Uns geht’s Gold hier oben! Die Endorphine flashen total. Chillt doch einfach mal ein bisschen. Den Müll rausbringen könnt ihr auch morgen noch. Entschuldigt uns, haben gerade einstimmig entschieden, Ingo auf dem Tisch tanzen zu lassen und sich anschließend auszuziehen, natürlich bevor er selbst es weiß, hehehe.“
Ich bin schockiert von der Dienstauffassung dieser halbstarken Signalzecken. Dass die sich von ein paar Pseudobotenstoffen so schnell benebeln lassen, gibt mir zu denken. Tja, dann muss meine bescheidene Vernunft wohl für uns alle reichen. Ich werde die Giftstoffe für Ingo abbauen, und wenn es die ganze Nacht dauert.
Und einen genugtuenden Lichtblick gibt es: Morgen werden wir den Neuronen als Erstes ein paar unserer lästigen Stoffwechselabbauprodukte per Blutpost nach oben schicken.
Klon Nr. 7 meint im typischen Einvernehmen mit mir:
„Du brauchst die Jungs da oben wirklich nicht zu beneiden. Der Sturz von Wolke Sieben direkt in die Kloschüssel ist doch auch nicht gerade erstrebenswert.“