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Augenzeugin
Augenzeugin
Sonja war müde. Ein Zwölf-Stunden-Arbeitstag lag hinter ihr und sie hatte nur noch einen Wunsch. Nein, eigentlich waren es zwei: eine Zigarette und ab ins Bett. Da in einer verqualmten 1-Raum-Wohnung zu schlafen nicht so prickelnd war, öffnete sie das große Fenster, bevor sie sich die Zigarette ansteckte.
Vielleicht sollte ich mir endlich mal das Rauchen abgewöhnen, dachte sie gerade als sie registrierte, daß mal wieder irgend so ein Idiot im gegenüberliegenden Bürogebäude das Licht angelassen hatte.
Super, das ist genau so toll, wie eine Straßenlaterne vorm Schlafzimmerfenster.
Das Hochhaus war etwas mehr als 30 m von ihrer Wohnung entfernt und es geschah oft, daß jemand dort das Licht anließ.
Aber heute war etwas anders.
Hey, da bekomme ich ja mal richtig was geboten.
Sonja mußte grinsen. Großstadt eben - wo sonst konnte man so etwas erleben.
Noch war sie sich nicht ganz sicher, aber wenn sie ihren Augen trauen konnte, wovon sie der Einfachheit halber mal ausging, war dort drüben im Büro gerade ein nackter Mann herum gelaufen. Oder hatte sie sich doch getäuscht? Egal! Interessant war schon alleine die Tatsache, daß überhaupt jemand um diese Uhrzeit in einem Amtsgebäude war. Was war da noch gleich alles? Jugendamt? Sozialamt? Irgend so etwas mußte es wohl sein. Ja, genau, als sie die Wohnung bezogen hatte, hatte sie darüber noch Witze gemacht. Von wegen Sozialamt in der Nähe - gleich die richtige Gegend, falls alles schief läuft.
Ah, da war er wieder. Ja! Eindeutig ein Mann und eindeutig nackt. Herrlich!
Die Müdigkeit war verflogen und Sonja beschloß, zum Privatkino ein Glas Wein zu genießen. Oder? Zu dieser Gelegenheit paßte wohl besser ein Bier.
Von der Küche aus war die Sicht genauso perfekt wie vom Wohnzimmer.
Hm, ein nackter Mann allein in einem Bürogebäude, der auch noch so dumm war, sämtliche Lichter an zu lassen. Komisch! Naja, vielleicht wollte er gesehen werden, dachte sich Sonja. Da tu ich ihm doch einen Gefallen.
Lustig! Ob ihr das jemand glauben würde, wenn sie das morgen im Büro erzählte?
Sicher, von den Männern würde gleich die Frage nach den Beweisfotos kommen.
Warum hatte sie eigentlich nicht einmal ein Fernglas?
Schon seltsam, wie schnell man zum Spanner werden konnte.
"Ob hier mal bald noch was passiert?!", fragte Sonja halblaut, als der Mann nach über fünf Minuten nicht wieder aufgetaucht war.
Sie setzte sich auf ihre Couch und machte den Fernseher an. Vorsorglich ließ sie die Gardine beiseite geschoben. Man wußte ja nie.
Immer wieder warf sie Blicke auf die erleuchteten Fenster.
Na endlich! Da war er wieder. Und hallo - nicht alleine! Eine Frau. Jetzt wurde es langsam wirklich spannend. Eng umschlungen standen sie beide da.
Ein Porno - ganz für umsonst. Umsonst nicht, aber kostenlos. Immerhin.
Etwas seltsam wirkten die Verrenkungen der beiden schon. Dann trug der Mann die Frau in den Raum nebenan. Leider konnte Sonja jetzt nicht mehr so gut sehen, alles nur noch schemenhaft. Die Scheiben waren trübe, wie mit Folie abgeklebt. Warum war ihr das früher nie eingefallen? Wenigstens sah sie überhaupt noch was. Es tat sich was da drüben.
Scheiße! Schon klar, in den spannendsten Momenten mußte man aufs Klo.
Als Sonja zurück kam, konnte sie die Frau nicht mehr sehen, nicht einmal mehr schemenhaft. Der Mann war wieder in den anderen Raum zurück gegangen. Er stand da, beugte sich runter und... Ja was tat er da eigentlich?
"Na, das kann aber jetzt nicht wahr sein... Das ist doch... Nee, das geht gar nicht... Der setzt sich doch tatsächlich eine Gasmaske auf. Was werden denn das jetzt für Spielchen? Das wird ja immer besser. Das glaub ich mir morgen ja selber nicht mehr."
Doch es bestand kein Zweifel - der Mann trug jetzt, nackt wie er war, eine Gasmaske.
Dann war er wieder verschwunden.
Eine ganze Weile tat sich nichts mehr.
Sonja wollte nur noch eine letzte, diesmal aber wirklich, Zigarette rauchen, um gleich danach ins Bett zu gehen.
Wie magisch wurde ihr Blick vom hell erleuchteten Fenster angezogen.
Würde jeder andere wie sie reagieren oder war sie einfach nicht ganz normal?
Gerade als sie die Gardine zuzog, sah sie den Mann. Sie war sich nicht sicher, ob es wirklich der selbe Mann war. Wie sollte sie auch. Die Person trug nicht nur eine Gasmaske, sondern auch einen dunklen Schutzanzug. Konnte Gummi sein oder etwas ähnliches. Wer trug denn so etwas? Vielleicht Kammerjäger, wenn sie ein Haus ausräucherten? Wäre ebenfalls eine Erklärung für die Gasmaske.
Die zweite Gestalt, die sich dazu gesellte, war dann vermutlich die Frau von vorhin.
Was die beiden taten, konnte Sonja nicht deuten. Mal sah es aus, als würden sie einen Besen in der Hand halten, dann stiegen sie auf eine Leiter. Alles sehr undurchsichtig und langweilig.
Gegen ihre Kammerjägertheorie sprach allerdings, daß der eine etwas mit der Wand machte. Sprühten Kammerjäger die Wände an? Und wenn es keine Kammerjäger waren, sondern renoviert wurde, warum geschah das dann in der Nacht?
Es war müßig, darüber nachzudenken.
Wenn sie eh nichts Besseres, nichts Schlüpfriges, mehr geboten bekam, konnte sie genau so gut ins Bett gehen. War sowieso besser, sonst würde sie morgen nicht rechtzeitig rauskommen.
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Berliner Morgenpost, 25.Oktober 2002:
In den Räumen des Sozialamtes in Steglitz wurde heute früh von der Reinigungsfachfrau Bärbel S. die Leiche einer jungen Frau gefunden. Die Frau sei vermutlich gestern Nacht zwischen 22:00 und 3:00 Uhr ermordet worden, so Polizeihauptkommissar Wackenbrecht. Man gehe von mindestens zwei Tätern aus. Erschreckend sei das brutale Vorgehen der Täter. Dem Opfer wurden die inneren Organe förmlich herausgerissen und im Raum verteilt. Die Täter hätten den Raum vom Blut gereinigt, so daß davon auszugehen sei, daß sie über lange Zeit ungestört waren. Zudem wurden die Fenster mit Folie abgeklebt, wie anhand von einigen Resten von Klebeband und Folie zu erkennen ist.
An der Wand stand, vermutlich mit dem Blut des Opfers geschrieben, "JACK IS BACK". Wackenbrecht vermutet, daß die Täter sich auf die grausamen Taten des Jack the Ripper beziehen. Ungewöhnlich sei ebenfalls, daß der Schriftzug vermutlich mittels einer Spritzpsitole an die Wand gesprayt wurde.
Bisher ist unklar, wer die junge Frau ist und auch zu den Tätern und deren Motiv gibt es keinerlei Hinweise.