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Serie AugenBlicke - Wahrheiten

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03.09.2004
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AugenBlicke - Wahrheiten

- Wahrheiten -

Tu stets das, was du zu tun fürchtest.

- Ralph Waldo Emerson –​

Inzwischen ist es beinahe März, doch der Winter verteidigt mit Schnee und Eis beharrlich sein Revier.

Seit fast elf Monaten gibt es nun meine Rolle auf dem Spielplan des Theaters, das sich mein Leben nennt. Jeden Tag mit dem gleichen Publikum, auf der gleichen Bühne. Doch ich bin es leid und ich hasse diese Rolle, denn ich weiß, dass sie nicht mehr überzeugen kann. Am allerwenigsten mich selbst.

Doch die Maske abzulegen, die Rolle endgültig für tot zu erklären, dazu verlangt es Mut. Den Mut, der letzten Illusion beraubt zu werden, den Mut Worte zu hören, die ich niemals hören will und den Mut zu Verlieren. Aber habe ich noch etwas zu verlieren? Je mehr Gefühle sich für dich in mein Leben schlichen, desto weiter lenktest du dich hinaus. - Ein leiser, aber konsequenter Rückzug. Du nahmst mir sogar deine scheinbare Nähe und somit habe mir nichts mehr, das du mir noch nehmen könntest. Mir wird klar, dass du so ahnungslos nicht sein kannst.

Ich muss mich befreien. Es geht nicht mehr. Heute noch.

Angespannt stochere ich mit dem Strohhalm in meinem Cocktail. Ich zünde mir eine Zigarette an und blase formlose Rauchschwaden in die dämmrige Atmosphäre der Cocktailbar. Auf dem Tisch vor mir liegt mein Handy, von dessen Display mich deine Augen anstrahlen. Ich stelle den Cocktail beiseite und nehme mein Handy in die Hand. Entschlossen beginne ich eine Sms zu tippen.
Ich bitte dich darum, dir etwas Zeit für mich zu nehmen, weil ich mit dir reden muss. Ich schreibe dir, dass es mir nicht leicht fällt. Und vielleicht steht auch noch etwas zwischen meinen Zeilen.

Soviel zur Theorie. Bis hier her noch keine wirkliche Hürde. Ich lege das Handy zurück auf den Tisch und nach einigen Sekunden blenden sich wieder deine Augen ein.
Wie schön sie sind.

Ich versuche mir auszumalen, was passiert, wenn ich dir die Sms schicke. Was wirst du denken? Wirst du antworten? Was wirst du antworten?
Ich fühle mich, wie sich einer dieser mexikanischen Klippenspringer fühlen muss, wenn er am Abgrund steht. Ein Blick zuviel, ein Gedanke zuviel, ein Zögern zuviel und er wird es nicht schaffen. Noch ein Mal lese ich den Text durch, dann wage ich den Sprung.

„Nachricht erfolgreich gesendet.“

Nun gibt es kein Zurück mehr. Ich befinde mich im freien Fall Richtung Wahrheit. Ich weiß, mein Aufprall wird hart und schmerzhaft sein.

Einen weiteren Cocktail, zahllose nervöse Blicke auf die Uhr und vier Zigaretten später lässt mich der wohlbekannte Ton meines Handys zusammenzucken und noch bevor ich nachgesehen habe, weiß ich, dass der kleine blaue Umschlag auf dem Display deine Antwort ankündigt. Mit zittrigen Fingern nähere ich mich deinen Worten, die zusagend, aber der Situation entsprechend nüchtern sind. Spätestens jetzt ist mir klar, dass wir beide den Inhalt des Gespräches im Voraus kennen.

Nach einer beinahe schlaflosen Nacht, in der meine Gedanken wie ruhelose Nomaden durch die Wüste meines Bewusstseins zogen, sehe ich dem neuen Tag und unserer nächsten Begegnung mit gemischten Gefühlen entgegen.
Wie jeden Morgen sitze ich auf meinem Platz und als du den Raum betrittst, überflutet mich eine lautlose Woge der Panik. Meinen Stimmbändern ist kaum ein leises „Guten Morgen“ abzuringen und mich überkommt der brennende Wunsch, unsichtbar zu sein. Kein Wort von dir – kein Wort von mir. Es ist, als hätte es meine Sms, meinen Sprung über die Klippen, nicht gegeben. Dieses Wissen über dein Wissen schafft eine seltsame Verbindung zwischen uns und allein die lässt meinen Sprung für einen Moment lohnend erscheinen. Weniger als sonst bin ich heute in der Lage dich anzusehen oder gar deinen Anblick zu genießen. Die Vorstellung, dir gegenüber zu sitzen, dir in die Augen zu sehen und dir Dinge zu sagen, die zu wahr sind um gut für mich zu sein, jagt jegliche Farbe aus meinem Gesicht.

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie du aufstehst und auf mich zukommst. Vor meinem Tisch bleibst du stehen und mir bleibt gar nichts anderes übrig, als dich anzusehen.
„Wollen wir denn mal reden?“
Jetzt ist es soweit. Nach dem freien Fall steht mir nun der Aufprall bevor und es gibt kein Netz mehr, dass mich jetzt noch auffangen könnte. Mein Magen dreht sich, mein Kopf dreht sich, mein Herz dreht sich. Viel mehr als Nicken kann ich nicht und stehe auf. Wir suchen uns einen ruhigen Ort und ich bin froh, mich wieder setzen zu können. Ich verschränke meine Hände ineinander, damit du mein Zittern nicht siehst.

Ziemlich ärmlich kauere ich in dem blauen Sessel und wage kaum, dich anzusehen. Zum ersten Mal seit Monaten achte ich in deiner Nähe nicht darauf, ob ich ein gutes Bild abgebe, denn Äußerlichkeiten haben jetzt hier keinen Platz. Ich begreife, dass es dieses Mal kein Selbstgespräch, kein Streich meiner Phantasie sein wird und für einen Augenblick fühle ich mich unfähig, überhaupt irgendetwas zu sagen, aber ich bin es dir und mir schuldig, jetzt die Worte zu finden, die ich dir in den unzähligen Vorstellungen meines Kopftheaters bereits gesagt habe. Zögerlich suche ich nach den Worten, die in der Lage sind, dir zu beschreiben wie es mir mit dir – oder vielmehr ohne dich – geht. Ich fasse die elf Monate in wenige Minuten und doch habe ich den Eindruck, dass du verstehst. Du sagst mir, dass du mich verstehst, du sagst mir, dass mir das alles nicht unangenehm sein muss – und ich glaube dir. Ich will dir glauben.
Mit jedem Wort – jedem Satz – stirbt meine Rolle ein wenig und ich bin erleichtert, sie nicht mehr spielen zu müssen. Und doch fühle ich mich bei deinen Worten, die mir nur sagen, was ich längst weiß, wie die tragische Figur, die im finalen Akt des Dramas den Dolch zu spüren bekommt.

Du bist zu einem Kapitel im Drehbuch meines Lebens geworden und auch jetzt, nachdem du deine Bedeutung in diesem Kapitel kennst, bin ich nicht in der Lage, den Schlusssatz zu schreiben. Der kleine Hoffnungsfunke in mir ist stärker und rebellischer als ich glaubte und selbst der kalte Regen, der sich mit deinen Worten über ihn ergoss, ließ ihn nicht sterben.

Warum kann ich nicht einfach akzeptieren? Warum kann ich nicht einfach wieder zu mir finden? Warum kann mein Verstand mein Herz nicht einfach knebeln und mir diesen lächerlich entschlossenen Kampf um dich und deine Gefühle untersagen?

Wahrscheinlich, weil Gefühle nicht einfach sind.

 

Nun habe ich auch dieses Kapitel gelesen. Und ich habe mir einige Gedanken dazu gemacht.
Dein letzter Satz "Wahrscheinlich, weil Gefühle nicht einfach sind" ist wohl eine gelungene Abrundung deines Textes. In der Tat sind Gefühle eine komplizierte Angelegenheit. Man kann sich einer Sache wohl nie richtig sicher sein. Immer wieder plagen einen Zweifel, Ängste, die wir nicht bestimmen und kontrollieren können. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, so zu sein.
Ich behaupte einfach mal, dass der zweite Teil der stärkste Text ist. Du schilderst hier wieder ausdrucksvoll das Leiden deiner Protagonistin. Schade nur, dass man nicht erfährt, was zwischen den beiden danach geschieht. Oder vielleicht drückt der Schluss ja einfach nur aus, dass eben nichts geschieht. Das macht wohl das Leben aus.

Ich würde aber keine weitere Fortsetzung mehr schreiben - ich habe das Gefühl, es wäre eine zu qualvolle Weise, den Leser an einen Text zu fesseln, der an die Hoffnung klammert und an eine leidende Protagonistin.

 

so viel gefühl in deinen beiden geschichten. in der ersten bin ich ein bisschen über ihren ehering gestolpert. noch klassenkammeraden und schon verheiratet? das klingt spannend, was hat sie denn nur bewogen SO früh zu heiraten und dann doch so wenig zu lieben?

ich mag es, wie du ihre gefühle beschreibst. und "Wollen wir denn mal reden" ... das macht mich neidisch. so kurz, aber der satz hat leben. gefällt mir sehr.

alles in allem fehlt mir aber ein bisschen handlung. gefühl ist gut, aber nur gefühl und keine bewegung ... das quält den gespannten leser.

gibt es denn einen dritten teil? ich fühl mich ein bisschen verwirrt. es gibt die rohfassung von teil 1, die überarbeitet version von teil 1 und diesen zweiten teil hier. hab ich was übersehen?

lg,
caroline

 

Hallo Caroline!

Es gibt insgesamt 3 Teile. Die überarbeitete 1. Version, dann Augenblicke- Augenblicke und dann eben diesen Teil hier.

Die Prot ist nicht verheiratet, sondern "nur" in einer langjährigen Beziehung. Betrachte den Ring als Freundschaftsring oder von mir aus Verlobungsring.

Du hast Recht, wenn du (wie auch schon einige andere) anmerkst, dass etwas wenig Handlung vorhanden ist. Es sind in dem Falle eben viele Momentaufnahmen, die der Prot das Leben schwer machen und mindestens genauso auf Trab halten können...

Freut mich jedenfalls, dass dir meine Geschichtchen gefallen. :)

LG Blue

 

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