Augenblick
Sie lief die Straße entlang, Richtung Fluß. Tränen rannen ihr übers Gesicht, als sie die Straßen überquerte, kopflos. Autos hupten, Fußgänger riefen ihr Warnrufe zu, Fahrradfahrer schimpften. Sie bekam all das nicht mit. Sie konnte nicht sehen, die Tränen ließen ihr Blickfeld verschwimmen Sie konnte nichts hören, harte, kalte Worte hallten ihr in den Ohren. Sie konnte nichts mehr fühlen. Sie rannte und rannte, längst aus der Puste, ihr Herz klopfte wild. Sie kam an einem Spielplatz vorbei, Kinder spielten und hielten inne, als sie das weinende Mädchen vorbei laufen sahen. Sie schauten erschrocken, ein kleiner Junge fing an zu weinen. Sie rannte durch den Vorgarten eines Einfamilienhauses, wo Vater und Sohn Unkraut jäteten. Sie hielten inne, als sie das verzweifelte Mädchen sahen. Ihr lebhaftes Gespräch verstummte. Sie lief durch ein volles Kaufhaus. Die Menschen schauten sie empört an, als sie die Kleiderständer umriss. Sie reagierte nicht auf Zurufe.
Dann kam sie an den Fluss. Sie lief langsamer, ließ ihrem Atem Zeit sich zu beruhigen. Sie dachte an die Momente, die sie so aus der Fassung brachten. Er war so kalt und herzlos gewesen. Sie hatte nicht gewusst, das ein Mensch so anders sein konnte. Er hatte sie verletzt. Es war nicht der körperliche Schmerz, sie fühlte nichts. Sie fühlte nur, wie ihr Herz brach. Sie fühlte nur, wie große Trauer sie überfiel. Sie fing wieder an zu weinen. Wellen schlugen an das Ufer, kalter Wind blies. Aber sie spürte nichts, sie merkte nicht, wie leicht sie bekleidet war. Ihre Wahrnehmung konzentrierte sich nur auf das Gefühl in ihr. Diese Verzweiflung, Leere, Unfassbarkeit, füllten sie aus. Sie bestand aus nichts anderem mehr.
Sie lief an einer kleinen Gruppe Spaziergänger vorbei, mitten hindurch. Sie zeigten auf sie, flüsterten, tuschelten. Sie bemerkte es nicht. Sie war nichts mehr. Nichts, nur Schmerz. Sie schrie, alle Enttäuschung und Verzweiflung versuchte sie herauszuschreien. Menschen, auf Segelbooten, Menschen auf großen Schiffen hören sie. Sie erschraken. Aber sie schrie weiter, und rannte und weinte. Bis ihre Stimme erschöpft war. Sie kippte um, mitten auf dem Gehweg. Einige Menschen rannten auf sie zu, wollten helfen. Sie rappelte sich hoch, wich ihnen aus, stieß sie beiseite. Weiter lief sie, bis zum Steg. Es dämmerte schon. Am Steg blieb sie stehen, sie atmete heftig. Sie konnte nicht mehr. Wie konnte er? Wieder schrie sie. Leise, fast flüsternd, verzweifelt. Sie sah den großen Baum am Wegesrand, lief auf ihn zu. Hart prallte sie zurück. Sie nahm Anlauf. Ihr Kopf donnerte gegen das zähe Eichenholz. Immer und immer wieder. Ihre Hände krallten sich in die Rinde. Sie spürte etwas warmes, nasses. Sie wischte sich über die Augen, aber ein roter Vorhang ließ sie immer weniger sehen. Sie legte sich auf das feuchte Gras. Wartete. Es wurde dunkel, Menschen gingen an ihr vorbei. Ahnungslos. Sie lehnte an dem großen Baum, unbemerkt.
Später stand sie auf, sie sah wieder. Und ihr Blick fiel auf die Straße, folgte ihr und blieb hängen, an der breiten Brücke, die die Autofahrer sicher über den tiefen Fluss führte. Sie fing an zu laufen, den steilen Weg hinauf, und dann die Stufen. Sie weinte nicht mehr. Sie war ganz ruhig, nur ihr Herz klopfte vom schnellen Laufen. Oben blieb sie stehen. Sie tastete nach ihrer Stirn, sie fühlte sich rauh an, und dick. Aber sie spürte nichts, sie fühlte nur die Leere.
Langsam ging sie zum Geländer und blickte hinunter, in das tiefschwarze Wasser. Der Himmel war bedeckt, einzig die Lichter vorbei fahrender Autos gaben ein wenig Helligkeit. Auf den glatten Gitterstäben lag Frost. Sie schloss die Augen, sie setze ein Bein an das Geländer, zog sich hoch. Dann zog sie das zweite nach. Ihr Atem bildete weiße Wolken. Sie dachte nichts. Nur an ihn, an den Schmerz. Als sie die Augen öffnete sah sie den kleinen Steg am Ufer unter einer Laterne. Sie stieg rückwärts über das Geländer, dann drehte sie sich um. Ihre Füße standen auf den Eisenstangen, ihr Hände hielten die oberste. Autos quietschten, Menschen stiegen aus. Neugierig, verstört. Sie riefen zu ihr. Das Mädchen hörte nichts, sie sah nur das Wasser unter ihr. Ihre Hände lockerten sich, sie schloss noch einmal die Augen. Aufgeregte Menschenmengen versammelten sich auf der Straße, der Verkehr stoppte. Manche weinten, jemand rief die Polizei.. Niemand wagte zu ihr zu gehen, alle hatten Angst. Sie merkte nichts.
Dann ließ sie mit der einen Hand das Geländer los, ihre Füße schoben sich nach vorne. Sie schwankte. Sie dachte nichts mehr, auch nicht mehr an ihn. Sie spürte die Leere, die Verzweiflung. Sie weinte nicht. Nie mehr wollte sie weinen. Sie stand vor der Erlösung, wozu weinen. Sanft lächelte sie. Die Menschen waren verwirrt. Ein verzweifeltes Mädchen stand auf einem Brückengeländer und lächelte Schmerz verzerrt. Polizeisirenen waren in der Ferne zu hören.
Das Mädchen öffnete die Augen, ihre zweite Hand hielt nur noch leicht das Geländer. Da sah sie den Mond der plötzlich blass durch ein Wolkenloch schien. Einen Augenblick lang. Angstvoll sah sie in das tiefe Wasser unter sie. Ihre Finger krallten sich fest um das Eisengeländer. Sie stieg hinab. Sie konnte nicht denken, nicht realisieren, was geschehen war. Sie zitterte vor Kälte und schlang ihre Arme um ihren Körper. Ihre Stirn pochte vor Schmerz. Sie sah die vielen Menschen, hörte Sirenen. Das Mädchen war verwirrt. Die Leute redeten wild auf sie ein, sie hatte Angst. Sie sah das Polizeiauto vor fahren, und lief in die Dunkelheit. Im Wald hinter der Autobahn blieb sie. Leise lauschte sie. Niemand sollte sie finden. Als es draußen still wurde und sie wieder Autos fahren hörte, kam sie hinter den Bäumen hervor.
Sie war müde. Ihr Hals tat weh und ihre Augen. Ihr Kopf dröhnte. Sie blickte noch einmal zurück auf die Autobahnbrücke. Dann ging sie frierend nach Hause.
[ 08.06.2002, 14:42: Beitrag editiert von: Felicitas ]