Augen
Ich stehe am Bahnhof. Mein schwarzer Mantel weht im Wind. Ich mag das Gefühl. Ich trage eine schwarze Kappe. Die Leute sehen mich oft recht seltsam an. Ich bin's gewohnt. Die Kappe hat ja auch ihren Grund. Einerseits halten sie meine Haarpracht, die oft so unbeugsam wie ein kleines gallisches Dorf erscheint, im Zaum und andererseits... ja andererseits schützt sie meine Augen vor der Sonne. Und vor anderen Augen.
Was das soll, fragt ihr? Ganz einfach: Augen sind die gefährlichste Waffe eines Menschen. Und wenn du sie auf jemanden richtest, dann fühlt er sich bedroht, selten erfreut. Auf diese Weise kann ich, ohne bemerkt zu werden, die Menschen in Ruhe beobachten. Eine Sonnenbrille täte den selben Job, jedoch habe ich noch nie eine Brille gesehen, die irgendwie mit Haaren interagiert.
Mein Zug kommt an... 3 Minuten zu spät. Pünktlich. Wie immer weiss ich ungefähr, wo die letzte Türe etwa sein müsste. Aber Moment. Dieser Zug ist zu kurz. Nutgut, schnell Mass genommen und schon warte ich am neuen voraussichtlichen Zielort. Und siehe da, die Tür hält genau vor meiner Nase. Ich stelle mich etwas Seitlich davon hin. Man soll die Leute ja aussteigen lassen. Noch zwei... noch einer... Und da bemerke ich es. Die ältere Frau auf der anderen Seite... eine Dränglerin wie ich. Nun gut Oma, du willst spielen, huh? Mir soll's recht sein. Der letzte ist raus. Beherzt stelle ich mein linkes Bein auf die erste Stufe. Das rechte Bein wäre fatal gewesen. Ihr den Rücken zuzuwenden hätte den Eindruck gemacht, ich wollte mich scheu an ihr vorbeiquetschen. Ausserdem hätte ich meine Waffe nicht einsetzen können: Ein böser Blick nach Links. Sie sieht nicht so genau, wen ich für den Bruchteil einer Sekunde anstarre, aber sie weiss es. Dieser Blick gilt ihr. Und nun nimmt sie auch richtig Notiz von mir. Zwei Köpfe grösser und mindestens doppelt so breit. Mantel: schwarz. Hose: schwarz. Pullover: schwarz. Und um den Hals ein Pentagramm. Jetzt macht es keinen Unterschied mehr, wer ich bin oder was das Pentagramm wirklich bedeutet. Ich habe gewonnen und somit gebührt mir die Ehre der ersten Platzwahl.
Sinnlos. Ein Wagen zu wenig. Alles voll und von der anderen Seite kommen sie auch schon. Sie wissen genau so gut wie ich, dass beim Raucherabteil immer weniger Leute ein und aussteigen. Verdammt. Ein freier Platz und der andere ist gleich weit davon entfernt. Aber er hat ihn noch nicht gesehen. Ich beschleunige meinen Gang. Ich stapfe direkt auf ihn zu. Cool... breit... mächtig. Er zögert... und hat verloren. Eine kurze Frage, ob der Platz denn frei wäre und er gehört mir. Strike!
Und jetzt habe ich Zeit. Im Kopfhörer läuft Nightwish. In der Hand halte ich den Herrn der Ringe. Band 3 erster Teil. Doch für ein Mal lese ich nicht darin. Ich stehle Blicke über den Rand meines Buches hinweg. Durch das Buch und die Kappe liegt ein dunkler Schatten auf meinem Gesicht. Ich höre die alte Frau von vorhin über die Jugend stänkern... Ich weiss jetzt schon, wer garantiert nicht zuerst aussteigen wird.
Doch mein Gegenüber ist jetzt interessanter. Sie ist etwa um 20 würde ich schätzen. Ich war nie gut im Schätzen. Sie hat Übergewicht. Viel davon. Doch in ihrem Gesicht liegt Selbstbewusstsein. Ihre Augen sind offen und hell. Schlagfertig scheint sie. Und während sie so über dies und das mit ihrer Freundin daneben redet, da weiss ich: Sie findet ihren Weg immer und überall. Was mag sie jetzt gerade denken? Über ihre Freundin? Über das Wetter? Was ihr der Tag wohl bringt? Oder hat sie, wie ich, einen Gedanken oder zwei an ihren Gegenüber verschwendet?
Dann fällt mein Blick auf ihre Freundin. Zierlich. Jünger als sie, würde ich sagen. Augen wie ein Reh. Ich habe das Gefühl, als brauchte ich nur in die Hände zu klatschen und sie würde zusammen fahren. Trotzdem im Moment fühlt sie sich nicht bedroht. Ihre Freundin leiht ihr Kraft. Sie lacht. Die beiden ergänzen sich wirklich gut.
Mein Blick wandert. Ein Abteil näher an der Tür. Ich bin vorhin daran vorbeigegangen. Ich sehe ihn direkt. Ein alter Mann. Sein Gesicht von den Jahren gezeichnet. Was ist das? Eine Narbe? Woher er sie wohl hat? Aus einem heroischen Kampf mit einem Hund, um seine Geliebte zu retten? Wer weiss. Ich tippe allerdings eher auf Handwerksunfall. Dennoch. Sein Gesicht hat Würde und ist erfüllt von Trauer. Vielleicht ist er alleine auf der Welt. Stolz und würdevoll zwar, aber ohne jemanden, für den er etwas empfinden darf. Ich wünschte ich könnte Gedanken lesen. In diesem Moment blickt er auf. Direkt in meine Richtung.
Ich merke, wie sein Blick auf mir liegt. Jetzt bin ich in seinen Gedanken, doch was mag er denken? Ich wünschte ich könnte Gedanken lesen. Verdammt. Mit den eigenen Waffen besiegt. Ich bin seinem Blick ausgewichen. Aber es hat mir die Augen auch geöffnet. Wir alle besitzen diese Waffe. Und wie ein Waffennarr gibt es auf dieser Welt Menschen, die sie bewundern. Menschen, die sich in sie verlieben und Menschen, die sie fürchten. Ich gehöre irgendwie zu allen. Der alten Frau habe ich den Vortritt gelassen. Als erster auszusteigen und Rache zu nehmen schien mir plötzlich so belanglos, so kindisch. In dem Moment als ich mit der Hand deutete, sie möge doch zuerst gehen, da traf mich ihr Blick. Und diesmal hielt ich stand. Erstaunen, Triumph und ein Hauch Freundlichkeit. Und ich wusste, das war's wert. Ich liebe Augen.
[Beitrag editiert von: Kokuyo am 11.04.2002 um 15:01]