Was ist neu

Aufwachsen

Mitglied
Beitritt
02.09.2009
Beiträge
4
Zuletzt bearbeitet:

Aufwachsen

Als meine Grossmutter an einem verschneiten Tag, mitten im Hochsommer, zu uns zu Besuch kam, war ich traurig über mein Unvermögen zu fotografieren. Die Bildausschnitte waren einfach gut. Sie waren sogar richtig schlecht. Und langweilig noch dazu.

Also posierte ich stattdessen in meiner hellblauen Uniform für die Kamera meiner Grosseltern. Mit stolz geschwellter Brust und dem ersten Löwenzahnsalat meines Lebens zwischen den Zähnen. Löwenzahn mit harten Eiern.

Währenddessen wuchs auf den Erdhügeln, welche wie immer ganz ruhig hinter und neben unserem Haus lagen, das Unkraut. Schön und sorgenfrei wuchs es aus den mächtigen Hügeln, welche eigentlich schon lange nicht mehr da sein sollten. Aber wer erledigt schon alles fristgerecht!? Auch der unpünktliche Vater nicht, der immer auf die Einhaltung von Terminen und Vereinbarungen pocht.

So lernt man früh, nichts zu vereinbaren, was man nicht auch wirklich einhalten kann. Und genauso kommt man schon früh zu seiner Angst. Zu genau dieser einen Angst, welche den Menschen davon abhält, die grossen Dummheiten des Lebens zu begehen. Angst ist wichtig.

Wäre da nicht der Schnee gewesen, das Jucken auf dem nackten Rücken, sobald man das T-Shirt auszieht. Wäre da nicht das Gefühl der Unfähigkeit obwohl man von allen gelobt wird, wären da nicht die Schuldgefühle aus dem Nichts kommend, ich wäre ein glückliches, kleines Kind geworden.

Der Löwenzahnsalat hätte viel dazu beigetragen. Salat als Lichtblick. Salat als schöne Erinnerung. Ein kulinarischer Orgasmus in frühen Kinderjahren. Wie der Haarföhn, der Grossvaters Holzkohle antrieb. Energie die sich direkt in gebratenes Fleisch verwandelt.

Ganz gereicht hat es dennoch nicht. Ob nur ganz knapp oder bei weitem nicht, weiss niemand. Niemand ausser den Erdhügeln, die schon lange nicht mehr da sind. Die Erde, die mit grosser Verspätung, viel zu früh abgetragen wurde. Sie war zu lange da, um schnell vergessen zu werden.

Etwas temporäres, noch dazu etwas gänzlich unbekanntes, hinterlässt die grösste Leere. Es hinterlässt vielleicht sogar mehr Leere als eine etablierte Tradition mit sicheren Werten. Eine so grosse Leere, das selbst der beste Gartenzaun sie nicht einzufangen und auch die prachtvollste Kuhherde nicht niederzutrampeln vermag.

Solche Dinge begleiten das Kind ein ganzes Leben lang. Kleine Schmetterlinge die um den vor sich hin wachsenden Kindskopf flattern. Lautlos. Bis sie irgendwann blutrünstig werden. Blutrünstige, bösartige Schmetterlinge. Sie fallen dich nicht an, sie beissen dich nicht. Sie hinterlassen keine äusserlich sichtbaren Wunden, sie berühren dich noch nicht einmal.

Sie machen dich trotzdem kaputt. Da hilft nicht mal mehr der Löwenzahnsalat. Die harten Eier schon gar nicht. Man beginnt sogar daran zu zweifeln, ob sie überhaupt jemals wirklich hart gewesen sind. Ein kleiner Junge fühlt sich auf einmal wie ein alter, buckliger Mann, mit langem Bart und Gehstock.

Dabei sollte ein Kind doch im Sandkasten spielen und über die Wiese toben, unbeschwerte Bilder von lächelnden Sonnen und lustigen Familien malen. Stattdessen träumt das Kind von hinter Sockelleisten zurückgelassenen Spielzeugautos und händewaschenden Metzgermeistern.

Dieses alte Kind wird immer wieder von vorne beginnen müssen. Sonderbarerweise wird es aber, allen anderen gegenüber, immer einen Vorsprung aufweisen. Doch davon wird niemals irgendjemand auch nur das geringste ahnen. Am wenigsten das Kind selbst. Der Vorsprung wird für immer verborgen bleiben, es wird sogar so scheinen, als ob das Kind, allen Menschen denen es begegnet, vollends unterlegen sei.

Das ist jedoch nicht weiter schlimm, denn die Traurigkeit kommt nicht daher. Sie ist angeboren. Sie war schon immer da. Das Kind kam im Saft der Traurigkeit zur Welt. Die Traurigkeit ist der Vorsprung, oder zumindest ein grosser Teil davon. Ein Glücksfall. Der Löwenzahnsalat schmeckt nach Traurigkeit, auch ohne harte Eier.

Wenn es Glück hat, erkennt das Kind das Wichtige. Das wirklich Wichtige. Es merkt, dass es lieber inhaltslose Gespräche mit flüchtigen Bekannten führt, als völlig verkrampft auch den hinterletzten, hirn- und sinnlosesten Bericht in irgend einer Gratiszeitung zu lesen. Nur um jeden einzelnen Buchstaben zu vergessen, bevor er überhaupt gelesen wurde. Lieber schmeckt das Kind den Löwenzahnsalat aus den Erzählungen anderer Menschen. Lieber trinkt es etwas Traurigkeit einer sprechenden Person, riecht die Narben der Schmetterlinge und spürt die bebende Hilflosigkeit seines Gegenübers. Auch wenn man sich die langweiligsten Monologe anhören muss, in denen es ausschliesslich um Netzwerke zur Ideenfindung geht, um irgendwelche Plattformen und Möglichkeiten von Partnerschaften. Lasst die Leute davon reden, Ideen zu haben.

Wenn das Kind Entdeckungen dieser Art macht, sei es auch nur eine klitzekleine Entdeckung von solcher Tragweite, dann weiss man, das Kind ist auf der Welt angekommen, ohne vollends den Boden unter den Füssen verloren zu haben und ohne all zu alt geworden zu sein.

 

Sprachlich interessant. Um einer unangemessenen Kritik vorzubeugen, muss ich hier jedoch erst nach dem Experiment fragen.

 

Im Prinzip sind es einfach nur Gedanken. Die Bilder die ich denke. In diesem Fall dachte ich über meine Kindheit nach, das Aufwachsen und das Älter-, bzw. Erwachsenwerden nach. Vielleicht auch etwas über meinen «Ziele». Was will ich erreichen. Was ist mir wichtig. Wirklich wichtig.

Und wie Gedanken eben sind, nicht immer zusammenhängend und vielleicht etwas sprunghaft, manchmal sind es seltsame Bilder, aber es sind genau die Bilder die ich denke, die ich sehe. Ich habe versucht genau das zu beschreiben was sich in meinem Kopf zeigt, wenn ich denke. Manchmal sind es kurze Bilder, völlig abstrakte Assoziationen oder konkrete Erinnerungsfetzen. Die Erinnerung besteht aus Bruchstücken, manchmal werden Dinge verknüpft, die miteinander eigentlich nichts zu tun haben.
Aber es ist wie das Destillat, die Essenz meiner Erinnerungen. Die Fragmente des Erinnerns setzen sich in einigen kurzen Augenblicken zusammen zu einem Gefühl. Ich weiss nicht ob das überhaupt «Experiment» gennant werden «darf». Für mich war es jedenfalls ein Experiment. Und als ganzes umschreibt es dieses eine Gefühl, dass ich habe, wenn ich an meine Kindheit zurück denke. Es ging mir ja schliesslich nicht um einen detaillierten Bericht, sondern einzig und allein darum, dieses eine Gefühl, mit all seinen Facetten, zu beschreiben.

Keine Ahnung ob das verständlich ist. Keine Ahnung ob das irgend welchen Ansprüchen gerecht wird. Keine Ahnung ob ich ein sprachlicher Banause bin. Ich habs versucht.

 

Es spielt keine Rolle, ob da jemand strukturiert oder chaotisch diesen Text erzeugt hat, denn das kann man für jedes Genre machen, daher muss ich mich zur Rubrizierung an den Inhalt halten. Und der ist sehr philosophisch.
Daher verschiebe ich ihn.

 

Hej Feinspachtel,

so, so, das sind also einfach nur Deine Gedanken, die Du da aufgeschrieben hast. Ich bin beeindruckt. So geordnet geht es bei mir im Oberstübchen nicht zu.

Mir gefallen die Bilder, die Wiederholungen, bis auf ein paar Kleinigkeiten auch die Sprache. Also eigentlich fast alles.

Was mir so aufgefallen ist:

gute Fotografien zu machen. Die Bildausschnitte waren einfach nicht gut.
Einmal gut würde reichen. Oder einmal gut und einmal schlecht.

welche wie immer ganz ruhig, hinter und neben unserem Haus lagen
Komma weg, meine ich. Ich hatte manchmal das Gefühl, kommatechnisch haust Du ganz schön um Dich, aber wer bin ich schon, Dir da einen Rat zu geben.

Aber wer erledigt schon alles Fristgerecht!?
fristgerecht klein

So auch der unpünktliche Vater nicht, der so auf die Einhaltung von Terminen und Vereinbarungen pocht.
So lernt man früh
Dreimal "so", bisschen viel.

So lernt man früh, nichts zu vereinbaren, was man nicht auch wirklich einhalten kann. Und genauso kommt man schon früh zu seiner Angst.
Hier schreibst Du "man", vorher "ich", später "das Kind". Vielleicht solltest Du Dich für eine durchgehende Form entscheiden. Oder deutlicher machen, warum du es nicht tust.

Das ist jedoch nicht weiter schlimm, denn die Traurigkeit kommt nicht daher.
Von der Tatsache, dass es scheint, als wäre das Kind allen anderen unterlegen?
Das "daher" klingt so vage.

Es merkt, dass es lieber sinn- und inhaltslose Gespräche mit flüchtigen Bekannten führt, als krampfhaft auch den hinterletzten, hirn- und sinnlosesten Bericht in irgend einer Gratiszeitung zu lesen.
Kommt mir so vor, als gäbe es noch ein paar Alternativen. :)

Lieber trinkt es etwas Trautrigkeit
Traurigkeit

Platformen
Plattformen

Lasst die Leute davon reden, Ideen zu haben.
Falls Du dich für eine durchgehende Variante entscheidest, könnte es hier heißen: Es (das Kind) lässt die Leute davon reden, Ideen zu haben.

Im letzten Absatz finde ich das "man" schlüssig.

Habe ich gerne gelesen.

Viele Grüße
Ane

 

Besonders gut gefallen hat mir der Löwenzahnsalat!
Ich muss mich auch der Meinung anschließen, dass deine Gedanken ziemlich gut geordnet sind.
Schöne Geschichte, die auch etwas länger ihren Reiz hätte, vielleicht willst du ja irgendwann so eine Art "Memoiren" schreiben!
Haben die das scharfe S jetzt schon ganz abgeschafft?
Wenn nicht, solltest du da noch einmal durchkorrigieren.

grüße,

f.

 

Vielen Dank für Eure Kommentare. Ich werde den Text, sobald ich etwas Zeit habe, durchgehen und Eure Anmerkungen berücksichtigen. Nur kurz zum scharfen S: ich bin in der Schweiz aufgewachsen und auch da zur Schule gegangen. Und in der Schweiz kennt man dieses scharfe S nicht. Ich habe nie gelernt es zu verwenden. Und deshalb laß ichs bleiben.

Danke & Grüsse,
F.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom