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Aufwachsen
Als meine Grossmutter an einem verschneiten Tag, mitten im Hochsommer, zu uns zu Besuch kam, war ich traurig über mein Unvermögen zu fotografieren. Die Bildausschnitte waren einfach gut. Sie waren sogar richtig schlecht. Und langweilig noch dazu.
Also posierte ich stattdessen in meiner hellblauen Uniform für die Kamera meiner Grosseltern. Mit stolz geschwellter Brust und dem ersten Löwenzahnsalat meines Lebens zwischen den Zähnen. Löwenzahn mit harten Eiern.
Währenddessen wuchs auf den Erdhügeln, welche wie immer ganz ruhig hinter und neben unserem Haus lagen, das Unkraut. Schön und sorgenfrei wuchs es aus den mächtigen Hügeln, welche eigentlich schon lange nicht mehr da sein sollten. Aber wer erledigt schon alles fristgerecht!? Auch der unpünktliche Vater nicht, der immer auf die Einhaltung von Terminen und Vereinbarungen pocht.
So lernt man früh, nichts zu vereinbaren, was man nicht auch wirklich einhalten kann. Und genauso kommt man schon früh zu seiner Angst. Zu genau dieser einen Angst, welche den Menschen davon abhält, die grossen Dummheiten des Lebens zu begehen. Angst ist wichtig.
Wäre da nicht der Schnee gewesen, das Jucken auf dem nackten Rücken, sobald man das T-Shirt auszieht. Wäre da nicht das Gefühl der Unfähigkeit obwohl man von allen gelobt wird, wären da nicht die Schuldgefühle aus dem Nichts kommend, ich wäre ein glückliches, kleines Kind geworden.
Der Löwenzahnsalat hätte viel dazu beigetragen. Salat als Lichtblick. Salat als schöne Erinnerung. Ein kulinarischer Orgasmus in frühen Kinderjahren. Wie der Haarföhn, der Grossvaters Holzkohle antrieb. Energie die sich direkt in gebratenes Fleisch verwandelt.
Ganz gereicht hat es dennoch nicht. Ob nur ganz knapp oder bei weitem nicht, weiss niemand. Niemand ausser den Erdhügeln, die schon lange nicht mehr da sind. Die Erde, die mit grosser Verspätung, viel zu früh abgetragen wurde. Sie war zu lange da, um schnell vergessen zu werden.
Etwas temporäres, noch dazu etwas gänzlich unbekanntes, hinterlässt die grösste Leere. Es hinterlässt vielleicht sogar mehr Leere als eine etablierte Tradition mit sicheren Werten. Eine so grosse Leere, das selbst der beste Gartenzaun sie nicht einzufangen und auch die prachtvollste Kuhherde nicht niederzutrampeln vermag.
Solche Dinge begleiten das Kind ein ganzes Leben lang. Kleine Schmetterlinge die um den vor sich hin wachsenden Kindskopf flattern. Lautlos. Bis sie irgendwann blutrünstig werden. Blutrünstige, bösartige Schmetterlinge. Sie fallen dich nicht an, sie beissen dich nicht. Sie hinterlassen keine äusserlich sichtbaren Wunden, sie berühren dich noch nicht einmal.
Sie machen dich trotzdem kaputt. Da hilft nicht mal mehr der Löwenzahnsalat. Die harten Eier schon gar nicht. Man beginnt sogar daran zu zweifeln, ob sie überhaupt jemals wirklich hart gewesen sind. Ein kleiner Junge fühlt sich auf einmal wie ein alter, buckliger Mann, mit langem Bart und Gehstock.
Dabei sollte ein Kind doch im Sandkasten spielen und über die Wiese toben, unbeschwerte Bilder von lächelnden Sonnen und lustigen Familien malen. Stattdessen träumt das Kind von hinter Sockelleisten zurückgelassenen Spielzeugautos und händewaschenden Metzgermeistern.
Dieses alte Kind wird immer wieder von vorne beginnen müssen. Sonderbarerweise wird es aber, allen anderen gegenüber, immer einen Vorsprung aufweisen. Doch davon wird niemals irgendjemand auch nur das geringste ahnen. Am wenigsten das Kind selbst. Der Vorsprung wird für immer verborgen bleiben, es wird sogar so scheinen, als ob das Kind, allen Menschen denen es begegnet, vollends unterlegen sei.
Das ist jedoch nicht weiter schlimm, denn die Traurigkeit kommt nicht daher. Sie ist angeboren. Sie war schon immer da. Das Kind kam im Saft der Traurigkeit zur Welt. Die Traurigkeit ist der Vorsprung, oder zumindest ein grosser Teil davon. Ein Glücksfall. Der Löwenzahnsalat schmeckt nach Traurigkeit, auch ohne harte Eier.
Wenn es Glück hat, erkennt das Kind das Wichtige. Das wirklich Wichtige. Es merkt, dass es lieber inhaltslose Gespräche mit flüchtigen Bekannten führt, als völlig verkrampft auch den hinterletzten, hirn- und sinnlosesten Bericht in irgend einer Gratiszeitung zu lesen. Nur um jeden einzelnen Buchstaben zu vergessen, bevor er überhaupt gelesen wurde. Lieber schmeckt das Kind den Löwenzahnsalat aus den Erzählungen anderer Menschen. Lieber trinkt es etwas Traurigkeit einer sprechenden Person, riecht die Narben der Schmetterlinge und spürt die bebende Hilflosigkeit seines Gegenübers. Auch wenn man sich die langweiligsten Monologe anhören muss, in denen es ausschliesslich um Netzwerke zur Ideenfindung geht, um irgendwelche Plattformen und Möglichkeiten von Partnerschaften. Lasst die Leute davon reden, Ideen zu haben.
Wenn das Kind Entdeckungen dieser Art macht, sei es auch nur eine klitzekleine Entdeckung von solcher Tragweite, dann weiss man, das Kind ist auf der Welt angekommen, ohne vollends den Boden unter den Füssen verloren zu haben und ohne all zu alt geworden zu sein.