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Aufwachen
Sie erwachte und schaute sich um. Wo war sie? Das Zimmer war ihr unbekannt. Zwei Türen, alte Möbel, die Vorhänge zu und gedämpftes Licht. Wie war sie hierher gekommen? So sehr sie sich bemühte, sie konnte sich nicht erinnern. Sie saß in einem Sofasessel, es erschien ihr aber nicht möglich aufzustehen. War sie gefesselt, weil jeder Versuch sich zu erheben scheiterte. Es war eher Kraftlosigkeit. Hinter einer Tür schepperte Metall. War jemand nebenan? Wer mochte das sein?
„Hallo?!“ Stille. Hat man mich gehört? „Hallo“, rief sie wieder.
Schritte kamen näher. Die Tür öffnete sich und ein Mann trat ein, den sie nicht kannte. Er hatte weiße Haare, ein Faltengesicht, lockere Kleidung, die einmal stärker gefüllt war. Langsam näherte er sich.
„Was ist denn?“
„Was ist das für ein Ort? Ich möchte nach Hause zu meinen Eltern“, antwortete sie.
„Das geht nicht“, sagte er und drehte sich wieder um Richtung Tür, seufzte, und murmelte einige Augenblicke später, „Sind tot.“
Die Worte trafen sie wie ein Hammer. Sie konnte sich nicht vorstellen, was passiert war? Ein Unfall? Mord? Hatte er sie gar umgebracht? Egal, sie erkannte, Flucht war die einzige Lösung. Das hatten ihr ihre Eltern für den Fall einer Entführung immer eingebläut. Das war sicher einer dieser Männer mit den weißen Kastenwägen aus der Zeitung. Bei erstbester Gelegenheit würde sie das Haus verlassen.
„Bitte, ich habe doch nichts getan“, flehte sie, „ich möchte gehen.“
Er blieb stehen, drehte sich um. Genervt zischte er, „sei still“, und verließ das Zimmer.
Wieder alleine versuchte sie, sich zu bewegen. Die Hand fand ihr Gesicht. Keine Fesseln? Eher Betäubungsmittel. Jetzt aufstehen! Langsam spannten sich ihre Muskeln, bis sie auf ihren Beinen war. Ein Schritt nach dem anderen hin zur zweiten Tür. Das Gleichgewicht war kaum zu halten, aber endlich erreichte sie die Klinke. Dahinter fand sie einen Korridor mit drei, vier weiteren Türen wobei eine den Eindruck eines Hauseingangs erweckte. Das Ziel war gefunden. Nur noch bis dahin und mit etwas Glück eilten Nachbarn zu Hilfe. Immer schneller lief sie der Befreiung entgegen. Nur drei Meter, dann zwei. Ihre Hand fasste die Türschnalle und drückte sie fest. Unversperrt! Sie öffnete diese langsam und lautlos. Beim ersten Schritt in die Freiheit hörte sie ihn näherkommen.
„Wo willst du hin? Verdammt!“, schnaubte der Mann.
Sie stolperte zur Tür hinaus und rief, „Hilfe! Hilfe!“
Dann packte er sie an den Schultern und zerrte er sie zurück ins Haus. Sie wehrte sich mit aller Kraft, fand sich aber letztlich im Sessel wieder.
Hat sie ein Nachbar gehört und ruft die Polizei? Er wiederholte mehrmals, dass sie endlich still sein soll und ging ins Nebenzimmer. Nach einiger Zeit gab sie die Hoffnung auf, dass sie jemand retten kommen würde. Der Mann kam wieder mit einem Tablett, auf dem Kaffeetassen und Kuchen standen. Offenbar erneut Schlafmittel!
Er sagte, „Trink! Du musst was trinken“, und zeigte auf die schwarze Flüssigkeit.
„Ich darf noch keinen Kaffee trinken“, erwiderte sie und schob ihn zur Seite. Ihren Eltern war wichtig, dass junge Mädchen von Koffein ferngehalten werden.
Beim Blick auf das Geschirr bemerkte sie neben dem Kuchen ein Messer, dass der Mann beim Schneiden vergessen hatte. Zögerlich griff sie nach der Tasse, legte dabei ihre Hand über die Klinge und nahm sie langsam zu sich. Sie trank mit kleinen Schlucken, um wenig Betäubungsmittel zu sich zu nehmen. Der Kuchen war staubig und sie kaute eine halbe Ewigkeit am ersten Bissen herum. Dadurch kam ihr die Idee, ihn um ein Glas Wasser zu bitten, um die Krümel besser hinunterzuspülen. Er machte sich auf den Weg ins Nebenzimmer, das die Küche war, und holte etwas aus dem Schrank. Dem Geräusch fließenden Wassers folgten wieder Schritte.
Er kam zurück. Darauf hatte sie gewartet und hielt das Messer fest hinter dem Rücken versteckt. Er beugte sich zu ihr, um die Flüssigkeit hinzustellen, und sie rammte den Stahl kraftvoll in seinen Bauch. Er schrie auf, das Glas fiel zu Boden und zerbrach. Sein Körper wankte zurück und stürzte auf das Sofa. Ihre Hand zitterte, die Finger um den Schaft herum fest verkrampft. Seine Augen ließen erkennen, wie überrascht er war.
„Ich kann nicht mehr“, sagte er leise, „sie sollen dich abholen.“ Er hielt sich den Bauch, zog mit der anderen Hand sein Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer. „Hallo, ich bin's“, sprach er mit erstickter Stimme, „hol sie bitte ab. Du hattest recht.“
Er legte auf und drehte sich zu ihr um. Eine kleine Träne lief seine Wange herab. Sie sah auf seinen Bauch. Kein Blut. Nichts! Sie sah auf das Messer, glänzender Stahl. Kein roter Tropfen. Nichts! Ein stumpfes Buttermesser!
„Du hättest mich umbringen können und vielleicht wäre es besser gewesen. Dann wäre mir das alles erspart geblieben“, sagte er langsam und setzte sich ihr gegenüber.
„Ich will nach Hause“, flehte sie mit Tränen in den Augen. Er schwieg und weinte.
Eine Viertelstunde später öffnete sich die Tür und ihre Mutter kam herein und stürmte auf sie zu.
„Mutter, wo warst du?“, fragte sie, „fahren wir nach Hause?“
„Sie wollte mich abstechen! Kannst du dir das vorstellen?“, entfuhr es dem Mann.
„Das wird ein richtig fetter Bluterguss, aber ich habe alles versucht.“
Die Frau strich ihm sanft über die Wange, drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. Langsam, bedächtig, wirkte hilflos. Sie kam zu ihr, griff ihr unter die Arme. Mit einem Ruck half sie ihr beim aufstehen und setzte sich mit ihr Richtung Ausgang in Bewegung. Der Gang war in dieser Situation doch vertraut. Sie schlurften eingehängt aus dem Haus hinaus. Sie war frei und ihre Mutter lebte. Aber warum hat das der Alte gesagt? Ihr fiel dafür keine vernünftige Erklärung ein. Egal! Jetzt atmete sie beruhigt auf und ließ sich langsam zum Wagen geleiten. Er folgte ihnen mit einem Koffer. Die Frau half ihr in auf den Beifahrersitz eines Autos und schloss den Gurt.
„Warte kurz, Mama“, sagte sie und drehte sich Richtung Mann um. „Mach dir keine Sorgen, Papa“, erklärte sie ihm, „die Leute im Heim passen schon auf sie auf.“
Die Türe fiel zu und für einen Augenblick sah sie eine alte Frau im Seitenspiegel. Müde schloss sie ihre Augen und schlief ein.
Sie erwachte und schaute sich um. Wo war sie? Das Zimmer war ihr unbekannt.