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Aufwachen
Immer wenn Flo ein Lied im Radio gefiel, verstellte Andi den Sender. Dabei war er es doch, der fuhr, und es war sein Wagen.
Andi boxte ihm auf die Schulter, und Flo verfluchte sich selbst für sein anschließendes Lächeln.
Andi und er hatten sich monatelang nicht gesehen, aber dieser gemeinsame Ostsee-Urlaub bewies doch, dass ihnen immer noch etwas aneinander lag.
Flo raste die Autobahn entlang und freute sich auf den Strand, das Meer und die Erholung. Während er mit hundertsiebzig Kilometern pro Stunde einen dahinschleichenden Rentner im schwarzen Mercedes überholte, überlegte er, dass Andi und er sich bereits seit der fünften Klasse kannten.
Andi kippte einen weiteren Energy-Drink herunter und warf die leere Dose in voller Fahrt aus dem Fenster. Nun holte er sich einen Schokoriegel aus dem Rucksack, den er auf dem Schoß trug.
»Du stopfst Mist in dich rein«, sagte Flo.
»Wenn sie´s verkaufen, muss es essbar sein, wird ja kontrolliert alles«, antwortete Andi und biss leidenschaftlich in den Riegel.
Flo schüttelte den Kopf und behielt den Blick starr auf die Straße gerichtet.
Und sein Frauengeschmack, wie er einen Moment später überlegte, von der einen Schickimickitussi zur nächsten. »Du musst dir eine richtige Frau suchen«, meinte er zu Andi.
»Ja, welche denn?« fragte dieser stumpf.
Flo schüttelte erneut den Kopf, diesmal langsamer, schwieg aber. Doch er dachte: so wie Laura, meine Laura, nicht mehr meine Laura. Ich muss schuften gehen, damit wir was zu essen aufm Tisch haben. Er hörte noch immer ihren letzten Satz, bevor sie aus der Wohnung stürmte und er sie nie wiedersah, und wurde ihn einfach nicht los. Und du? Du dröhnst dich zu und spielst mit einem Glockenspiel rum!
Als sie ankamen, war fast Sturmwetter, doch das störte die beiden nicht; sie betrachteten den rauen Wind als perfekte Kulisse für ein Männerabenteuer.
Schon Minuten später lagen sie nebeneinander am Strand. Mit geschlossenen Augen das Rauschen des Windes spüren, das war traumhaft, einfach gut.
»Noch Bock auf ´n Bier?«, fragte Andi Flo.
»Ne, erstmal nicht.«
Sie redeten nicht allzu viel. Männer brauchen nicht viele Worte. Andi erzählte von seiner Arbeit, kurz, nur das wichtigste. Sie redeten über Frauen, wie immer. Und die alten Zeiten durften natürlich auch nicht fehlen. Flo holte einen Joint heraus.
»Willste auch einen?«
»Bah, ne! Geh weg mit dem Zeugs. Und seit wann rauchst du überhaupt? Kiffst.«
»Ist nur zur Entspannung, mach ich nur gelegentlich.«
Es war nicht viel los am Strand, sie wollten bald wieder ins Hotel und dann später in eine Bar. Noch ein bisschen berauscht sah Flo, dass Andi ganz schön abgenommen hatte. Ja, mein Joint schärft die Sinne, geiles Zeug, dachte er.
Im Hotel angekommen holte Andi seinen Laptop raus.
»Was machst de?«
»Ich muss mal was wegen der Arbeit nachschauen. Nur kurz.«
Andi war Kaufmann, war schon aufgestiegen in seinem Job.
Flo lag auf dem Bett und entspannte.
»Wie läuft eigentlich dein Musikding?«, fragte Andi ohne vom Bildschirm zu blicken.
Musikding?, dachte Flo. »Läuft. Hab einige Texte fertig, richtige Poesie. Und dazu ´n paar Demos aufgenommen, mit Ukulele, afrikanischen Trommeln, ein bisschen Elektronikzeug, sehr experimentell alles.«
»Und hast damit schon Kohle verdient?«
»´n paar Auftritte. Wird alles noch ins Laufen kommen. Braucht seine Zeit.« Flo machte eine Pause. »Du kriegst dein Geld schon noch zurück.«
»Schon gut. Und wie bezahlst deine Miete? Oder wohnst immer noch in dieser komischen WG, wo jeder ein und ausgeht?«
»Nebenjobs. Da muss man sich nicht festlegen, kann viel machen, und das überall, ziemlich cool eigentlich.« Flo kam sich vor wie bei einem Verhör.
»Achso.«
Die Bar war dann gut. Hübsche Frauen, nichts abgeschleppt, aber sei es drum.
Flo und Andi torkelten Arm in Arm in ihr gemeinsames Hotelzimmer mit zwei, natürlich getrennten, Betten.
»Sollten mal wieder mehr was machen«, sagte Andi.
»Ja, ich liebe dich«, sagte Flo. Das hatte nichts zu bedeuten, das sagte er allen, die er mochte, wenn er betrunken war. Aber bei Andi hatte es irgendwie doch etwas zu bedeuten.
Dieser lag auf dem Bauch in seinem Bett, hatte den Mund geöffnet und die Augen nur halb. Es sah aus, als würde er sich gleich übergeben.
Flo lag mit den Ellbogen aufgestützt auf seinem eigenen Bett und betrachtete seinen Freund. Er dachte an früher. An die fünfte Klasse, an Andis runde Bäckchen, die jetzt überhaupt nicht mehr rund waren. Daran was früher zählte. »Hast du die und die Serie gestern gesehen? Geil, oder? Wie der und der das und das gemacht hat?« »Ja, habe ich«, und die Welt war in Ordnung.
Der zweite Tag begann unerfreulich für Flo. Andi wollte irgendetwas besichtigen.
»Wollte ich wohl gern alleine machen«, meinte er.
Flo überlegte, dass es wohl etwas mit seiner Arbeit zu tun hatte, wofür er sich sowieso nicht interessierte.
»Wann kommst wieder?«, fragte er.
»Abends.
»Erst abends?«
»Jo. Dann können wir ja noch mal zum Strand. Ist bestimmt ganz cool.«
»Ok«, sagte Flo und wandte den Blick von seinem Freund ab.
Flo spazierte den ganzen Tag ziellos durch den Ort. Er besichtigte ein paar interessante Sachen, aber seine Laune wollte sich dennoch nicht außerordentlich bessern.
Und dann passierte es. Es lag nicht am Strand. Der Strand war schön. Es war kurz vor Sonnenuntergang. Und dann das Wasser, wie es gegen die Bucht schlug, und der erfrischende Wind nicht zu vergessen. Aber auf einmal geschah es; Flo und Andi stritten sich. Es war zwar kein richtiger Streit, eher eine Meinungsverschiedenheit, aber unangenehm war es trotzdem. Flo konnte sich überhaupt nicht erinnern, sich jemals so heftig über Andi aufgeregt zu haben. Daran merkte man wohl nun, dass sie erwachsen geworden waren.
Thema des Streits oder der Meinungsverschiedenheit: »Willst du nicht mal was Vernünftiges machen?«, wie Andi Flo am Strand fragte. »Kannst ja Kaufmann machen so wie ich, bist ja nicht auf den Kopf gefallen.«
Das war dann alles zu viel für Flo. Erst beschloss Andi mal eben allein den ganzen Tag für sich zu verbringen und dann kam er aus heiterem Himmel mit der Kaufmannsache! Flo wollte kein Kaufmann werden, hatte er sich das nicht oft genug bestätigt und der ganzen Welt nicht oft genug verklickert? »Bürofutzis, ihr kriegt mich nicht«, hatte er immer zu seinen Musikerfreunden gesagt, wenn sie eine rauchten, und sie hatten immer gelacht, und nicht nur weil sie high waren, da war er sich ganz sicher. Doch Andi verstand ihn nicht, begriff nicht die Faszination der Musik und des Künstlerseins.
Und dann meinte Andi, sozusagen als Kirsche auf der Torte: »Du musst mal aufwachen, das wird eh nix mit deiner Musikerkarriere, das schafft fast keiner, man.« Flo sprach kein Wort mehr.
Andi lernte unvermittelt irgendwelche Frauen kennen, die da rumliefen. Er wollte sie Flo vorstellen, doch dieser ging einfach davon.
Flo wusste, dass sein Kumpel ihm nicht folgen würde. Er hatte jetzt diese Frauen, die es abzuschleppen galt, es war einfach alles wie früher, Flo hatte ein Déjà-vu. Früher, als sie dann irgendwann in die Pubertät gekommen waren, da hatte Andi immer die ganzen Frauen abgekriegt, und Flo blieb immer allein zurück, und vielleicht von Anfang an etwas zu deprimiert eingestellt. Und ja, es war so, dass früher auch nicht alles gut war, es gab natürlich Sachen, die Flo früher schon nicht an Andi gefielen.
Flo war sauer, als er zum Hotel schritt, irgendwie war er aber nicht sauer auf Andi. Dieser hatte ihm nichts getan, er hatte seine Meinung zu seinem Musikersein gesagt und er hatte Frauen kennen gelernt, das konnte Flo ihm nicht verübeln. Flo ärgerte sich über die Hoteltür, die er durchschritt, er ärgerte sich über die Zimmertür, als er diese kurze Zeit später öffnete, er ärgerte sich über alles (sich), alles (sich).
Er war sauer, weil er glaubte, dass sein Kumpel Recht gehabt hatte.
»Du musst mal aufwachen«, hatte er gesagt.
Flo dachte, dass er doch einfach nur Musik machen und Texte schreiben wollte.
Und er musste zugeben, Andi hatte ein sicheres, monatliches Einkommen, das seinen Lebensunterhalt garantierte. Er hatte etwas, woran er sich festhalten konnte.
Er lag nur so da. Es war schon fast völlig dunkel, doch er konnte noch die Konturen der Gegenstände im Zimmer wahrnehmen. Noch lange lag er wach, bis Andi nach Hause kam, allein, und Flo so tat, als ob er schlief.