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Aufstieg der Sterne
Wie viele Dimensionen, von Vergesslichkeit, existieren eigentlich? Ich weiß es nicht. Aber dafür weiß ich wenigstens, dass ich etwas vergessen habe. Oder vielleicht auch verloren? Ich wurde vor sechzehn Jahren in Deutschland geboren. Als Nathan Glauber. So nennen mich jedenfalls meine Eltern. Mein Zwillingsbruder bekam die vollständige Version des Namens der uns beiden gehört: Nathaniel. Warum ich den Namen erwähne oder weshalb er mir so wahnsinnig wichtig ist weiß ich selbst nicht. Aber ich habe endlich herausgefunden, warum wir beide so stark sind.
Vor etwa drei Jahren, wäre ich beinahe von einem Laster überfahren worden. Es war am Ende unseres Familienurlaubs am Gardasee. Kurz bevor dieses Ungetüm mich plattgewalzt hätte, hatte ich Nathaniel schreien gehört. Plötzlich waren die Reifen auf der rechten Seite geplatzt und das Monster war nach links gestürzt.
Nathaniel hatte einen Donner ausgelöst, der stark genug gewesen war, um mich vor dem Laster zu retten. In der Zeitung hatte etwas von einem Erdbeben gestanden.
Drei Jahre lang habe ich nach einer Erklärung gesucht und habe sie endlich gefunden.
Nathaniel und ich teilen uns die selbe Kraft. Auch wenn sie verschieden ausgeprägt ist. Ich kann Kurzschlüsse auslösen und kriege, ab und an, einen Blitz zwischen meinen Fingern und einem metallischen Gegenstand mit Erdberührung hin. Nathaniels Blitzschläge sind nur kurz und zwischen seinen Fingern, jedoch von so einer Wucht, dass sie starke Schallwellen auslösen können.
Wir beide hatten drei Monate lang geübt und experimentiert, bis wir uns geschworen hatten: “Es wird keinen Blitz ohne Donner geben!“
Die restliche Zeit hatte ich damit verbracht, herauszufinden woran es liegt, dass wir uns diese Kraft teilen. Es hatte viele Ansätze dieser Frage gegeben. Auf biologischem Wege konnte sie nicht beantwortet werden, weil es theoretisch unmöglich ist dass ein Mensch solche Fähigkeiten hat. Zur Klärung dieser Frage, hatte ich also umsonst, einem Arzt, die Haare zu Berge stehen lassen. Waren wir eine Laune der Natur? Wohl kaum.
War Stress der Auslöser gewesen? Offenbar nicht. Sonst wäre es bei einem einzigen Mal geblieben und unregelmäßige Wiederholungen wären nicht möglich gewesen. Und daran glauben, wir wären geklont, kam mir etwas komisch vor.
Irgendwann, war ich auf die dummdreiste Idee gekommen, religiöse oder spirituelle Gründe, könnten eine Rolle dabei spielen.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich die Bibel in den folgenden zwei Jahren gelesen hatte. Aber meine apokalyptischen Alpträume hatten mich dazu verleitet...
Ich habe gesehen, wie Berge von Wolkenbrüchen weggespült wurden. Städte wurden von Wassermassen ersäuft, von Erdbeben geschüttelt, oder standen völlig in Flammen. Drachen zerplatzten, über dem kochenden Bodensee, in kleine Sterne. Reiter, aus dem feuerroten Himmel, drangen, durch berstende Wände, in die Häuser ein. Hagelschauer zerstörten alles, was andere Katastrophen übriggelassen hatten. Die Sonne verfinsterte sich und der Himmel schickte vernichtende Blitze auf die Erde.
Das letzte erinnerte mich an meine eigenen Fähigkeiten.
Darum war ich zu dem Schluss gekommen, dass Nathaniel und ich zu den einundzwanzig Engeln der Apokalypse gehören. Ja ganz richtig die Engel der Apokalypse. Die Boten, welche den Menschen und Dämonen den Untergang bringen. Ich hatte meinem Bruder meine Schlüsse erzählt. Nathaniel hatte nie wieder ein Wort mit mir gewechselt. Ich weiß bis heute nicht, warum er sich mir entzieht.
Inzwischen habe ich einige der anderen gefunden. Kai, einen niedlichen, soften Typen mit langen, blonden Haaren. Er lässt seinen Apfelsaft, mit Vorliebe ohne Hilfe einer Gefriertruhe, zu Eis erstarren. Und Morgana, eine schwarzgelockte Schönheit, die den feurigen Atem eines Drachen versprüht, wenn man ihr aufdringlich kommt.
Normalerweise würde ich mich nicht profilieren wollen, aber es reizt mich schon, mehr herauszufinden.
Unter der Anleitung der Bibel, müsste es mir und den anderen möglich sein, auf unserem „Weg des Aufstiegs“ unsere Erinnerung und die volle Gewalt über unsere Fähigkeiten zurückzubekommen. Heute habe ich Kai in meine Pläne eingeweiht.
Er saß neben mir in der Bar, in die ich ihn bestellt hatte. Irgendwo in einem dunklen, verrauchten Techno-Club der Stuttgarter Altstadt. In der Stadt, die ich hasse. In unserer Heimatstadt. Der unaufhörliche Sound hämmerte uns die Ohren taub. Man, musste schreien, um sich seinem Gegenüber verständlich zu machen.
Seine Hände krümmten sich, nachdem er von meinen Plänen gehört hatte. Seine langen, blonden Haare, wurden von einem geisterhaften Wind erfasst und der Tee vor ihm begann zu knistern. „Übertreib es nicht Kai!“
„Äh, Ich will doch nur Eistee machen, weil es hier herinnen so furchterbar warm ist. Ich schwitze!“
„Ich schwitze auch... war es zu viel für dich?“
„Nein, es hört sich gut an. Stärker werden, das hat schon seinen Reiz. Ich denke dass wir uns gut verstehen werden. Aber woher hast du gewusst, dass ich... ?“
„Hm. Ich hab’ meine Mitmenschen, in der letzten Zeit, sehr genau beobachtet! Und wir kennen uns schon seit der ersten Klasse! Es ließ sich nicht vermeiden. Irgendwann, hätte ich es sowieso mitgekriegt!“
„Daddy hat gesagt, diese Kraft käme vom Teufel. Aber deine Version gefällt mir besser... Engel... Ich mag Eistee... wirklich. Und der selbsterschaffene schmeckt mir am besten.“
Kai war verständig. Das gefiel mir an diesem süßen Typen. Der zierliche Kerl war so jung wie ich und nur in diesen Club gekommen, weil ich Jocki, den Rausschmeißer, persönlich kannte. Es hatte uns niemand hören können. Dazu war es hier wirklich zu laut. Nachdem er mit der Erzeugung seines Eistees fertig war, schluckte er ihn auf EX hinunter.
„Ah. Tut das gut“, sagte er und zwinkerte mir zu. „Ich glaube wir verschwinden hier besser. Rauch schädigt die Lungen.“
Der Junge sprach mir aus der Seele. Endlich hatte er verstanden. Ich hatte noch viel mit ihm zu besprechen. Er war geradezu dafür prädestiniert, der zweite Mann zu werden.
Auf dem weg nach Hause, haben wir herumgealbert, geflirtet und uns gegenseitig Streiche gespielt. Wir beide verstanden uns wirklich gut. Bis ich blöder Idiot, versehentlich, Kai, in unserer Albernheit auf die Straße verfrachten musste. Er landete, blöderweise, im Rücken eines Dealers, in einem dunkelblauen Kapuzenpullover, der gerade damit beschäftigt war, seinen Stoff an zwei Müllmänner in Arbeitskleidung zu verschieben.
„Hey, Pass auf wen du anrempelst... Arschloch“, murmelte der vermummte Kerl.
Ich traute meinen Ohren nicht, als Kai antwortete: “Dann steh nicht im Weg herum Wichser!“
Der gute Mann war einen Kopf größer als wir beide und vom Format eines Wandschranks. Er wirbelte herum und zog eine Pistole...
Kai und ich waren noch nie so schnell gerannt. Aber der Wandschrank verfolgte uns trotzdem über eine halbe Stunde durch die Altstadt.
„Hast du... einen... Vor... schlag... ?“, ächzte Kai.
Mir liefen Schweißperlen von der Stirn und obwohl ich keine Ahnung hatte, was ich tun könnte, drehte ich mich auf dem Absatz und erhob langsam meine Hände. Instinktiv durchsuchte ich die ganze Umgebung nach Metall...
Kurz, bevor der Kerl mich erreicht hatte, entdeckte ich hinter ihm ein blaues Golf Cabriolet. Warum war ich nicht früher darauf aufmerksam geworden?
„Mistkerl“, schrie ich ihm entgegen und im selben Moment, in dem er seine Pistole auf mich richtete, zuckte ein Blitz zwischen meinen Händen und dem Cabriolet.
Ich hatte ihn verfehlt. Mein Blitz war an ihm vorbeigegangen. Aber zu meiner Erleichterung wirkte er etwas verwirrt. Er lies die Pistole sinken und fragte: “Was zum Teufel?“
Dieser Zustand hielt jedoch nicht lange an und ehe ich es mich versah, packte mich der wildgewordene Büffel am Kragen und schüttelte mich.
„Du, verdammtes Kleinkind du! Gerade über die Kinderschuhe rausgewachsen und schon frech werden wollen? Wie hast du das gemacht? Hä? Kriegst du auch ’ne Wiederholung hin? Mickriges Bürschchen! Ausplündern werd’ ich dich, übers Knie legen und windelweich klopfen! Komm...“
„Lass meinen Freund in Ruhe! Wichser!“
Kai hatte ihn unterbrochen. Damit überraschte er mich schon zum zweiten Mal. Wie gebannt verfolgte ich, was nun geschah: Kais Angstschweißtropfen sammelten sich auf seiner Stirn. Der Dealer lachte und richtete seine Waffe auf ihn. Gerade als er den Haken des alten Revolvers spannte, bemerkte ich wie Kais lange Haare vom Wind emporgehoben wurden. Die Kugel verließ den Revolverlauf und wurde von einem Hagelkorn aufgehalten, das Kai aus seinem Schweiß geformt hatte. Die Kugel zerschmetterte das Hagelkorn in tausend Fetzen und wurde abgelenkt.
Die Hände des Dealers lösten sich und Kai liefen Tränen über die Wangen.
„Wer zum Teufel seid ihr?“
„Sag ihm nichts, Kai... gehen wir!“
Kai hörte mich nicht. Seine Tränen tropften nicht auf den Boden. Sie verließen ihn und waberten in der Luft herum. Kai ließ sie mit einem traurigen, schmerzverzerrten Blick erstarren. So viel Entschlossenheit hatte ich bei einem Menschen noch nie vorher erlebt. Mein niedlicher Freund war fest entschlossen den Mann zu töten.
„Lass es Kai, wir kriegen sonst Probleme!“
Kai schloss seine Augen und die Hagelkörner durchlöcherten blitzschnell den Hals des Mannes, der direkt vor meinen Füßen fiel.
Kurz darauf stürzte er selbst auf die Knie und ich erkannte, dass die Kugel meinen Freund verletzt hatte.
Blut rann aus einer Streifwunde an seinem Bein. Ich griff ihn unter den Armen.
Ich stützte ihn, lud nach einer Weile seinen Arm auf meine Schultern und schleppte ihn bis nach Hause.
Kai war nun schon, seit über zwei Stunden, ohnmächtig. Er lag seit etwa einer dreiviertel Stunde in meinem Bett. Seine Hose lag über dem Stuhl auf dem ich saß. Ich hatte sie ausgezogen, seine Wunde verbunden und Pfefferminztee aufgesetzt und versuchte nun, meinen Freund zu wecken.
„Kai.“
Er gab mir keine Antwort.
„Kai, wie geht’s dir?“
„Mein Bein tut weh! Aber sonst, bin ich o.k.“
Seine Augen waren immer noch geschlossen.
„Ich trau' mich nicht so recht, nachzusehen was los ist! Wo hast du mich hingebracht? Es riecht nicht nach Krankenhaus, eher wie...“
Plötzlich öffnete er seine Augen und rief: “Pfefferminztee!“
„Endlich bist du wieder da!“
„Sieht so aus!“
Er zog die Mundwinkel nach oben und setzte sich auf.
„Huh, mein Bein hat’s erwischt, oder?“
„Nur ein Streifschuss “, erklärte ich ihm und goss heißen Pfefferminztee aus der Glaskanne in eine rote Tasse. Rot war sowieso meine Lieblingsfarbe. Mein ganzes Zimmer hatte ich rot tapeziert. Ich hatte rote Möbel reingestellt und orangefarbene Vorhänge verhüllten den Teil des Zimmers, welcher den selbst eingerichteten Tempel vom Rest abschirmen sollte.
„Du hast die Kugel abblitzen lassen!“
„Aber es hat nicht gereicht.“
„Dafür warst du ziemlich entschlossen. Übrigens: Niemand hat uns bemerkt.“
Kai trank einen Schluck, wies auf die Vorhänge und fragte: „Was ist das?“
„Das, ist eine Abschirmung“, erklärte ich stolz, „Ich hab einen Teil meines Zimmers, etwa ein Viertel, vom Rest abgekapselt um dahinter meine Rituale, sorry, damit „wir“ unsere Rituale dahinter durchführen können!“
„Ein Separee? Hast du den Tempel schon eingeweiht?“
„Nein, ich wollte warten, bis ich einen zweiten Mann gefunden hab. Aber, das ist jetzt nicht mehr nötig...“
Der blonde Kerl schloss seine Augen, grinste verständig und streckte mir seine Hand entgegen.
„Hilfst duu, mir auf?“
Ich nahm die Hand des Jungen in meine und stand auf.
„Hoch mit dir!“
Kai stellte die halbvolle Tasse auf den Nachtisch und krabbelte unter der Decke hervor. Er zog sich auf die Beine und hängte sich mit dem Arm an meine Schulter. Ich ging rückwärts und er ließ sich von mir Schritt für Schritt hinter den Vorhang ins Separee leiten.
„Danke! Ich glaube, ich kann jetzt wieder selber laufen. Ist wohl nicht so schlimm, wie es sich anfühlt.“
Er kniete sich auf das Sitzkissen, das ich mir, vor einer Weile, im Separee auf den Boden gelegt hatte und ich setzte mich und legte meine Beine übereinander.
„Ich bin erstaunt, und was macht man in einem solchen Tempel?“
„Man öffnet, zum Beispiel, die Tore in andere Welten!“
„Und, wie geht das?“
„Machen wir ein Experiment?“, schlug ich vor.
„Was hast du vor?“
Ich hatte schon vor einem Jahr damit begonnen, diesen Tag vorzubereiten. Ich hatte letzten Herbst damit angefangen, Kräuter aufzuziehen und ein halbes Jahr später geerntet.
Ich hatte einen Sommerurlaub in Spanien gemacht, um dort Oliven zu ernten. Und ich hatte zwei Liter Olivenöl für meine Zwecke selbst gepresst. Mit den eigenen Händen.
Dieses hatte ich, vor zwei ein halb Monaten, mit den eigenen Kräutern zu sieben verschiedenen Salben vermischt.
Ich hatte nebenher die Bibel studiert, und mich schlau gemacht, über verschiedenste Segnenswünsche, Flüche und Rezepte von denen, heute, viele schon ausgetestet waren.
Nun, endlich, war es soweit. Mein zweiter Mann saß mir gegenüber und der erste Schritt konnte beginnen. Der Weg zurück zu unserer ewigen Erinnerung.
Ich drehte mich und öffnete einen schwarzen Ebenholzkasten, der hinter mir auf dem Boden stand. Darin waren die Salben kühl und trocken eingelagert. Ich entnahm eine Gläserne Salbenflasche, legte mir ein rotes Tuch über den linken Arm und kramte eine Tonschale hervor.
Kai hatte, auf dem kleinen runden Holztischchen hinter sich, zwei Bienenwachskerzen, eine Holztafel und Streichhölzer entdeckt.
Als ich mich umdrehte, lag die Tafel zwischen uns und die beiden Kerzen erleuchteten den Raum.
Ich stellte die Flasche ab, beugte mich vor und breitete das Tuch zwischen den Kerzen aus. Die Schale legte ich in die Mitte des Tuches und goss den Ölansatz aus der Flasche hinein.
„Was wird das, wenn es fertig ist?“
„Vertrau mir!“
„Gibt es bei solchen Ritualen keine Rituelle Waschung?“
„Ich kann dich gut verstehen, aber das ist nicht mehr nötig. Wir sind schon sauber. Nachdem ich dich hergetragen hatte, warst du verwirrt, völlig neben dir und etwas verdreckt von der Straße. Also hab' ich dich gewaschen, deine Wunden versorgt und ins Bett verfrachtet. Während du geschlafen hast, hab' ich geduscht. Du siehst also...“
„Was machen wir jetzt?“
„Ich werde zuerst das Ritual an dir vollziehen. Gib acht und wiederhole dann, so genau wie möglich, was ich nun an dir tue, an mir!“
„Das riecht wie ein ganzer Kräutergarten. Was ist da drin?“
„Das wüsstest du wohl gerne. Ein Magier verrät nie seine Geheimnisse. Ich sage dir, dass dies ein Ansatz von Olivenöl und einigen Kräutern ist. Die genaue Zusammensetzung behalte ich aber für mich!“
Mein rechter Daumen wanderte in die Schale und tauchte ein, in die ölige, wohlriechende Flüssigkeit.
Andächtig sang ich: “Du aber dem Stärke zu Gebote steht, richtest uns in Milde und mit viel Schonung regierst du uns, denn es steht bei dir, wann immer du willst, dich mächtig zu zeigen!“
Mit ernster Miene blickte Kai mir tief in die Augen und senkte vorsichtig den Kopf.
Mit den gesungenen Worten: “Um seinetwillen hat Erfolg sein Bote“, salbte ich sein Haupt am Scheitel und seine Stirn.
Als mein öliger Daumen seine Lippen berührte, erhob ich meine Stimme nochmals zum Lied:
„Und durch sein Wort vollzieht er seinen Willen.“
„Was ist eigentlich dein Ziel?“, fragte Kai, als ich die vier anderen Finger der rechten Hand in die Schale tauchte.
„Ich will beweisen, dass die Offenbarung des Johannes echt ist“ ,antwortete ich,
„Indem ich selber Sorge dafür trage, dass sie sich erfüllt!
Eben ging die Sonne auf und die Kerzenflammen erloschen plötzlich von selbst. Es wurde kurzfristig dunkel im Separee. Kais Augen schlossen sich. Kälte erfüllte den Raum und das Öl in der Schale und in der Flasche gefror vor meinen Augen. Kai hatte seine Kraft unwillkürlich und ohne Vorwarnung eingesetzt. Er öffnete seine Augen zitterte und begann zu weinen und zu schluchzen.
Der Wimmernde landete mit seinem Kopf zwischen meinen Beinen, krallte sich an mir fest und fragte: “Warum... warum hören die... die Zeiten, warum hören sie... niemals auf?“
„Oh, Gott! Kai? Was ist passiert?“
Die Kerzen begannen wieder zu glimmen, die Kälte wurde von Wärme abgelöst und Kais Tränen glitzerten im Kerzenlicht. Mir war vorher noch nie aufgefallen wie schön und niedlich er eigentlich wirklich war. Und während seiner Abwesenheit war mir bewusst geworden, dass er mir etwas mehr bedeutete als ein Freund.
Er sah mich an wie ein kleines heulendes Mädchen, sein Gesicht löste plötzlich Gefühle in mir aus, die ich vorher nie gekannt hatte. „Wie lange war ich eigentlich weg?“, fragte er mich.
„Nur einige Sekunden! Du hast nur ein paar Sekunden geschlafen... glaube ich... was hast du gesehen!“
„Das waren nicht nur Sekunden“, heulte er. „Ich habe das Gefühl eben Tausende von Jahren durchlebt zu haben... Nathan... was ist mit mir geschehen? Wo war ich all die Zeit? Was habe ich alles getan? Ich habe... verletzt, habe getötet, habe Tausende Welten besucht... wer bin ich? Verdammt noch mal wer bin ich?“
„Diese Frage, kannst wohl nur du beantworten.“
Als Kai sich wieder etwas beruhigt hatte und wir viele Stunden beisammen gesessen und viele Tassen Pfefferminztee vernichtet hatten, stellte ich Kai eine wichtige Frage: “Es ist O.k., wenn du nicht erzählen willst, was du erlebt hast. Aber ich würde gerne wissen, ob du bereit dazu wärst, das Ritual an mir zu vollziehen?“
„Ist dass etwa dein Wunsch? Willst du das wirklich? Ich weiß jetzt, was ich bin. Aber was nützt mir das? Was willst du erreichen, indem du deine Erinnerungen auch noch hervorholst?“
Ich ballte meine Fäuste und antwortete völlig unverlegen: „Mir ist egal wie schmerzhaft die Erinnerungen sind. Aber ich will sie wenigstens einmal wieder zurückholen. Ich habe unserem Gott versprochen, dass ich die Prophezeiung erfüllen werde. Koste es mich auch Kopf und Kragen. Egal, wenn ich auch meinen Bruder dazu töten müsste, ich werde mein Versprechen um jeden Preis halten... und dazu muss ich stark werden. Ich muss alles wissen, was ich wusste. Alles können, was ich konnte und perfekt sein! Vollziehe das Ritual bei mir... Bitte! Kai!“