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Aufstehn

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03.11.2003
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Aufstehn

Aufstehn,

dann wird erstmal alles, was Dich zum Mensch macht, weggeduscht, -rasiert, -geputzt. Wasser, das ein Magier ausm AKW warm gemacht hat, deshalb riechen neue Menschen auch im Winter frisch. Allein in der Zeit zwischen Wach und Hausverlassen schau ich mindestens 10 Mal auf irgendeine kleine LED-Anzeige, auf dessen Richtigkeit wir alle, also die gesamte Menschheit uns geeinigt haben. Damit wir uns alle zum gleichen Zeitpunkt treffen können, um dann unseren Teil zum Gelingen des gemeinsamen Ideals beizutragen. Jeder hat seinen Platz, ich habe meinen. Meiner ist, auf die Kinder der Eltern aufzupassen, die arbeiten müssen, um ebenfalls zum Gelingen unseres Ideals beizutragen. Diese Leute haben Kinder, die sie dabei stören, zu arbeiten. Arbeiten gehen sie, um ihre Kinder zu ernähren, um sich mit ihnen nach der Arbeit zu beschäftigen.

Währenddessen werden diese so wie sie. Die meisten schaffen es. Also halt in dem Sinne, daß sie sich so schnell wie möglich das abtrainieren lassen, was sie zu einem Mensch macht. Weil, alles, was einen zum Mensch macht, stört bei der Erfüllung des gemeinsamen Auftrags. Kein Mensch macht seinen Job freiwillig von Anfang an. Alle Kinder finden Funktionieren scheiße- Aber mit Zuckerbrot und Peitsche werden alle so dressiert, daß sie dann doch irgendwann funktionieren. Meine Funktion in der Gesellschaft also:
Ich benutze gegen meinen Willen Zuckerbrot und Peitsche, um Kinder gegen ihren Willen Dinge tun zu lassen, die ich selbst als Kind ebenfalls beknackt fand.

Jetzt mal aber langsam – nicht alle sind damit gesegnet, frei sein zu wollen. Die meisten sind in einer Herde ganz gut aufgehoben. Würde man alle Technik und alle Häuser, Straßen und so wegzaubern, oder anders ... gäbe es einen „ab jetzt Steinzeit“-Knopf, würden sich die meisten zusammenrotten, aus Angst vor den Gefahren der wölden Natur. Ich habe natürlich auch Angst. Welche Menschenherde würde ich mir suchen? Eine stinknormale wohl. Wenn ich mir vorstelle, in einer Menschenherde bestehend aus lauter Künstlern und Musikern zu leben – ne danke, kommt mirs Kotzen. Es gibt eigentlich auch keine Künstlermenschenherden. Oder, wenn im Laufe der Evolution alle paar Jahrhunderte mal ein paar blauäugige Menschen eine Künsltermenschenherde bilden, dann werden sie alle gefressen von ... äh ... was gab es eigentlich für Tiere damals? Also von mir aus werden sie von Mammuts gefressen oder von so n paar Versteinerungen, die stammen schließlich aus der Steinzeit, hab ich gelesen.

OK, also braucht meine Herde ein paar starke Männchen, die mich gegen Archeopteryx verteidigen und gegen dieses Riesending aus Jurassic Park, daß einen immer beim Scheißen fríßt, so wie im Film. Aber wo war ich stehengeblieben? Ach ja, Männchen also. Aber nicht zuviele, sonst übernehmen die die Herrschaft. Und die Frauen, weil in der Steinzeit gab es keine Monogamie, da haben wir alle durcheinandergevögelt. Also muß jedes einzelne Männchen von mir besiegt werden können, ich muß der Stärkste sein. Aber ich habe keine Lust, den ganzen Tag nur zu regieren. Ich will lieber jagen und sammeln und poppen, weil die waren ja alle Jäger, Sammler und Popper.
Ich bilde also mit ein paar Schwachen eine Marionettenregierung, die eigentlich immer das tut, was ich will. Die wissen das intuitiv, weil ich sie erzogen habe. Na gut, und dann sollte man noch ein paar Bauern haben, weil Vitamine auch damals schon gesund waren, bzw. die waren noch viel gesünder, weil das Gemüse 100000 Jahre frischer war als heute. Und dann will ich äh eine schönere Höhle und eine neue Trommel bespannt mit echtem Bison oder Yak ist mir jetzt scheißegal.
Und so erfinde ich also unsere Gesellschaft neu und merke, daß das alles eigentlich ziemlich genau das Gleiche wie vor einer Millionentrillionen Jahren war und daß ich selber ein Riesenarschloch als Politiker wäre. Was solls, begnüge ich mich halt damit, ich und somit unbedeutend zu sein, so ein kleines Rad von den tausendmilliarden Menschenrädchen im Menschenstaatssystem, das lediglich dadurch auffält, daß es ab und zu genau andersrum läuft. Das ist möglich: wenn man oft genug andersrum läuft, verliert man durch die Reibung seine Zacken, die nutzen sich ab und dann drehst Du Dich so, wie es Dir paßt. Dummerweise hat das überhaupt keine Auswirkung auf den Lauf des Clockwork Orange, und deshalb muß man als Rad, das keinen Bock aufs Ticken nach Plan hat, in einem Moment der Unachtsamkeit rausspringen und seinen kleinen Kosmos bauen, sein kleines Uhrwerk, am besten mit Gleichgesinnten. Ich glaube, das sieht komisch aus: lauter Rädchen ohne Zacken, die sich wild durcheinanderdrehen, scheinbar ohne Zusammenhang, ohne daß ein Zeiger angetrieben wird. Sie springen rum, tauschen die Plätze, wann sie wollen, machen interessante Geräusche und ab und zu poppen sie auch. WEIL: Männliche Räder, die es nicht nötig haben, Funktionierzacken auszubilden, haben viel mehr Rohmaterial zur Ausbildung ihrer Metallachse, mit der sie neue kleine Rädchen zeugen.

Na toll, jetzt wollte ich das Geheimnis der funktionierenden Gesellschaft ergründen und was habe ich nach einer Seite (kleingetippt) rausgekriegt? Daß Männer, die sich in das System einfügen und nur an ihre Karriere denken, einen kleinen Schwanz haben.

© Borna Cesljarevic 03/2001

 

Hi Borna

Erst einmal hat mir dein einseitiger (;))Text vom Stil und den Gedankengängen her sehr gut gefallen.
Wobei mich natürlich interessiert, wie so etwas gerade ein Lehrer bzw. Erzieher schreiben kann. Die Grundhaltung scheint mir ja zwischen Neo-Anarchismus und augenzwinkerndem Fatalismus angesiedelt zu sein.

"Damit wir uns alle zum gleichen Zeitpunkt treffen können, um dann unseren Teil zum Gelingen des gemeinsamen Ideals beizutragen. Jeder hat seinen Platz"
Dieser Satz klingt schon sehr nach Kommunismus und ist daher meiner Meinung nach nicht wirklich angebracht, wenn es um Deutschland geht.

Die folgenden Bilder und Gedankenketten, die nach und nach die Unnötigkeit einer Wunschwelt erläutern, haben mir sehr gut gefallen. Besonders das Bild mit den Zahnrädern ist mMn gut gewählt.

Allerdings frage ich mich, wieso der Text nicht unter "Philosophisches" steht :confused:
Die Rahmenhandlung des Aufstehens ist zwar alltäglich, aber der Rest ist doch eher philosophisch als alltäglich, es sei denn natürlich, der Protagonist macht sich jeden Morgen von neuem dieselben Gedanken ;)

Gruß
Christoph

 

Der Text ist nicht wirklich an ein System gebunden. Zwar schreibe ich über mich (in Deutschland), es könnte aber auch ein anderes Land und sogar ein anderes System sein. Vielmehr geht es um die innere Beschäftigung mit dem eigenen Standpunkt zu den unliebsamen Hürden des Alltags - aufstehn, muß das sein? Duschen, muß das sein? - muß das alles sein? - warum muß das eigentlich sein, was ist der Zweck?

Um der Gefahr des allzu Philosophischen zu entgehen, kehre ich deswegen immer wieder zu prollig-naiven Gedanken zurück ("...will lieber jagen und sammeln und poppen"). Damit entgehe ich dem Anspruch, auf alles eine Lösung parat haben zu müssen.

Mehr eine Art innerer Monolog, der sich aber mit archetypischen Problemstellungen befaßt. Ich glaube nämlich, daß sich jeder so oder ähnlich mal Gedanken zu dem Warum gemacht hat.

Kurz, bevor er die Krawatte zugeknöpft hat und zur Arbeit gefahren ist, dann eben doch...

Würde der Text mit Revolution enden, hätte ich ihn unter "Philosophisches" gepostet, so aber landet er da, wo wir alle jeden Morgen landen: im Alltag.

Danke für die Kritik,

Borna

 

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