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Aufregung am Loch
Ich bin zwar ganz allein und auf mich selbst angewiesen, aber ich habe zwei treue Gefährten, auf die ich mich verlassen kann. Derzeit liegen sie unter diesem wuchtigen Schreibtisch aus Mahagoni. Ich habe ihnen ein weiches Lager bereitet – eines von vielen in diesem Haus – und sie ruhen dort und wärmen meine Füße. Es war ein aufregender Tag.
Während ich schreibe, kann ich in den Garten sehen. Er ist ein wenig verwildert, denn ich habe kein Händchen für Pflanzen. Hinter dem Garten erstrecken sich einige Felder, die an einem Waldrand enden. Ich kenne die Gegend wie meine Westentasche. Ich könnte die Augen schließen und wüsste doch genau, wie es hier aussieht. Diesen Ausblick sehe ich seit Jahrzehnten. Wie oft bin ich den kleinen Pfad über die Wiesen zum Wald gelaufen, ja, ich tu es noch täglich.
Meine Frau Emmi ist im Sommer letzten Jahres gestorben. Wir waren fast vierzig Jahre verheiratet. Das kommt heute selten vor, scheint mir. Die jungen Leute wissen doch gar nicht, was eine Beziehung ausmacht. Doch das kümmert mich nicht. Ich habe mein Leben fast gelebt und solange es meinen Hunden und mir gesundheitlich gut geht, möchte ich mich nicht beklagen.
Draußen scheint noch immer die Sonne. Ein Wetter, gemacht für einen Kaiser. Ich bin mit meinen zwei Rabauken in den Wald gegangen, denn sie müssen täglich an die frische Luft. Auch mir gefallen unsere Spaziergänge sehr. Heute allerdings gab es einen unerfreulichen Zwischenfall.
Ich lasse Nox und Peet gerne frei laufen. Auf meine alten Tage bin ich zu langsam geworden, als dass ich ihnen an der Leine die Bewegung zukommen lassen könnte, die sie brauchen. Sie hören aufs Wort, ein Pfiff und sie kommen zurück.
Nox ist ein Spitz, um genau zu sein, ein Finnen-Spitz. Er misst ungefähr einen halben Meter Schulterhöhe. Sein Fell ist rotbraun, er sieht ein bisschen so aus wie ein Fuchs. Eigentlich wollte ich ihn „Fox“ nennen, aber weil er als kleiner Welpe die Nacht zum Tag gemacht hatte, wurde bald Nox daraus. Seine Leidenschaft gilt Tennisbällen. Wenn er einen sieht, ist er nicht mehr zu halten.
Peet ist der ruhigere von beiden. Mag sein, dass das an seiner Größe liegt. Er ist ein grau-schwarzer Riesenschnauzer, gut zwanzig Zentimeter größer als der Nox. Obwohl er sich weniger bewegt als Nox, frisst er bestimmt die doppelten Portionen. Ich muss immer ein wenig aufpassen, dass Peet nicht an Nox´ Napf geht. Ich achte auf sein Gewicht, genauso, wie ich auf meines achten muss. In letzter Zeit bin ich den kulinarischen Genüssen, insbesondere der Vollmilch-Schokolade, erlegen.
Bewegung hilft und ist gut für die Gesundheit. Nox und Peet lieben den Wald, sie lieben es, dort frei herumzutoben. In diesem Waldstück ist das übrigens gestattet, solange keine Schonzeit für Wild herrscht. Ich habe manchmal Schwierigkeiten, den Trampelpfad in den Wald – ein schmaler Weg, teils ausgehöhlt von Wasser, matschig und links und rechts dornige Zweige, die mir die Sicht versperren – zu beschreiten. Ein Spazierstock ist mir eine lohnende Hilfe. So waren Nox und Peet mir schon weit voraus, als ich endlich den befestigten Weg betrat, wo ich sie normalerweise zurück erwarte. Doch sie kamen nicht!
Dies war ein Moment absoluter Ungewissheit. Doch bevor der Schrecken sich meiner bemächtigte, pfiff ich, pfiff ich nochmals. Sie erschienen nicht. Kein Rascheln im Gebüsch, kein freudiges Bellen, kein Geräusch von knacksenden Zweigen, von Pfoten, die in meine Richtung liefen. Schon schwante mir Unheimliches, hatte ich nicht neulich noch von sogenannten Giftködern gelesen, die manch ein Gestörter in Großstädten verteilt? Bisher hatte ich mich sicher gefühlt, da es solcherlei Vorfälle auf dem Land doch nur selten gäbe, - da hörte ich endlich ein Fiepen in unmittelbarer Nähe, ein lautes Kläffen und wildes Scharren.
„Nox!“, rief ich. „Peet!“
Sie waren nicht weit und hatten mich sicher gehört. Aber sie wollten nicht kommen, vielleicht konnten sie nicht kommen. Ich war allarmiert. Farnkraut und stachelige Büsche giftiger Beeren, dazu ein weicher Waldboden. Nur langsam kam ich vorwärts. Die Dornen stachen mir in die Hände, eine etwas tiefere Wunde zog ich mir zu, als ich einen Zweig wegdrückte, dessen Stachel mir ein Teil des Nagelbettes am Daumen einriss. Eine Kleinigkeit, aber schmerzhaft. Ich habe sie später mit Jod versorgt, nur ein Pflaster fand ich nicht. Mein Spazierstock half kaum, er fand keinen Halt auf dem modrigen Grund. Nox und Peet veranstalteten mittlerweile ein Gebell, dass meine Ohren davon klangen. Doch wer bellt, beruhigte ich mich, dem kann es nicht so schlecht gehen.
Dann sah ich sie. Nox war über und über mit Erde bedeckt, dass sein rotbraunes Fell kaum mehr zu erkennen war. Peet hingegen scharrte wir verrückt mit den Vorderpfoten an einem kleinen Erdwall. Beide kläfften und knurrten, was das Zeug hielt. Sie erschienen mir völlig außer sich, so als ob der Wall sie hypnotisiert und in wilde Dämonen verwandelt hätte. Stumm schritt ich noch ein paar Längen voran und erkannte den Grund für ihr Verhalten.
Das, was Peet so emsig bearbeitete und aus dem Nox allem Anschein nach gerade herausgekrochen war, erwies sich als etwa kopfgroßes Loch. Für einen Kaninchenbau war es zu groß. Für einen Fuchsbau zu klein. Auch war die Form eine besondere, fast nicht tierischen Ursprungs, doch mit Sicherheit natürlich. Oval, glatt, eingerahmt von den Wurzeln einer Pappel, die Peet mittlerweile schon blank gekratzt hatte. So wie es aussah, wollte auch er dort hinein, doch er war zu groß, er war einfach zu groß und die Pappel hielt das Loch eng umrahmt.
Nun wurde ich zornig. Wie konnte es sein, dass meine treuen Kameraden aufgrund dieser Begebenheit einfach ihre Befehle missachten? Löcher gab es im Wald wie Sand am Meer. Noch nie hatten sie sich so aufgeführt! Ja, selbst wenn ein Dachs, Fuchs oder Igel des Weges kam – sie wussten immer, wer ihr Herr war.
Ich bin kein Mann affektierter Entscheidungen. Daher überlegte ich, auch wenn dies im Bruchteil weniger Sekunden geschah, unter dem Gebell und Gekratze meiner beiden Schützlinge. Etwas war anders an diesem Loch, ich hatte es bereits erwähnt. Und so kam ich recht schnell zu dem Gedanken, dass es notwendig wäre, Nox und Peet wieder zur Besinnung – und von hier fort zu führen.
So machte ich es also. Ich nahm sie an die Leine, sie wehrten sich kaum, und zog sie unter leichter Leitung zurück auf den Waldweg. Sie waren etwas erschöpft, zeigten sich aber folgsam. Unser Spaziergang verlief ohne weitere Zwischenfälle.
Daheim fraßen und tranken sie wie üblich, dann legten sie sich stracks auf ihre Matten im Wohnzimmer, wo sie ihren Mittagsschlaf zu halten pflegen. Ich beobachtete sie noch eine Weile, um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung mit ihnen ist. Schon nach kurzer Zeit brummte Peet und Nox entwichen feine Töne. Sie schliefen tief und fest, Gott weiß, wovon sie träumten.
Auch für mich war der Zeitpunkt der mittäglichen Ruhe gekommen, doch ich war zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Es ist nicht so, dass ich mich leicht beunruhige, doch die Vorfälle des heutigen Tages hatten mich innerlich aufgeregt. So setzte ich mich in meinen Schaukelstuhl, betrachtete den Garten und lauschte dem Ticken der Standuhr. Es schlug halb eins, doch der Schlaf wollte nicht kommen.
Ein Stückchen Schokolade, dachte ich, das wäre jetzt zu gebrauchen. Doch in der Küche war mein Vorrat aufgegessen und ich hatte bewusst entschieden, keinen mehr anzulegen. Also musste ich, wohl oder übel, den kurzen Weg zum Einkaufsladen auf mich nehmen. Nox und Peet schlummerten, ich öffnete die Terrassentür einen Spalt, damit sie, sollten sie aufwachen bevor ich wiederkäme, ihrem Bewegungsdrang folgen konnten.
Ich bekleidete mich mit Hut, Mantel und Spazierstock und verließ mein Haus. Der Weg zum Laden ist für mich noch gut zu bewältigen. Die Straßen sind befestigt, es gibt einen sicheren Gehweg und einen Zebrastreifen. Nach einer Viertelstunde kam ich dort an. Es ist einer dieser neumodischen Supermärkte, wo es alles zu kaufen gibt. Glücklicherweise befindet sich das Regal mit den Süßwaren recht weit vorne im Markt. Ich nahm also eine Tafel von meiner Lieblingsschokolade. Kaum jemand war mit mir im Laden, außer zwei junge Herren, die sich ebenfalls am besagten Regal bedienten. Ich ging zur Kasse. Sie folgten mir.
Dort angekommen, die Kassiererin hatte wieder einmal Probleme mit der Kasse und der Einkaufsvorgang verzögerte sich, wurde ich Zeuge ihrer Unterredung. Ich möchte versuchen, sie hier möglichst getreu wiederzugeben, auch wenn mir die Worte kaum die Tinte wert sind.
"Ey, warst du gestern noch bei deiner Freundin?"
"Klar, ich hab´s ihr richtig gut besorgt."
"Echt jetzt? Ich glaub, ich geh später noch zu Renate."
"Renate, wie ist die so?"
"Ganz gut. Die hat ein ziemlich enges Loch. Also nicht so ausgeleiert."
"Ja, bei meiner ist das auch so. Die sieht auch voll gut aus. Richtig geile Titten und wenn ich in sie reingehe, dann ..."
In diesem Moment, ich kann nicht sagen, was für Gefühle sich meiner bemächtigten, doch musste ich an Emmi denken, drehte ich mich um und sagte, wohl in einer ruhigen, langsamen Sprechweise:
"Ich kann noch sehr gut hören."
Ein kurzer Augenblick. Ihre Gesichter wiesen sie noch als Jungen aus. Der eine war groß und dunkelhaarig, hatte einen dichten Bart. Er trug einen Halsschmuck mit Nieten und hässliche, riesige Ohrringe, die seine Ohrläppchen fast bist auf die Schulter dehnten. Der andere, soweit ich mich erinnere, war rothaarig, dünn und hatte ein spitzes Gesicht. Seine Kleidung war unsauber und er machte insgesamt einen ungepflegten Eindruck.
Um ehrlich zu sein, ich bekam es mit der Angst zu tun. Sie wirkten nicht so, als ob sie einer vernünftigen Rede, gar einer Bitte, zugänglich waren. In früheren Jahren hätte ich ihnen wahrscheinlich die Ohren lang gezogen, wobei es solche Redeweisen zu meiner Zeit nie gegeben hätte, zumindest nicht in aller Öffentlichkeit.
Trotzdem hielt ich ihren Blicken stand, obwohl sie auf mich herabschauten. Beide waren recht groß. Ihre Reaktion kam prompt. Und sie überraschte mich.
"Ey, ich hab das gar nicht gesagt“, sagte der Dunkle, sah erst mich und dann seinen Kameraden an. "Ey, ich geh nie wieder mit dir einkaufen", sagte der Rothaarige und klapste dem anderen auf die Schulter. „Du kannst dich echt nicht benehmen!“
"Nein, du!"
So schoben sie sich gegenseitig die Schuld über ihre unangemessene Ausdrucksweise zu, während ich mich nachdenklich zur Kassiererin drehte. Eines aber sagte ich noch, denn beide wirkten ehrlich betroffen. "Ihr könnt ja machen, was ihr wollt, aber ich will das nicht hören."
Hinter mir folgte betretenes Schweigen.
"Sammeln sie die Herzen?"
Das fragt die Kassiererin mich jedes Mal. Es handelt sich dabei um Treuepunkte für den Einkauf. Meine frühere Antwort darauf war: "Nein, wieso, ich hab doch eins." Das war, als ich noch mit Emmi einkaufen ging. Dann hat sie immer gelacht und mich gedrückt. Das ist vorbei. Doch ich erinnerte mich daran, in diesem Moment.
Und heute sagte ich: "Nein ... äh, doch, ja." Sie gibt mir zwei Herzen, mit einem Augenzwinkern. Ich ziehe meine Hutkrempe zum Gruße, bezahle und packe die Schokolade in meinen Einkaufsbeutel.
Dabei fällt mein Blick auf den Einkauf der beiden jungen Herren. Sie kaufen sich eine Tüte Chips. Die günstigsten von allen. Ich weiß nicht, was dann in mich gefahren ist, aber ich dachte, glaube ich, so etwas wie „Damit kann man keine Frau glücklich machen“, zückte noch einmal mein Portemonnaie, nahm einen der größeren Scheine hervor, nahm die beiden Herzen und gab alles den jungen Männern, mit ein paar Worten über die Liebe und dem, was sie ausmacht, dass sie ihren Frauen mal etwas ordentliches kochen sollten, ein Geschenk machen und dergleichen.
Sie starrten mich ungläubig an. Regungslos verharrten wir ein paar Sekunden, selbst ich, verblüfft von meiner Reaktion. Auch die Kassiererin hielt inne, zog die Chipstüte nicht über das Band.
Dann sammelte ich mich, schneller als die anderen, zog noch einmal meinen Hut zum Gruße (diesmal nahm ich ihn ganz ab, ich glaube, ich verbeugte mich sogar leicht) und wünschte den jungen Herrschaften noch einen schönen Tag.
"Wir Ihnen auch“, stammelten sie.
Und als ich zurückkehrte, langsamen Schrittes, da fühlte ich mich ganz behaglich.