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Aufgewacht
Hat er mir zugezwinkert? Ich kneif die Augen zusammen und will mich aufrichten, es klappt nicht. Alles schmerzt, ich japse nach Luft, mein Hals fühlt sich seltsam an. Etwas steckt da drin, ich muss würgen. Der Versuch, es herauszuziehen scheitert, ich kann meine Finger nicht bewegen, den Arm nicht heben. Diese Schmerzen. Was ist los mit mir?
Wieder fällt mein Blick auf den Plüschbären neben meinem Kopfkissen. Nein, er zwinkert nicht. Irgendwo dahinter stehen welke Blumen auf dem Nachtkästchen. Ich höre Piepstöne und übergebe mich.
Ein surrendes Geräusch, mein Oberkörper hebt sich, neben mir steht jemand.
„Das gibt’s doch nicht. Willkommen zurück im Leben. Da wird sich Ihr Bruder aber freuen.“
Sie trägt einen weißen Kittel. Die Krankenschwester lacht und erlöst mich von der Magensonde. Ich will etwas sagen, doch aus meinem schleimverklebten Hals kommt nur ein Krächzen.
„Ich hole gleich den Arzt. Ihr Bruder wohnt in Regensburg, stimmt’s? Heißt er nicht Wolfgang? Den rufen wir gleich an. Ich bin sofort zurück.“
Die Schwester verlässt mein Zimmer. Es ist dunkel, aus dem Flur dringt grelles Licht herein, ich schaue mich um. Endlich schaffe ich es, meinen Arm zu bewegen. Ich drücke die Decke zur Seite und sehe, dass meine Beine nicht mehr da sind.
*
Ein Ruck lässt mich zusammenzucken. Ich muss wohl eingenickt sein. Wolfgang grinst.
„Das kenn‘ ich auch, dieses Zucken am ganzen Körper, wenn man gerade dabei ist, einzuschlafen.“
Ich reibe mir zum Munterwerden mit der flachen Hand über das Gesicht. „Mann, was habe ich für einen Blödsinn geträumt. Ich lag im Krankenhaus, bin aus einem Koma erwacht und beide Beine haben mir gefehlt.“
Wolfgang nickt. „In Träumen werden Fiktion und Erlebtes gerne miteinander vermischt.“
Geschickt wendet er seinen Rollstuhl und öffnet den Kühlschrank. „Auch ein Bier?“
„Nein danke, ich bin eh todmüde.“
„Nun ja, daran wird sich nichts ändern. So fängt es an. Du wirst sehen, ab jetzt geht es ganz schnell.“
„Was geht schnell?“
„Na, das Gift. In einer halben Stunde wird mein Bruderherz aufgehört haben zu schlagen.“
Ich sehe ihn mit aufgerissenen Augen an. Ich will aufstehen, bin aber wie gelähmt. Oh, ich bin gelähmt.
„Was hast du…?“
Wolfgang rollt auf mich zu. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich so davon kommen lasse. Wer hat denn am Steuer gesessen? Wer hat unsere Mutter auf dem Gewissen? Und meine Beine.“
Ich will noch etwas antworten, doch kein Ton kommt aus meinem Mund. Mein Kopf neigt sich zur Seite, ich spüre, wie warmer Speichel aus dem Mundwinkel läuft. Mein Herz klopft. Noch.
*
Wolfgang legt kopfschüttelnd den Stapel Blätter auf den Tisch. „Entschuldige bitte, aber das ist doch völliger Blödsinn.“
Mein Blick verharrt trotzig auf dem Rechner. „War mir klar, dass dir das nicht gefällt. Na und? Ist meine Geschichte.“
„Du kannst dich doch nicht in der Ich-Form selbst sterben lassen. Und dann noch dieser seltsame Traum mit dem Koma vor der abstrusen Schlussszene mit dem Gift. Vielen Dank auch, dass ich dich umbringe.“
Jetzt sehe ich ihn zornig an. „Du hättest es ja auch beinahe geschafft. Wenn du nicht gesoffen hättest, wären wir nicht gegen den Baum gekracht.“
Wolfgang reagiert immer noch verärgert auf diese Vorwürfe, obwohl er sich inzwischen daran gewöhnt haben müsste. „Mit dieser Giftgeschichte unterstellst du mir, dass ich absichtlich gegen den Baum gefahren bin. Das war aber keine Absicht. Hättest du schon deinen Führerschein gemacht, hätte ich nicht fahren müssen. Und warum hast du unsere Mutter da reingeschrieben? Die war doch gar nicht dabei.“
„Du hast das Lenkrad so herumgerissen, dass es die Beifahrerseite erwischt hat. Also mich. Dass unsere Mutter später an Krebs gestorben ist, hat auch damit zu tun.“
Wolfgang stöhnt auf.
„Quatsch. Ich kann’s nicht mehr hören. Mag sein, dass dir deine Therapeutin geraten hat, dir die Seele gesund zu schreiben. Aber bitte bleib wenigstens halbwegs bei den Fakten.“
Ich bin kurz davor, meine Beinprothesen nach ihm zu werfen. Doch Wolfgang verlässt eilig die Küche, nicht ohne die Türe zuzuschlagen. Ich klappe meinen Rechner zu und sehe zum Fenster hinaus. Der erste Herbststurm ist etwas abgeklungen.
*
„Können Sie mich verstehen?“
„Was ist passiert?“
„Sie waren bewusstlos.“
„Warum?“
„Sie hatten einen Unfall. Mit dem Auto.“
„Wo bin ich hier?“
„Im Krankenwagen. Wir sind gleich in der Klinik. Sie haben großes Glück gehabt.“
„Mein Bruder?“
„Er ... lebt.“
„Wo ist er?“
„Er wird mit dem Hubschrauber geflogen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“
In meiner linken Hand steckt ein kleiner Schlauch. Mit der rechten fühle ich unter der Papierdecke nach meinen Beinen. Ich kann sie spüren. Ich kann sie bewegen. Irgend etwas sagt mir, dass das nicht so bleiben wird.