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Thema des Monats Aufgewacht

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11.04.2005
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Aufgewacht

Hat er mir zugezwinkert? Ich kneif die Augen zusammen und will mich aufrichten, es klappt nicht. Alles schmerzt, ich japse nach Luft, mein Hals fühlt sich seltsam an. Etwas steckt da drin, ich muss würgen. Der Versuch, es herauszuziehen scheitert, ich kann meine Finger nicht bewegen, den Arm nicht heben. Diese Schmerzen. Was ist los mit mir?
Wieder fällt mein Blick auf den Plüschbären neben meinem Kopfkissen. Nein, er zwinkert nicht. Irgendwo dahinter stehen welke Blumen auf dem Nachtkästchen. Ich höre Piepstöne und übergebe mich.
Ein surrendes Geräusch, mein Oberkörper hebt sich, neben mir steht jemand.
„Das gibt’s doch nicht. Willkommen zurück im Leben. Da wird sich Ihr Bruder aber freuen.“
Sie trägt einen weißen Kittel. Die Krankenschwester lacht und erlöst mich von der Magensonde. Ich will etwas sagen, doch aus meinem schleimverklebten Hals kommt nur ein Krächzen.
„Ich hole gleich den Arzt. Ihr Bruder wohnt in Regensburg, stimmt’s? Heißt er nicht Wolfgang? Den rufen wir gleich an. Ich bin sofort zurück.“
Die Schwester verlässt mein Zimmer. Es ist dunkel, aus dem Flur dringt grelles Licht herein, ich schaue mich um. Endlich schaffe ich es, meinen Arm zu bewegen. Ich drücke die Decke zur Seite und sehe, dass meine Beine nicht mehr da sind.

*

Ein Ruck lässt mich zusammenzucken. Ich muss wohl eingenickt sein. Wolfgang grinst.
„Das kenn‘ ich auch, dieses Zucken am ganzen Körper, wenn man gerade dabei ist, einzuschlafen.“
Ich reibe mir zum Munterwerden mit der flachen Hand über das Gesicht. „Mann, was habe ich für einen Blödsinn geträumt. Ich lag im Krankenhaus, bin aus einem Koma erwacht und beide Beine haben mir gefehlt.“
Wolfgang nickt. „In Träumen werden Fiktion und Erlebtes gerne miteinander vermischt.“
Geschickt wendet er seinen Rollstuhl und öffnet den Kühlschrank. „Auch ein Bier?“
„Nein danke, ich bin eh todmüde.“
„Nun ja, daran wird sich nichts ändern. So fängt es an. Du wirst sehen, ab jetzt geht es ganz schnell.“
„Was geht schnell?“
„Na, das Gift. In einer halben Stunde wird mein Bruderherz aufgehört haben zu schlagen.“
Ich sehe ihn mit aufgerissenen Augen an. Ich will aufstehen, bin aber wie gelähmt. Oh, ich bin gelähmt.
„Was hast du…?“
Wolfgang rollt auf mich zu. „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dich so davon kommen lasse. Wer hat denn am Steuer gesessen? Wer hat unsere Mutter auf dem Gewissen? Und meine Beine.“
Ich will noch etwas antworten, doch kein Ton kommt aus meinem Mund. Mein Kopf neigt sich zur Seite, ich spüre, wie warmer Speichel aus dem Mundwinkel läuft. Mein Herz klopft. Noch.

*

Wolfgang legt kopfschüttelnd den Stapel Blätter auf den Tisch. „Entschuldige bitte, aber das ist doch völliger Blödsinn.“
Mein Blick verharrt trotzig auf dem Rechner. „War mir klar, dass dir das nicht gefällt. Na und? Ist meine Geschichte.“
„Du kannst dich doch nicht in der Ich-Form selbst sterben lassen. Und dann noch dieser seltsame Traum mit dem Koma vor der abstrusen Schlussszene mit dem Gift. Vielen Dank auch, dass ich dich umbringe.“
Jetzt sehe ich ihn zornig an. „Du hättest es ja auch beinahe geschafft. Wenn du nicht gesoffen hättest, wären wir nicht gegen den Baum gekracht.“
Wolfgang reagiert immer noch verärgert auf diese Vorwürfe, obwohl er sich inzwischen daran gewöhnt haben müsste. „Mit dieser Giftgeschichte unterstellst du mir, dass ich absichtlich gegen den Baum gefahren bin. Das war aber keine Absicht. Hättest du schon deinen Führerschein gemacht, hätte ich nicht fahren müssen. Und warum hast du unsere Mutter da reingeschrieben? Die war doch gar nicht dabei.“
„Du hast das Lenkrad so herumgerissen, dass es die Beifahrerseite erwischt hat. Also mich. Dass unsere Mutter später an Krebs gestorben ist, hat auch damit zu tun.“
Wolfgang stöhnt auf.
„Quatsch. Ich kann’s nicht mehr hören. Mag sein, dass dir deine Therapeutin geraten hat, dir die Seele gesund zu schreiben. Aber bitte bleib wenigstens halbwegs bei den Fakten.“
Ich bin kurz davor, meine Beinprothesen nach ihm zu werfen. Doch Wolfgang verlässt eilig die Küche, nicht ohne die Türe zuzuschlagen. Ich klappe meinen Rechner zu und sehe zum Fenster hinaus. Der erste Herbststurm ist etwas abgeklungen.

*

„Können Sie mich verstehen?“
„Was ist passiert?“
„Sie waren bewusstlos.“
„Warum?“
„Sie hatten einen Unfall. Mit dem Auto.“
„Wo bin ich hier?“
„Im Krankenwagen. Wir sind gleich in der Klinik. Sie haben großes Glück gehabt.“
„Mein Bruder?“
„Er ... lebt.“
„Wo ist er?“
„Er wird mit dem Hubschrauber geflogen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.“
In meiner linken Hand steckt ein kleiner Schlauch. Mit der rechten fühle ich unter der Papierdecke nach meinen Beinen. Ich kann sie spüren. Ich kann sie bewegen. Irgend etwas sagt mir, dass das nicht so bleiben wird.

 
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Ömmm. Ich habe vergessen, "Thema des Monats" oben rein zu schreiben. Dürfte ich einen geneigten Mod bitten...? Ich danke herzlich.

Hui, das ging ja schnell. Nochmals danke.

 

Hallo nictita

Schön wieder mal eine Geschichte von dir zu lesen.

Kurz & schmerzhaft, dieses Kriterium erfüllt sie vollumfänglich, wie ich sehen konnte. Die Idee scheint mir sehr gelungen, um es in diesem Format umzusetzen, was bei kurzen Geschichten nicht immer einfach ist.

Inhaltlich hebt es sich von üblichen Horrorszenen ab, der Schrecken multipliziert sich an einem Autounfall. An sich ist dies ein bedauerliches Geschehen, wie es sich im Alltag ereignen könnte. Da fragte ich mich, wird es dem Genre gerecht, kam dann aber zur Konklusion, dass dem so ist. Es ist ja nicht allein das was passierte, vielmehr dasjenige, welches es in der Fantasie des Protagonisten auslöste. Er verarbeitet sein Entsetzen in einer noch schrecklicheren Version als Geschichte. Erhebt nicht nur eine klare Schuldzuweisung, sondern erweitert den Kreis der Opfer noch, indem er seine Mutter die an Krebs starb, einbezog als Schuld seines Bruders.

Mit den vier Episoden hast du Eckpunkte gesetzt, die im ersten Moment verwirren, den Leser bei jedem zum Umdenken zwingen, besonders beim Letzten, sich letztlich aber gut ineinanderfügen. Ich setze voraus, die Letzte auch richtig gedeutet zu haben und es Wolfgang ist, der sich an die Beine fasst.

Wenn auch mein Erschrecken von gedämpfter Natur war, habe ich es gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo nictita,

interessantes Teil. Schon ein Rätsel; da liest man sich durch irreale Episoden und versucht dahinterzukommen, was wirklich passiert ist. Ich finde das in der Form gelungen, auch wegen der Länge: wenn es länger wäre, würde es ermüden. So aber ist das gut.
Ich habe eine Weile geknobelt - so richtig rund finde ich's nicht. Wenn ich's richtig sehe, hast du's immer abwechselnd angeordnet: Erst habe "ich" keine Beine mehr, dann Wolfgang, dann wieder "ich", und, sofern die letzte Episode aus Wolfgangs Sicht geschildert wird, wieder "ich". Also habe "ich" bei einem Autounfall, bei dem Wolfgang der Fahrer war, die Beine verloren. Okay.
Bei zwei Sachen bin ich hängengeblieben:

In einer halben Stunde wird mein Bruderherz aufgehört haben zu schlagen.“
Für mich heißt das mein eigenes Herz. Wenn du das Herz des Bruders meinst, kannst du nicht "mein" sagen, denn es ist nicht seins.

Das zweite ist der letzte Satz. Der scheint auf die vorangegangenen Episoden Bezug zu nehmen. Das erschwert einem, darauf zu kommen, dass die Perspektive diesmal eine andere ist. Und wie kann Wolfgang das außerdem denken, wenn er die Episoden gar nicht kennt? (Die haben ja noch nicht stattgefunden, bzw. nur im Kopf des Bruders..)
Oder bin ich auf dem Holzweg?

Also ich find's für die dahinterstehende Geschichte noch zu verwirrend. Die Sache mit der Mutter hat auch keine Funktion außer zu zeigen, hier, Fiktion und Reales vermischt sich..

Viele Grüße,
Maeuser

P.S.:

dass ich dich so davon kommen lasse.
davonkommen

 

Hallo nictita

Hm, ich bin jetzt auch ein bisschen verwirrt. Das ist so ne Geschichte mit mehreren Ebenen, in der mit jedem Abschnitt in eine weitere Meta-Ebene gesprungen wird. Ein Traum (erster Abschnitt) in einer fiktiven Geschichte (zweiter Abschnitt) in einer Vorstellung (?) (dritter Abschnitt) in der Realität innerhalb der Geschichte (vierter Abschnitt). Beim dritten Abschnitt bin ich schon nicht ganz sicher, aber das ist wohl auch eher eine Art Traum, eine Einbildung nach dem Unfall, der sich im vierten Abschnitt ereignet.

Für mich ist das ein rein "technischer" Text, der ausser diesen Sprüngen in andere Ebenen nicht viel bietet. In diesem begrenzten Rahmen funktioniert er dann auch, klar ist es mal nett sowas zu lesen und kurz zu grübeln - aber dann geht man halt auch schnell drüber und hat es wieder vergessen.

Elemente wie Figurencharakterisierung oder ein Spannungsbogen, die ich in dieser Rubrik erwarte, fehlen vollkommen. Zwar hast du am Ende eines jeden Abschnitts einen kleinen Cliffhanger eingebaut, aber durch die Kürze des Textes und die eingeschränkte Handlung können die sich nicht so recht entfalten.

Ich empfand den Teil mit der Mutter auch irgendwie als Fremdkörper:

Dass unsere Mutter später an Krebs gestorben ist, hat auch damit zu tun.“

Das ist eine reine Information für den Leser und wirkt im Dialog fehl am Platz.

Viel mehr kann ich zum Text leider nicht sagen, für mich ist das halt mehr ein Experiment, mal eine nette Spielerei, aber wenn ich einen Text in dieser Rubrik anklicke, erwarte ich etwas mehr.

Grüsse,
Schwups

 

Hallo nictita

Eine Woche vor Beginn der TdS-Abstimmung gibts noch was von mir dazu, obwohl du anscheinend nicht mehr so wahnsinnig interessiert bist an deinem Text.
(Darfst mich gerne Lügen strafen ;) )

Ich siedle die kleine Unfall-Episode zwischen ewig schläft das Murmeltier und Inception an, aber nur rein vom Empfinden der (Tag-)Traum-Wiederholungen und Traum im Traum Prämisse.
Nach den ersten beiden Abschnitten empfand ich ein gewisses Schema, wie dein Prot nach dem jeweilig kurzen aber schmerzhaften Schmerz (keine Beine, Giftkrämpfe) jeweils in die nächste Episode katapultiert wird. (Oder aus verschiedenen Traumebenen zurück in die Realität aufsteigt.)

Der dritte Abschnitt allerdings präsentiert sich dann eher als Auflösung, nach dem mich der vierte dann etwas ratlos zurücklässt. Wer spricht? Wolfgang oder dessen Bruder, da bin ich mir nicht sicher, wer denn nun im Krankenwagen liegt, auch der Vorahnung, dass er die Beine bald nicht mehr spüren wird, kann ich leider nicht folgen.

Fazit: Schöne Idee, kurz und knackig umgesetzt, aber meiner Meinung nach ohne richtig schmerzhaften Höhepunkt, bzw. Schlussakkord.

Gruss dot

 

Hallo nictita,

Das ist wirklich ein ganz schönes Verwirrspiel! Die Geschichte lebt mehr von den überraschenden Wendungen als von Handlung oder Charakteren, aber bei einem so kurzen Text ist das für mich in Ordnung, ich habe sie gern gelesen.
Der "Überraschungseffekt" wird allerdings von Absatz zu Absatz schwächer, weil man zunehmend darauf eingestellt ist, dass es wieder eine Wendung geben wird. Also am Schluss vom ersten Absatz habe ich noch richtig mitgelitten, als er feststellt, dass ihm die Beine fehlen, aber je öfter ich gemerkt habe, dass alles anders ist als gedacht, desto weniger hat es mich emotional mitgenommen.
Den vierten Absatz finde ich dann nur noch verwirrend. Ähnlich wie dotslash kann ich gar nicht mehr einordnen, wessen Perspektive das ist. Ehrlich gesagt, ich würde diesen letzten Absatz streichen.

Ein paar Kleinigkeiten:

Ich höre Piepstöne und übergebe mich.
Vielleicht besser: und will mich übergeben? Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher, ob da mit einer Magensonde nicht Erstickungsgefahr besteht, und es wundert mich, dass die Krankenschwester auf das Übergeben gar nicht reagiert (die lässt ihn in der Kotze liegen, um telefonieren zu gehen?).

„Das kenn‘ ich auch, dieses Zucken am ganzen Körper, wenn man gerade dabei ist, einzuschlafen.“
Warum einschlafen? Ist er nicht gerade beim Aufwachen?

Du kannst dich doch nicht in der Ich-Form selbst sterben lassen
Das sage ich den Leuten die das machen auch immer! :lol:

Dass unsere Mutter später an Krebs gestorben ist, hat auch damit zu tun.“
Da muss ich mich den Vorrednern auch anschließen, das wirkt wie ein Fremdkörper in der Geschichte. Wenn die Mutter sich umgebracht hätte oder Alkoholikerin geworden wäre, dann könnte ich den Zusammenhang noch eher sehen. Aber ich glaube du könntest die Mutter auch ganz außen vor lassen, der Geschichte schadet es bestimmt nicht, wenn es nur um die beiden Brüder geht.

Grüße von Perdita

 

Zunächst mal danke ich Euch allen für Eure Gedanken und Kommentare. Ich hätte gerne früher geantwortet, stecke nur bis zum Hals voll mit Arbeit. Wartet, bis ich mal Rentner bin ;-)

Einige Kritikpunkte sind gut bei mir angekommen, ich grüble ab und zu an der Umsetzung. Ich dachte, nun lasse ich den Text mal so, bis die Abstimmung vorüber ist. Schlechtestenfalls ist der dritte Platz drin, was sich in meiner Vita dennoch ganz hervorragend ausnehmen wird :-)

Richtig, es ist kein blanker Horror, der laut Rubrikbeschreibung aber auch nicht immer sein muss, da haben wir andere AutorInnen hier, die es gerne richtig krachen lassen...

Kleine Auflösung: Der letzte Absatz ist unverzichtbar, weil hier die einzige "reale" Handlung passiert. Alles was vorher steht, ist fiktiv. Das sollte durch den Wechsel der erlittenen Pein etwas spielerisch von statten gehen. Ist mir aber wohl nicht so ganz gelungen, mhm?

Ja, die Mutter werd' ich wohl rausschmeißen...demnächst...

Danke und Grüße
Euer Nic

 

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