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Aufgelesen
Sie hat mich irgendwo aufgelesen, wie man eine halbverwelkte Blüte aufliest um sie für ein paar Augenblicke dabei zu beobachten, wie die Blütenblätter… wie auch immer.
Wahrscheinlich war es an einem Bahnhof. Ja, der Bahnhof ist ein sehr wahrscheinlicher Ort für mich um aufgelesen worden zu sein. Ich saß also auf den Stufen, neben dem Geländer, dort wo mich am wenigsten Füße streifen würden, auf die Art und Weise, dass ich meinen Kopf gerade hoch genug heben konnte um die Titten sehen zu können, ohne die Gesichter beachten zu müssen. Ihre Jeans –ich hätte schwören mögen, dass diese Hose älter war als ich selbst- saß eng auf den Hüften und ließ nach oben gut zwei Handbreit Haut frei, bis wieder Stoff anfing. Dunkles Haar, nein, ein dunkler Hauch zog sich bis hinauf zu ihrem Bauchnabel und brachte automatisch den Wunsch auf der Fährte bis ans an’s andere Ende zu folgen. Ich hob den Kopf, um ihre Augen sehen zu können, während sie ohne mich zu beachten an mir vorbeizog. Mandelaugen. Ich stand auf, folgte ihr. Wäre sie in den nächsten Zug nach Prag gestiegen, ich wäre ihr gefolgt. Nein. Ich wäre den Gleisen bis zur Stadtgrenze gefolgt, um mich dann in ein Wärterhäuschen mit zerbrochenen Scheiben und vollgesprayten Wänden zu setzen, voller verbeulter Bierdosen und schmutziger Kondome. Sonnenuntergang. Nacht. Ein verregneter Heimweg und eine Grippe, die mich für zwei Wochen davon abhielt solche Dummheiten zu begehen, die noch nicht einmal romantisch waren.
Sie betrat den Bahnhofsbuchladen, schlängelte sich an den wartenden und lesenden Leuten vorbei zum Abschnitt ‚Internationale Presse’. Die Vorstellung vom Gang zum Wärterhäuschen und zurück zu meiner Wohnung endete ohne dass ich etwas gehabt hätte, um sie zu ersetzen. Ich schwitzte. Schwitzende Körper drängten sich an mir vorbei. Es fühlte sich so an als, ob sie durch mich hindurch… plötzlich blickte sie für einen Sekundenbruchteil von ihrer Zeitschrift auf und sah mich an. Ein Hip-Hopper mit einem Skateboardmagazin in seiner Hand rammte mich. Danach ein Geschäftsmann mit der FAZ unter dem Arm. Ich ließ mich hinaustreiben, bereit die Gleise entlangzugehen um mit einem Stein ein weiteres Fenster am Wärterhäuschen einzuwerfen. „Was bedeutet ‚to glimpse’?", fragte da eine Stimme neben mir. Die zwei Sekunden, die es dauerte diese Frage auszusprechen holten mich nicht nur vom geschändeten Wärterhäuschen zurück, sondern schickten mich auch auf eine Reise zum Gestade eines fremden Meeres.
„Sehen." Antwortete mein Mund, bevor mein Verstand auch nur halbwegs von dem Trip der zwei Sekunden zurück war. „Aus den Augenwinkeln sehen."
Meine Stimme klang fremd. Meine Stimme klang wie Salzwasser und die alten Dieselmotoren von Fischkuttern.
„Danke. Wohin fährst du?"
Ihr Haar war dunkel, ihre Augen waren dunkel, ihre Lippen schimmerten dunkel. Allein ein silberglänzendes Piercing teilte ihre Unterlippe und stritt mit dem weiß ihrer Augen. Ein Dreieck. Sie hatte die Zeitschrift nicht gekauft. War sie mir gefolgt?
„Äh… nirgendwohin… ich, äh… bin nur…"
Irgendwie schaffte ich es den Satz zu beenden und gleichzeitig ihr Bild mit voller Konzentration in mein Gedächtnis einzubrennen – Für später. Für das Wärterhäuschen.
„Du hast aber auch nicht wirklich was zu tun, oder?"
Sie lachte. Weiße Zähne schufen mit der im Kontrast dazu schwarzen, vervollständigt gedachten Linie ihrer Augenbrauen eine symmetrische konvexe Figur, deren Schwerpunkt mit dem Mittelpunkt ihrer Nase zusammenfallen musste. Auch nichts zu tun? Auch? Gefolgt?
Im Timbre meiner Stimme sprangen ein paar weitere Dieselmotoren an.
„Nein, nicht wirklich. Und du? Was machst du heute noch?"
Eine gestresst aussehende Mutter stürmte einen Kinderwagen vor sich herschiebend an uns vorbei und wir mussten ausweichen.
„Pff, weiß nich, `n’s Leo vielleich, oder in’s Belladonna.", antwortete sie schulterzuckend, während sie der Spur des Kinderwagens hinterher blickte. Das chaotische Muster der herumstehenden oder –gehenden Menschen hatte sich schneller wieder gebildet, als sie den Satz zuende sprechen konnte. Er konnte mit ihrer Antwort nichts anfangen. Er wusste dass Leo, lateinisch für Löwe ein Sternbild bezeichnen konnte und dass Belladonna, ein Nachtschattengewächs seine tödliche Wirkung durch Atropin erhält, aber er wusste nicht, ob seine Vermutung, dass es sich bei Leo und Belladonna auch um Kneipen handelte richtig war. So nickte er nur zustimmend. Das Schweigen dauerte ein paar Augenblicke zu lange.
„Wo gehst du denn Dienstagabends hin?" Es klang wie ein Vorwurf. Meine Clubs sind dir wohl nicht gut genug. Wenigstens fand ich meine Vermutung bestätigt. Aber was antworten?
„In’s Bett.", sagte ich und bereitete mich auf schallendes Gelächter vor, was aber nicht kam. Statt dessen nickte sie zustimmend, auf die schmutzigen Fliesen blickend.
Das Meer und die Dieselmotoren waren inzwischen in meinem Kopf und meinem Bauch angekommen und hatten die kreischenden Möwen vertrieben.
„Hast du schon was gegessen?", fragte ich.
„Mnö.", antwortete sie und strich sich eine Haarsträne hinter das Ohr zurück. Lektionen über Verhaltensforschung im Biologieunterricht schossen mir durch den Kopf.
„Kann ich dich zu was einladen?", war meine nächste logische Frage.
„Nnhmm." Sie lächelte, wandte ihren Kopf zur Seite, blickte nach draußen. Zum Essen einladen. Aber wohin? Ich war nur ein einziges Mal in der Stadt essen gewesen. Mit meinen Eltern. Das Gasthaus gab es inzwischen nicht mehr.
„Äh, irgendwelche Vorlieben?", fragte ich.
„Nö, aber wir können das Essen auch auslassen."
Sie kicherte und biss mich spielerisch in die Schulter.
„Was ist so lustig?", fragte ich, schob den Laptop zur Seite und drehte mich auf den Rücken. Sie hatte den Kopf in die Hand gestützt und grinste mich an.
„Das nimmt dir kein Mensch ab, es ist viel zu unglaubwürdig."
„Warum denn unglaubwürdig? Es ist doch fast genau so passiert."
Sie lachte laut auf.
„Ja, fast. Du Spinner. Mit dem Unterschied, dass du mich von Anfang an so lange belabert hast, bis ich freiwillig mitgekommen bin. Wie lang hab ich eigentlich geschlafen?"
Ich zuckte mit den Mundwinkeln und fuhr dann mit der Hand durch ihr weiches Haar.
„Ein Bisschen länger als ich gebraucht hab den Text zu schreiben. Machst du das immer so? Besonders höflich ist das ja nicht."
Sie grinste und rollte sich auf mich. Als sie auf meiner Brust lag blickte sie mir tief in die Augen, küsste mich kurz und antwortete dann:
„Nur wenn ich mich sicher fühle. Und natürlich wenn es gut war."
Ein langer Kuss.
„Mach das Ding da aus und lass uns da weitermachen, wo wir aufgehört haben."
Ich machte mir gar nicht erst die Mühe den Laptop herunterzufahren, sondern schob ihn einfach vom Bett.