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Aufbruch

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06.11.2015
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Aufbruch

Sie blinzelt vorsichtig. Schlägt die Augen auf.
Spürt ihre eigene Schläfrigkeit, die Wärme, spürt die ungeheure Schwere ihres Körpers, genießt das zähe Tropfen der Zeit, genießt die Lichtfunken, die durch das Fenster an die Zimmerdecke gestreut werden, über ihre schlanken braungebrannten Beine tanzen. Alles in ein warmes Licht hüllen.
So liegt sie, einig mit sich und der Welt. Denkt an ihn. Stellt sich vor wie er ein Stockwerk über ihr aufwacht, sich streckt, sich einen Kaffee kocht. Stellt sich vor wie er gähnt. Ein Lächeln huscht ihr über das Gesicht.

Vorsichtig schlägt sie die Decke zurück.
Ihre Füße berühren den glatten kühlen Boden. Sie schiebt das Fenster auf, blinzelt in die Sonne, spürt die klirrend kalte Luft, die Klarheit, die Kraft des neu aufbrechenden Tages.

Ewig - So scheint es. Ewig sei dieses Gefühl. So steht sie am Fenster, vergisst die Zeit und denkt an ihn. Er. Wechselmütig und flatterhaft, unentschlossen und hilflos wie ein junger Vogel. Und doch, auf eine bizarre widersprüchliche Art und Weise war er energisch und bestimmt, kraftvoll wie ein plötzlich einbrechendes Sommergewitter. Es gab Tage, an denen er warm und herzlich war, zart und liebevoll und doch gab es hin und wieder welche, an denen er sich zurückzog, einschloss in sich selbst, in seine eigene Welt, kalt und abweisend wurde.

Manchmal war es genau diese Art, die sie liebte, die sie zum jubilieren brachte an seinen guten Tagen. An seinen schlechten verzweifelte sie. Doch dies war der Pakt.

Sie wusste nichts über ihn. Nicht seinen Namen. Nicht sein Alter. Wusste nicht wo er herkam, oder wohin er gehen würde. Sie hatte sich darauf eingelassen. Keine Fragen. Keine Verpflichtungen. Keine Gefühle. Der letzte Punkt hatte nicht funktioniert, für sie nicht funktioniert.

Sie konnte in seinen Augen lesen, erkannte die Trauer, den Schmerz, die Verletzungen, die ihm widerfahren waren. Seine Zerrissenheit. Erkannte seinen Drang zur Flucht, zur Flucht vor sich selbst. Sie wusste nichts, und doch wusste sie alles, kannte sie sein Innerstes.
Sie wusste um die kleinen Regungen seiner Gesichtszüge, wenn er begann sich zurückzuziehen, sie auszusperren, unbarmherzig wurde. Sie wusste um das Lächeln, das ihm um die Mundwinkel spielte und sich immer nur dann andeutete, wenn ihm die Sonne auf sein Gesicht schien, es in warmes Licht tauchte und er leicht die Nase rümpfte. Sie kannte seine Gesten. Seine fahrigen Handbewegungen, sie wusste, dass er sich das Haar immer nur dann geistesabwesend von rechts nach links über den Kopf strich, wenn ihm die Gedanken wieder entglitten, wie Sand durch die Finger rannen, wenn ihn die Angst, die Überforderung, die Erinnerung wieder einholte. Sie fragte sich oft welche Erinnerung es war, die Erinnerung woran.

Sie steckte sich behutsam die Haare hoch, Strähne für Strähne. Betrachtete sich im Spiegel. Und sie dachte an ihn. Konnte kaum erwarten die Treppe zu seiner Wohnung hochzusteigen und ihn endlich zu sehen. Ihn zu küssen, zu verschmelzen. Sie dachte an jeden Zentimeter seines Körpers, jedes Atom, dachte an ihn in seinen intimsten Momenten, an sein vor Leidenschaft entrücktes Gesicht.

Das alles kannte sie. Ohne ihn zu kennen. Oder kannte sie ihn dadurch?

Sie wusste, ob es ein guter oder ein schlechter Tag war, schon bevor sie die schwarze schwere Eichentür, die in seine Kammer führte aufdrückte und hindurch trat, wusste ob sie abgewiesen würde oder ob er sich ihr öffnete.

Keinen Namen. Kein Alter.
Weder seine Herkunft. Noch seine Geschichte.
Doch er war essentiell für sie. Alles. Nach nur vier Monaten, 122 Tagen, 2928 Stunden war er elementar. Alles an ihm. Sein Atem, sein Geruch, seine Wärme, seine Gesten. Er.
Ihre Gefühle, ihr Drängen, ihre Sehnsucht überraschten sie selbst.

Sie ging das schmale alte Treppenhaus hinauf. Die Stufen knarrten. Die Luft schmeckte staubig. Erwartungsvoll.
Irgendetwas war heute anders.
Die schwere, schwarze Eichentür schwieg. Sie wusste es schon, noch bevor sie sie aufschwang.

In der Mitte des Zimmers ein Tisch, schwarze Stühle. Die Uhr zeigt elf. An der Wand das Plakat, das sie so oft betrachtet hatte.

Alles wie immer.
Und doch.
Alles anders.

Unzählige Zeitungen auf dem dunklen Parkett, dazwischen ungeöffnete Briefe.
Er würde nicht zurückkommen, um sie zu öffnen.
Er war fort.

Sie war kurz verlockt den Raum zu durchqueren. Der Name.
Um den Namen zu erfahren. Sie konnte es nicht.
Es hätte sie umgebracht, nichts geändert.
Es war als hätte er nie existiert. So sollte, so musste es bleiben.

Er war fort.

 

Hallo und herzlich willkommen !

Zunächst ein nett gemeinter Hinweis.
Man sollte eine Kurzgeschichte niemals damit beginnen, wie jemand aufwacht.

Was mir sofort aufgefallen ist, ist dein Stil.
Du schreibst sehr kurze Sätze, an einigen Stellen sogar radikal reduziert.
Das ist eine Kunst, wenn man das kann und eine Geschichte auf diese Art gut erzählen kann.
Also auf mich wirkt es so, als ob du sehr viel Zeit und Arbeit in diese Geschichte gesteckt hast.
Meiner Meinung nach hast du das sehr gut gemacht und mir hat es gefallen.
Du drückst dich gut aus, es liest sich durch die kurzen Sätze flüssig und unangestrengt.
Du wirst sicherlich von anderen noch wertvolle Tipps und Hinweise bekommen über Ausdruck, Grammatik usw. Es gibt hier sehr intelligente Köpfe, deren Kommentare einen wirklich weiterbringen.
Das, was ich hier gerade schreibe ist nach dem ersten Lesen mein Bauchgefühl und meine dicke Wampe sagt mir: Finde ich gut!

Ich wünsche dir hier viel Spaß

Gruß
Raimond

 

Hallo Raimond!

Vielen lieben Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, die Geschichte überhaupt zu lesen und vielen Dank für den netten Kommentar. Es freut mich wirklich, dass sie dir gefallen hat!

Dankeschön für den Hinweis und da hast du definitiv Recht. So ein Anfang ist schlichtweg nicht wirklich elegant. Es ist ja eigentlich sogar ein Grundmerkmal von Kurzgeschichten, dass sie abrupt beginnen. Unter uns gesagt war dieser Anfang für die Geschichte ursprünglich auch garnicht vorgesehen :D. Ich hatte diese Beschreibung, wie die Protagonistin aufwacht und zum Fenster schreitet, als unabhängige einzelne Szene verfasst. Im Endeffekt hat mir die Atmosphäre und dieses Bild aber so gut gefallen, dass ich es unbedingt irgendwo einbauen wollte und bei dieser Kurzgeschichte hat es ganz gut gepasst.
Ursprünglich beginnt die Geschichte mit: "Sie wusste nichts über ihn." (also erst mit dem 5. Absatz)

 

Hallo nochmal!

Also dramatisieren wollte ich es nicht, denn es ist ja nicht schlecht geschrieben.
Ich weiß nur, dass es eigentlich ein "no go " ist, dieses "ich wache auf" oder "ich liege im Bett" Ding.
Ich will mich ja jetzt auch nicht als größerer Experte ausgeben, als ich bin.
Da werden dir hier noch ganz andere Kaliber als ich Kommentare hinterlassen.

Falls du es überhaupt in Erwägung ziehen solltest am Anfang etwas ändern zu wollen, wäre das ja auch nicht sehr viel.

Meiner Meinung nach nur maximal das hier:

Sie blinzelt vorsichtig. Schlägt die Augen auf.
Spürt ihre eigene Schläfrigkeit, die Wärme, spürt die ungeheure Schwere ihres Körpers

Ich hatte diese Beschreibung, wie die Protagonistin aufwacht und zum Fenster schreitet,

Oder sie steht am Anfang bereits am Fenster. Wäre auch eine Möglichkeit.


Aber wie gesagt, insgesamt gefallen mir deine Geschichte und dein Stil sehr gut.

Liebe Grüße

Raimond

 

Hey Jana,

zunächst mal finde ich es gut, dass du deinen Stil gefunden hast und diesen konsequent durchziehst. Zumindest für diese Geschichte hast du dir Gedanken über den Rhythmus gemacht, der die Geschichte trägt. Nur gibt es ein paar Stellen, wo du es vielleicht ein bisschen übertreibst:

Sie war kurz verlockt den Raum zu durchqueren. Der Name.
Um den Namen zu erfahren. Sie konnte es nicht.

Warum steht da einfach nur "Der Name"? Das passt zwar zum Stil, aber ich stocke da beim Lesen.

Das selbe gilt auch für:

Alles wie immer.
Und doch.
Alles anders.

Da würde ich schon "Und doch alles anders." schreiben, auch wenn dies vielleicht konventioneller ist und du gerade diese Konventionen durchbrechen möchtest.
An vielen anderen Stellen funktioniert diese Fragmentierung von Sätzen wiederum ziemlich gut.

Inhaltlich finde ich die Geschichte auf jeden Fall spannend. Es ist auch gut, dass du nur andeutest, was mit diesem mysteriösen Typ los ist und nicht mit der Tür ins Haus fällst. Die Gefühle der Protagonistin und vor allem deren Widersprüchlichkeit schilderst du sehr glaubwürdig. Ihre Gedankenwelt wird für den Leser erfahrbar.
Stilistisch kannst du vielleicht noch mal über ein paar Stellen drüber gucken (teilweise auch erzählerisch, wie zuvor schon bzgl. des Anfangs angemerkt). Aber der Text macht neugierig auf mehr.

Gruß,
Dekon

 

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