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Aufbruch in die Neue Welt oder Träume vor dem 11. September
Aufbruch in die Neue Welt
Bea nahm gleich die erste Abfahrt Richtung Fischereihafen. Eigentlich wollte sie weiterfahren bis Stadtmitte um ein wenig in der Fußgängerzone zu bummeln, aber in dem Moment, als sie der Nordwest den Geruch ihrer Kindheit wahrnehmen ließ, spürte sie wieder dieses Fernweh.
Der Geruch ihrer Kindheit: Bratfisch, frisch, zum Reinbeißen, ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen. Sie war Jahre nicht hier gewesen. Die Straße war die alte geblieben. Geklinkert mit roten Steinen, wellenförmig wie die brandende See. Bea bremste bereits nach dem ersten Wellental, da ihr Käfer bedenkliche Geräusche von sich gab.
Nach kurzer Zeit hatte sie das Ende der Welt erreicht. Steubenhöft – Kai der Sehnsucht und Ort des Aufbruches - gleich in der Nähe der Hapag-Hallen, damals Abfertigungshalle für Auswanderer nach Übersee. Sie stieg aus, ging zum Schiffsanleger und setzte sich auf einen der mächtigen eisernen Poller. Ihr Blick ging Richtung See. Wellenrauschen, Möwengeschrei, das Stampfen der neuzeitigen Ozeanriesen, schwer bepackt mit allem was die westliche Zivilisation mit ihrem riesigen Rachen verschlingt und wieder ausspuckt.
Bea sieht dem Treiben zu, ihre Gedanken gehen zurück. Weit zurück. Wie mag es damals gewesen sein? Sie denkt an die Worte ihrer Großmutter, die von Paul und Karl erzählte, die das große Glück suchten damals, um 1900. Damals, als die Industrialisierung ihren Weg nahm. Ihre Großmutter sprach von New York, der ersten Anlaufstation. Dieses Wort sprach sie aus, als ließe sie eine Köstlichkeit auf ihrer Zunge zergehen.
Paul und Karl waren im besten Mannesalter. Kräftig, hemdsärmelig und einen Handwerksberuf hatten sie auch gelernt. Zudem waren sie noch ungebunden. In ihrem Dorf machten Briefe die Runde von Nachbarn und Freunden, die bereits auf der anderen Seite des Teiches ihren Platz gefunden hatten. Negative Nachrichten wurden erst gar nicht wahrgenommen. Die beiden Burschen machten sich auf den Weg zusammen mit einer Handvoll befreundeter Männer. Es wurde Abschied genommen mit dem Versprechen der Daheimgebliebenen, nachzukommen, sobald im gelobten Land die ersten Gehversuche abgeschlossen seien.
Bei den Hapaghallen angekommen wurden sie nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen. Menschenmassen schoben sich vor den Abfertigungshallen. Draußen an der Eingangstür hing ein Plakat:
Auswanderer: bevor Du Deine Heimat verläßt, Haus und Hof verkaufst und alle Brücken hinter Dir abbrichst, laß dich fragen:
1. Weißt Du, ob Dir die Fremde einen auch nur annähernden Ersatz bietet für das, was Du hier in der Heimat aufgibst?
2. Weißt Du daß schon Ungezählte ihre Auswanderung schwer bereut haben und in größtes Elend geraten sind?
3. Weißt Du, daß draußen große Scharen ausgewanderter deutscher Landsleute sind, die voller Sehnsucht nach der alten Heimat sofort zurückkehren würden, wenn Ihnen nur das benötigte Reisegeld zur Verfügung stünde?
4. Weißt Du, dass schwerste körperliche Arbeit Deiner im Ausland harrt und Du auf so vieles, was die Heimat Dir bietet, verzichten mußt?
5. Weißt Du, dass im Ausland niemand so leicht der Ausbeutung durch gewissenlose Elemente anheim fällt wie der hilflose Auswanderer, der die Landessprache nicht versteht?
6. Weißt Du, dass alle, die sich von irgend einer Seite die Ueberfahrt zahlen oder Vorschuss geben lassen, sich in der Regel ihrer Freiheit begeben, das Ziel ihrer Auswanderung nicht selber wählen dürfen und oft in ein Klima und Arbeitsverhältnisse geschickt werden, in denen sie Gefahr laufen, zu Grunde zu gehen?
Willst Du oder musst Du auswandern, dann wende Dich zuerst vertrauensvoll an den
Evangelischen Hauptverein für Deutsche Ansiedler und Auswanderer.
All diese Warnungen schlugen die Männer in den Wind. In ihrem Reisegepäck befanden sich Abenteuerlust, Enthusiasmus, Fernweh und der Wille neu anzufangen; das Glück zu suchen in der neuen Welt.
Die Gesichter der Auswanderer erzählten Geschichten. In ihnen spiegelte sich Not, Elend, Abenteuerlust, Vorfreude wider. Ihre Gedanken reisten ihnen weit voraus bis an das andere Ende des Meeres, reisten bis zur Freiheitsstatue, die ihnen in ihren Vorstellungen den Arm zum Willkommensgruß entgegenstreckte. New York, Synonym für Neuanfang, Neue Welt, Arbeit, Essen und Trinken, Wohlstand.
Was wohl aus ihnen geworden war? Bea wusste es nicht. Die Großmutter war längst gestorben und nahm die Lebensgeschichte von Paul und Karl mit. Bea saß noch eine Weile hier und ließ ihre Gedanken schweifen. New York – es wäre ein leichtes gewesen, dort hinzufliegen, Shoppingtour, Sight-Seeing, aber das kam für sie nicht infrage. New York sollte das bleiben was es immer für sie war: eine Köstlichkeit, die ihre Großmutter auf ihrer Zunge zergehen ließ.