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Auf Wunsch meines Gatten
Die Hausangestellte, die in der Nähe der Eingangstüre bereitstand, öffnete Paul Florin auf sein Klingeln hin. Mit einer Handbewegung deutete sie zur offenen Tür an der rechten Seitenwand. Die Geste bezog diskret das Kondolenzbuch mit ein, das auf einem freistehenden Glastisch lag. «Frau Caminada empfängt Sie gern im Salon.» In ihrer sonoren Stimme lag etwas Andächtiges.
Im Kondolenzbuch waren bereits etliche Seiten umgeschlagen. Florin blätterte in den Vorgehenden, sich überlegend, welche Abschiedsworte für Andrin angemessen wären. Als Freund der Familie und deren Anwalt hatte er ein zweigeteiltes Verhältnis zu ihm gehabt, Beruf und Privates streng getrennt.
Nebst Texten hatten Kunstmaler vereinzelt auch stilvolle Zeichnungen angebracht. Eine Reverenz an den Verstorbenen. Er musste lächeln, als sein Blick auf eine Skizze von Felix Tête fiel. Mit knappen Strichen hatte dieser filigran einen Strauss Callas gezeichnet. Eine Schleife hielt diese zusammen, mit «In ewiger Dankbarkeit» geziert.
Andrin Caminada hatte als Mäzen den jungen Maler gefördert. Dabei war er sehr streng, wollte Leistungen und Entwicklung erkennen, ansonsten gab er sich zurückhaltend. Tête hatte es trotz anfänglicher Mühe geschafft, seinen eigenen Stil und Anerkennung zu finden, auch wenn er noch keineswegs zur Elite zählte.
Die Hand zitterte erst leicht, als Florin einen eigenen Füllfederhalter hervornahm, um eine Widmung anzubringen. Die extra breite Federspitze ermöglichte ein kalligraphisches Schriftbild. «Deine Lebensfreude und Dein besonderer Humor, die durch nichts aus der Fassung zu bringen waren, bleiben mir unvergesslich.» Mit einem andern Füllfederhalter setzte er seine Unterschrift darunter. Die bescheidenen Worte dekorativ geschrieben sind Andrin gerecht, sie würden ihn freuen. Mehr muss es nicht sein!
Als Florin in den Salon trat, standen knapp ein Dutzend Personen im Raum herum. Einige Kondolenzbesucher waren wohl bereits wieder weg. Paolo Lucchini, der langjährige Sekretär von Andrin, kam auf ihn zu und begrüsste ihn. Claire Caminada stand in ein Gespräch vertieft, mit jemandem, der ihm den Rücken zuwandte, an einem Fenster. Sie sah gefasst aus. Andrin war immerhin einundachtzig gewesen, zweiunddreissig Jahre älter als sie, und sein Ableben war nicht gänzlich überraschend gekommen. Das schwarze Kleid, das sie mit einem kurzen, zitronengelben Jackett darüber trug, verlieh ihrer Erscheinung einen dezent fröhlich wirkenden Anstrich. Ganz im Sinne des Verstorbenen. Als ihr Gesprächspartner sich kurz leicht umwandte, erkannte ihn Florin. Es war H. R. Giger, der Skulpteur. Als Einziger der Anwesenden ganz in Schwarz gekleidet, doch dies gehörte bei ihm zum Standard. Wahrscheinlich eine Marotte, da sein weisses Haar dadurch voll zur Geltung kam. Florin konnte dessen Werk nicht besonders viel abgewinnen, technisch-surrealistische Figuren aus Metall, biomechanische Kunst, wie Giger sie nannte, oder auch Androide. Da war sein ästhetisches Empfinden völlig anders als das von Andrin, der zu allen Richtungen der Kunst offen war und ihn wegen seiner Begrenztheit im Kunstverständnis auch mal scherzhaft einen Kleinbürger genannt hatte.
Claire entdeckte Florin und gab ihm ein Zeichen, zu ihnen zu treten.
«Mein herzliches Beileid, Claire», sagte er, um sie dann auf beide Wangen zu küssen.
«Danke Paul. Es ist schön, Dich in diesem Moment hier zu haben. – Du bist mit Hansruedi bekannt oder?», sprach sie ohne Umschweife weiter.
Florin und Giger gaben einander die Hand.
«Andrin hatte uns einander mal vorgestellt», bemerkte Giger mit einer tiefen Stimme, die zu seiner stattlichen Erscheinung passte. Das charmante Lächeln, das er dazu aufsetzte, liessen ihn in seinem Auftritt weich wirken.
Er ist ein Typ, auf den die Frauen fliegen, ging Florin durch den Kopf. Gleich ärgerte er sich für diese unpassenden Gedanken. Es war wohl eine leichte Spur von Eifersucht. Claire kam ihm, diesem Mann gegenüber, auf undurchsichtige Weise verbunden vor. Nichts Sichtbares gab Anlass dazu, nicht in den Gesten oder den Worten, nur ein Gefühl, das Florin plötzlich unbehaglich beherrschte.
«Möchtest Du Andrin sehen?», unterbrach Claire seine Gedanken. «Er ist nebenan aufgebahrt.» Sie führte ihn in einen Nebenraum, dessen Tür offen stand und in dem gedämpftes Licht brannte. Der Sarg stand erhöht in der Mitte, daneben war auf einer Staffelei ein farbenfrohes Bild von Chagall platziert.
Eine Inszenierung, ganz im Sinne von Andrin. Er hatte den Tod nie als düstere Erscheinung verstanden. «In allen Lebenssituationen, und seien sie noch so trist, steckt ein Splitter zur Heiterkeit. Man muss nur den Sinn darin erkennen», bemerkte er einst. Diese Erinnerung erweckte Florin beinah den Eindruck, Andrin, der bleich auf dem weissen Laken lag, könnte ihm mit einem der geschlossenen Augenlider zuzwinkern. Dabei war sein Gesicht ernst, eine starre Totenmaske, kein verschmitztes Lächeln, wie er es wohl für diesen Akt gern zur Schau getragen hätte.
«Wann wird das Begräbnis sein?», wandte er sich an Claire.
Claire zögerte, als überlege sie sich sorgfältig ihre Worte. «Morgen in drei Wochen, an seinem Geburtstag.»
Florin war überrascht. Dieses Hinauszögern der Beisetzung kam ihm ungewöhnlich vor, normalerweise fand eine solche innert Wochenfrist statt. Eine Aufschiebung wurde nur veranlasst, wenn eine unnatürliche Todesursache vorlag. «Gibt es Missverständnisse über die Todesursache? Machen die Behörden Schwierigkeiten?» Er fühlte sich als Anwalt auf den Plan gerufen.
Claire lachte beherzt auf. «Nein überhaupt nicht. Sein Hausarzt hat den Todesschein ausgestellt, der Tod ist zweifellos durch Herzversagen eingetreten. Seitens der Behörden gibt es keine Einwände.»
«Aber?» Florin konnte sich keinen Reim auf ihre Antwort machen.
«Andrin hat sich für seine letzte Ruhestätte etwas ganz Besonderes gewünscht. Du kennst ihn ja, in manchen Dingen konnte er richtiggehend exzentrisch sein.» Einen Moment schwieg sie, den Blick auf das Gesicht von Andrin gewandt, doch dann hoben sich ihre Mundwinkel zu einem milden Lächeln. «Er war ein besonderer Mensch, dies wusste ich, als ich ihn damals heiratete. Es war auch das, was ihn ausmachte. Als er mir vor zwei Jahren von seiner Absicht erzählte, wie er sich seine letzte Ruhestätte vorstellt, hielt ich es für einen vorübergehenden Spleen. Doch er fing immer wieder mal davon an. Anfänglich vorsichtig einfädelnd, es auf eine theoretische Ebene hebend, um dann sanft, jedoch bestimmt durchblicken zu lassen, dass es ihm damit Ernst sei. Wir hatten heftige Diskussionen, rangen um gegenseitiges Verständnis, wogen den Sinn ab. Es blieb in der Schwebe, über ein Jahr. Sein Verlangen hätte er bestimmt zurückgezogen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, mich von seiner Idee letztlich zu überzeugen. Allmählich verstand ich seinen Wunsch, es vollendet sein Dasein für die Kunst und gibt diesem Esprit, den er ein Leben lang verkörperte, Ausdruck. Es wird kein ewiger Wert sein, vergänglich, wie alles Irdische, aber mit Faszinosum erfüllt.»
Florin hatte ihr gespannt zugehört, ihre tiefe Zuneigung, welche sie für ihren Mann in den Worten ausdrückte, wahrgenommen. Sie liebte ihn über den Tod hinaus. Doch er verstand nicht, auf was es hinauslaufen könnte. Eine prunkvolle Grabesstätte würde der Lebensanschauung von Andrin zuwiderlaufen, auch wäre die Bauzeit dafür zu kurz.
«Entschuldige bitte Claire, aber ich verstehe nicht.»
Claire seufzte. «Es tut mir leid, aber Andrin hatte mich gebeten, mit niemandem, auch seinen engsten Freunden gegenüber nicht, darüber zu sprechen, bis es soweit ist.»
Ihr sanfter Blick, mit dem sie ihn anschaute, besänftigte seinen Unwillen. Einen Moment hatte er befürchtet, es als Ausgrenzung verstehen zu müssen. Doch es war wohl eher ein Überraschungscoup eines exzentrischen, alten Mannes, der gegenüber seinen Freunden und der Welt noch ein letztes Mal aufzutrumpfen beabsichtigte.
«Du bist mir nicht böse, Paul?»
Florin erschrak, er wurde sich bewusst, dass seine Mimik ihn verraten haben musste. «Gewiss nicht, Claire. Es ist klar, dass Du seinem Willen entsprechen musst. … Ach Blödsinn, was schwafle ich da. Ich war einen Moment verunsichert. Meine Beziehung zu Andrin und Dir habe ich immer als eine tiefgreifende Freundschaft wahrgenommen, in der wir weitgehend über alles sprechen konnten. Und nun dieses Ausklammernde, es hat mich brüskiert. Den Bruchteil einer Sekunde, den Gedanken aufkommen lassen, diese Gefühle seien nur meinerseits aufgetreten. Ich sei nur einer, na ja, unter vielen Freunden.»
«Ach, Paul!» Claire umarmte ihn herzlich, sich wieder lösend, blieb ihre Hand auf seinem Oberarm ruhen. «Du bist mein bester Freund und ich fühle mich gut bei diesem Gedanken.»
«Tut mir leid, wenn ich kurz zweifelte. Andrins Tod hat mich wohl etwas empfindsam gemacht, er hatte sicher Gründe dafür, dass er Dich um Stillschweigen bat.»
«Die Gespräche mit mir hatten ihn sensibilisiert und bewogen, es nicht noch mit weiteren Personen zu erörtern. Es ist sein Wunsch und heute bin ich froh, dass er sich von mir nicht abbringen liess. Mein Arrangement wäre vermutlich einem Grabmal wie jenem von Jean Marais in Vallauris nahegekommen, dessen künstlerische Gestaltung mich einst verblüffte und zugleich faszinierte. Jean Marais hatte es sich zu Lebzeiten noch selbst geschaffen. Kennst Du es?»
«Ja doch, vor ein paar Jahren, als ich in Cannes weilte, hatte es mir ein Bekannter gezeigt. Es war mir allerdings zu mysteriös, diese Fabeltiere, die es bewachen, ich meinte Marais Gesicht in ihnen zu erkennen und über allem ruhend das Wesen eines Menschen mit Geweih. Ehrlich gesagt, es war nicht so mein Geschmack, bei allem Respekt vor dem vielseitigen Künstler, der er war. Für Andrin hätte ich mir eher einen Grabschmuck von Henry Moore vorgestellt, etwa seine „Reclining Figure“ oder seine „Oval with Points“, die Schlichtheit und Moderne verbinden. Ich denke, sie würden das Wesen von Andrin, sein intuitives Gespür für das Besondere, das er weit über die Kunst hinaus besass, vorzüglich versinnbildlichen.»
Claire blickte nachdenklich auf Andrin, der wie ein stiller Zuhörer gegenwärtig war.
«Du hast die Wesensart von Andrin, seine Liebe zur Kunst und zu den Menschen, mit Moore sehr schön ausgedrückt. Ja, ein Teil seiner Werke hätte ihm diesbezüglich wirklich entsprochen. Warum ich selbst nicht daran dachte? Aber er war so auf seine eigene Idee fixiert, und letztlich hatte er recht. Die letzte Ruhestätte sollte ihn widerspiegeln, wie er sich selbst verstand, um den Hinterbliebenen die Möglichkeit zu geben, ihm nahe zu sein. Ich bin sehr froh, mich in der kommenden Zeit auf Dich stützen zu dürfen.»
Als sie in den Salon zurückkamen, waren erheblich mehr Leute da. Claire nahm von diesen die Beileidsbezeugungen entgegen, sprach mit allen ein paar Worte. Es musste für sie anstrengend sein. Da erklang der feine Ton eines Glases, das mit einem metallischen Gegenstand angetippt wurde. Alle Anwesenden sahen in die Richtung des Verursachers, es war Theophil Koch, der ein Glas in die Höhe hielt. Die meisten kannten ihn, wenn nicht persönlich, hatten sie ihn zumindest abgebildet gesehen. In Zeitungen veröffentlichte Interviews mit ihm, zu zeitgemässer Moraltheologie, sorgten ab und zu für Aufsehen.
«Liebe Claire, werte Trauergäste! Es ist mir ein Anliegen, ein paar Worte zum Heimgang von Andrin sprechen zu dürfen. Der Anlass unseres heutigen Zusammentreffens erfüllt uns mit Trauer, Andrin Caminada weilt nicht mehr unter uns. Gönnen wir uns die Zeit wehmütigen Abschiednehmens. Doch lassen wir auch die Freude zu. Die Freude, dass wir Andrin in seinem Leben begegnen durften! Ich will mich hier nicht darüber auslassen, was er in seinem Leben vollbrachte und Gutes bewirkte. Ich will auch nicht über den Kunstsammler und Mäzen sprechen, der er mit Herz und Seele war. Ihr alle kanntet ihn diesbezüglich vielleicht noch besser als ich. Es ist der Mensch, dem ich begegnete und dessen Persönlichkeit mich tief beeindruckte. Er ist mir sehr gegenwärtig, wenn ich mich an das erste Gespräch mit ihm erinnere. Es war ein fröhlicher Anlass, eine Geburtstagsfeier im Badrutts’s Palace in St. Moritz, bei der wir beide geladene Gäste waren. Er hatte sich gelangweilt und war auf eine Terrasse geflüchtet. Kurzum, wir kamen ins Gespräch. Eine leichte Ironie konnte er nicht verbergen, als er erfuhr, dass ich Theologe bin.» Koch liess die Worte verklingen, bis er weiterfuhr.
«So, so, Sie glauben also, der Mensch sei dazu bestimmt, ein ewiges Dasein zu führen. Welchen Sinn sollte dies denn haben?» Er blickte mich dabei herausfordernd lächelnd an.
Ich gestehe, ich war überrumpelt von seiner Fragestellung. Gegen Angriffe auf den Glauben an sich war ich gerüstet, hatte zu allen Diffamierungen eine treffende Antwort bereit. Er aber hinterfragte entwaffnend schlicht den Sinn eines ewigen Daseins der menschlichen Seele. Mein Versuch, ein Konstrukt von theologisch- rhetorischer Deutung aufzubauen, unterbrach er kurzerhand.
«Ich frage nicht den Gelehrten, sondern den Menschen: was versprechen Sie sich davon?»
Einen Schreckensmoment lang dachte ich, er kenne meine Zweifel, die mich wie jeden andern meiner geistlichen Mitbrüder gleichsam schon überkamen. Mit einem Schauer durchfuhr mich die Erkenntnis, dass sich mein Gottesbild längst gewandelt hatte, meine Sichtweise sich längst dem Transzendentalen im Sinne von Kant angenähert hatte. Das Liebliche und Fromme, das Transzendente hingegen, das mich einst anzog, nur noch verblasste Erinnerung ist. Nicht, dass ich es missen möchte, doch es musste der reifer werdenden Weiterentwicklung weichen, die Wegfindung führte mich mehr und mehr zu mir selbst, meinem Sein im Jetzt. Es war mir, als ob in ihm dies erfüllt sei, wonach ich noch suchte, dabei war er weit davon entfernt, sich auf irgendwelchen Glauben einzulassen. Er stand nur da und lächelte.
Dies war vor zwanzig Jahren gewesen. In dieser Zeit hatte ich mehrfach Gelegenheit, Gespräche mit ihm zu führen. Oft waren es Themen, die weitab von meiner Berufung standen, doch immer waren sie erfüllt mit Leben. Mit seinem Enthusiasmus, mit dem er die Kunst liebte, konnte er sich ebenso auf alle möglichen Fragen des Lebens und der Gesellschaft einlassen. Es waren Gespräche auf gleicher Ebene, keiner, der sich dem andern über- oder unterlegen fühlte, und auch wenn Differenzen blieben, wir verstanden und respektierten uns. Von dem her verkörperte er mir eine der eindrücklichsten Begegnungen in meinem Leben.»
Theophil Koch machte eine angedeutete Verbeugung zu Claire hin, die ihm für seine herzlichen Worte dankte.
Claire benutzte den Augenblick, um die Anwesenden über die Beisetzung zu orientieren und vielleicht auch weitere pathetische Reden abzublocken.
«Liebe Freunde und Anteilnehmende. Ihr habt Euch sicher schon Gedanken gemacht, wann und wo die Beisetzung von Andrin stattfinden wird.» Sie machte eine Sprechpause, als sollten sich diese Worte setzen. «Auf Wunsch meines Gatten wird die letzte Ruhestätte in Gruyères sein. Es mag eigen klingen, dass er sich diesen Ort wählte, obwohl er nie dort lebte. Es entspricht aber durchaus ihm. Er liebte es, ungewöhnliche Wege zu gehen, öfters etwas Neues auszuprobieren und für alles offen zu sein. So darf es nicht überraschen, wenn er für diesen letzten Akt, wie er es mir gegenüber einmal nannte, sich etwas auswählte, das seinem Dasein etwas kunstvoll Besiegelndes gibt. In drei Wochen, an seinem Geburtstag wird er dort seinen Platz finden.»
Florin schaute Claire überrascht und erheitert an. Er hatte dieses historische Städtchen besucht, als er einmal in dieser Gegend war. Die steilen Gassen, erinnerte er sich, waren ihm beschwerlich gewesen. Einen krasseren Gegensatz zu moderner Kunst, wie Andrin sie besonders liebte, konnte er sich nicht vorstellen. Er war immer für eine Überraschung gut. «Hm, da erfüllt er sich ja einen unerwartet romantischen Traum, dass er diesen Ort wählte», sprach er leise zu Claire.
Sie schwieg.
*
Auf der Karte war nur eine Adresse mit Plan angeführt: Château St. Germain, Gruyeres und die Uhrzeit. Florin machte sich keine weiteren Gedanken. Immerhin hatte sich Andrin ein Schlösschen ausgesucht, einen würdigen Ort, um seine Gebeine niederzulegen. Der Gedanke versöhnte ihn etwas mit der Geheimnistuerei, die Andrin sich da um sein Begräbnis geleistet hatte. Nun, er wollte sich vielleicht noch einmal besonders exzentrisch geben, eine versteckte Huldigung an Dali oder dergleichen damit einbringen. Lächelnd stieg Florin die steile Strasse im Ort empor, sein Freund war wirklich facettenreich gewesen, bis in den Tod.
Dem Plan folgend stand er in wenigen Minuten vor dem Château, das Haus überrascht musternd. Natürlich, er hätte es ahnen können. Château bedeutete nicht immer gleich ein Schloss im klassischen Sinn. Wohl von kleinen Lustschlösschen inspiriert, waren manche weniger dekorative Häuser auch so benannt. Doch diesen Anblick hatte er nicht erwartet, skurrile Skulpturen zierten neben und über dem Eingang die Hauswand. Einen Moment stand er mit halboffenem Mund da. Na gut, das ist nur der Treffpunkt.
In der Eingangshalle hatten sich schon einige Gäste versammelt, es war nur der engste Kreis der Freunde von Andrin. Pünktlich forderte Paolo Lucchini die Anwesenden auf, ihm zu folgen. Claire schritt neben ihm her, sie hatte noch keine Angaben gemacht, wo dann letztlich die Beerdigung stattfinden sollte. Die Räume waren alle mit Skulpturen und Bildern von Giger ausgestattet, eine faszinierende, aber auch skurrile Kunstwelt.
Im Untergeschoss gelangten sie in einen separierten Raum, der anscheinend neu geschaffen worden war. In einer Vitrine aus entspiegeltem Sicherheitsglas stand eine mannshohe Skulptur. Das silbern verchromte Skelett glänzte im Scheinwerferlicht, Raum und Betrachter spiegelten sich an der Figur. Claire hatte sich seitlich davon aufgestellt, und die Gäste reihten sich im Halbkreis auf.
«Andrin, auf ewig, wie lange dies auch sein möge.» Die Worte von Claire klangen wie ein Ritual.
Florin wusste nicht recht, was er davon halten sollte, weder Andrin noch Claire hatten jemals irgendwelche religiöse Neigungen, und diese Szene wirkte beinah etwas okkult. Da machte Claire einen Schritt nach links, ein Schildchen, das an der Wand angebracht war, dem Blick freigebend. «Andrin Caminada, Kunstsammler» war darauf zu lesen.
Es dauerte eine Weile, bis Florin den tieferen Sinn begriff. Diese Schildchen waren in den Museen üblich, um den Stifter des Werkes auszuweisen. – Hier hatte es einen doppelten Sinn erhalten, der Stifter stand vor ihm, in einem gläsernen Sarkophag.