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Auf Wiedersehen, André
André war 19 Jahre alt. Es ist nicht so, dass Alter eine Rolle an diesem Ort spielte, aber der Vollständigkeit halber muss ich das auch erwähnen. Er saß auf einer hohen Brücke und starrte den unendlichen Fluss der wie verrückt rasenden Autos unter ihm an. Alle eilten irgendwohin, hatten Dinge zu erledigen, wichtige oder wichtig erscheinende; nur André musste nirgendwo sein. Er hatte es nicht eilig, denn er hatte alle Zeit der Welt.
Langsam dämmerte es. Es war Herbst und die Tage waren nicht mehr so lang. Die Abende waren bereits recht frisch, aber André war nicht kalt. Er schaute immer noch nach unten. Der rasende Fluss wurde zu einer schlängelnden Lichterkette. Er mochte Dämmerung, es war seine Lieblingstageszeit. Das helle Tageslicht beleuchtete jedes Eck und ließ wenig Raum für die Phantasie; die Dämmerung dagegen hatte etwas Geheimnisvolles in sich. Zu schade, dass sie immer so schnell vorbei war.
„Wie lange sitze ich schon hier?“ fragte sich André. „Bestimmt drei oder vier Stunden.“
„Lange genug, wenn du mich fragst“ antwortete eine weibliche Stimme in seinem Kopf.
„Sitzt er schon wieder auf jener Brücke?“ meldete sich eine weitere Stimme, eine männliche.
„Da bin ich mir ganz sicher“ sagte die Frau. „So viele wunderschöne Orte auf der Welt und er verbringt die Zeit auf einer langweiligen Brücke!“
Aber André hörte nicht mehr hin. Er sprang von der Brücke runter. Einige Sekunden lang flog er im freien Fall Richtung Erde. Er hatte das schon so oft gemacht und doch stockte ihm jedes Mal der Atem. Dann wurde er vom Wind aufgefangen und flitzte weg von dem eilenden Auto-Wirrwarr. In der Luft schwebend streckte er die Arme, entspannte sich und zerschmolz darin. Er ließ sich von dem Wind tragen, fühlte seine kühle und sanfte Berührung auf der Haut. Manchmal ging er nach unten, dann wieder hinauf. Er tauchte in das goldene Laub ein, jagte den erschrockenen Vögeln nach, stürzte von den Bergen und ritt auf den Wolken. Dann hörte er das Wasser murmeln und landete auf die Wasseroberfläche. Er ließ sich von der Strömung bis zu einem Abhang mitreißen, wo der Fluss runterfiel, und stürzte damit in die Tiefe.
Als er auftauchte, sah er sie am Ufer sitzen. Elisa und Christian. Die Stimmen aus seinem Kopf. Sie warteten schon auf ihn, wie immer. Elisa sah ihn und winkte.
„Na endlich bist du da!“
Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals – sie freute sich offensichtlich, ihn zu sehen. Sie lächelte ihn an, ihre blauen Augen funkelten und André fühlte sich ganz schwach. „Immer wieder dasselbe!“ ärgerte er sich. Er wollte nicht zeigen, wie sehr er Elisa eigentlich mochte.
Er setzte sich neben ihr hin. Das war ihre Oase, nur sie drei wussten über diesen Ort Bescheid. Obwohl sie wussten, dass es noch mehr Menschen wie sie gab, hier hatten sie noch nie jemanden gesehen.
Von all den großartigen Orten, die André gesehen hatte (und inzwischen waren es sehr viele, das kann ich euch versichern), mochte er den hier am liebsten. Vielleicht war es so wegen seiner transzendenten Schönheit – nachts, wenn der Vollmond so hell schien wie jetzt, lumineszierte das Wasser von ihnen in einer mystischen blauen Farbe, was der ganzen Umgebung eine irreale Atmosphäre verlieh. Oder waren es die spirituelle Nähe und Intimität, die André zum ersten Mal hier erfahren hatte? So oder so fühlte er sich hier am wohlsten.
Eine Weile saßen sie schweigend und bewunderten das Spiel des Lichtes. Elisa brach die Stille:
„Was machst du eigentlich die ganze Zeit auf der Brücke, André?“
„Nachdenken. Seltsamerweise hilft das dort herrschende Durcheinander mir dabei. Wenn ich höre, worüber die Menschen denken, sich Sorgen machen, ärgern oder freuen, hilft mir das, eine bessere Perspektive zu bekommen, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und zu erkennen, was wirklich wichtig ist. Dadurch kann ich einiges besser verstehen.“
Elisa seufzte verständnisvoll und wurde wieder still.
„Was willst du denn besser verstehen?“ fragte Christian.
„Warum alles so ist… und nicht anders.“
„Warum wir so sind und nicht anders? Denkst du darüber nach?“
„Auch.“
„Für mich ist alles klar. Egal, wie du einen Apfel nennst, seine Substanz wird sich nicht ändern - es ist und bleibt ein Apfel. Wenn du etwas Hässliches schön nennst, wird es dadurch nicht besser. Du kannst dir viel Zeit und Leiden ersparen, wenn du deine Abartigkeit, unsere Abartigkeit, einfach akzeptierst.“
„Christian!“ Elisa war empört. „Wir sind doch nicht abartig!“
„Ach wirklich? Was sind wir dann?“
Elisa schüttelte den Kopf und antwortete nicht.
„Ich bin es jedenfalls satt, hier zu sitzen, das blöde Spiel des Lichtes anzustarren und sich selbst zu belügen. Das Leben ist mehr als das.“ Christian stand auf. „Ciao!“
„Was ist mit ihm los?“
„Er ist anders.“
„Jeder ist anders.“
„Anders als früher. Er denkt jetzt anders. Er sieht diesen Ort nicht mehr als etwas außergewöhnlich Schönes. Das ist eine Art der besonderen Fische, sagt er, die das Wasser leuchten lassen und da gibt es nichts Mystisches.“
André lachte. „Vielleicht hat er Recht. Was denkst du, warum das Wasser leuchtet?“
„Es widerspiegelt unsere Seelen.“
„Unsere Seelen…“ wiederholte André nachdenklich.
Später gingen sie im Wald spazieren. Der Mond beleuchtete ihnen den Weg. Sie sprachen kaum, aber fühlten sich wohl in der Stille der Nacht.
„Glaubst du, Christian hat Recht?“ fragte Elisa.
„Mit den Fischen?“
„Nein… mit der Abartigkeit.“
„Nun das Wort würde ich nicht unbedingt nutzen, aber… Normalität ist das nicht.“
„Was ist schon die Normalität? Die ist eh für jeden anders!“ Elisa nahm seine Hand. Ihre Haut war glatt wie Seide, ihre Hand angenehm warm. Von ihrer Berührung raste ein Stromschlag durch seinen ganzen Körper. „Weißt du, was ich glaube? Ich… Oh…“ Sie blieb stehen und fasste sich ans Herz. „Mein Herz…“
„Elisa! Was ist los?“ Schrie André erschrocken auf. „Elisa! Elisa!“
* * *
Claudia füllte die Vase mit Wasser und steckte die Blumen, die sie so sorgfältig ausgewählt hatte, rein. Sie stellte die Vase auf den Tisch neben dem Bett. „So jetzt sieht es hier etwas besser aus. Nicht schlecht für ein Krankenhauszimmer“ flüsterte sie. Sie warf einen Blick auf ihren Sonn, der in einem Rollstuhl neben dem Fenster saß. Sie brachte ihn dorthin, damit er das schöne Herbstwetter genießen konnte. Sie wusste natürlich nicht, ob er es tatsächlich konnte, er hatte ja gerade eine von seinen schlechten Phasen, aber sie versuchte, sich so normal wie möglich zu verhalten.
Es dämmerte. Claudia schaltete das Licht an. Bald kommt ihr Mann mit ihrer Tochter. Es ist gut, dass sie auch mal ihren älteren Bruder besucht. Sie ist zwar noch klein, erst 6 Jahre alt, aber kann schon einiges verstehen. Sie weiß, dass es ihrem Bruder nicht gut geht und dass er jetzt schon seit einiger Zeit im Krankenhaus lebt. In einer geschlossener Psychiatrie. Claudia seufzte und war schon kurz vor dem Losheulen, als sie hörte:
„Wie lange sitze ich schon hier? Bestimmt drei oder vier Stunden.“ Er murmelte sehr undeutlich, aber sie konnte trotzdem jedes Wort verstehen.
Sie eilte zu ihm. „Was ist, André? Willst du woanders sitzen?“ Aber er sagte nichts mehr; schon wieder saß er still da und starrte mit leeren Augen in die Ferne.
Sie rollte den Stuhl weg vom Fenster und schloss die Gardinen. „Ich habe neue Bücher gebracht. Willst du, dass ich dir was vorlese?“ André antwortete nicht. Claudia nahm ein Buch vom Regal und fing an zu lesen.
Nach einer Weile ging die Tür vorsichtig auf und ein Mann und ein kleines Mädchen kamen rein.
„Paul! Marie! André, schau mal, da ist dein Vater und deine kleine Schwester!“
„Wie geht’s ihm?“ fragte Paul.
„Nicht so gut“, die Tränen kamen wieder hoch.
„Fang nicht damit an, der Arzt sagte doch, dass er manchmal… abwesend sein kann.“
„Ja schon, aber so lange wie dieses Mal war er, glaub ich, noch nie… abwesend. Obwohl er mit mir eben gesprochen hat.“
„Was sagte er denn?“
„Ich glaube, er wollte woanders sitzen. Ich habe vorhin seinen Rollstuhl vor dem Fenster gestellt, damit er den schönen Herbst sehen konnte.“
„Claudia, du weißt nicht mal, ob er überhaupt etwas wahrnehmen kann, wenn er… so ist.“
„Du weißt es aber auch nicht. Die Ärzte wissen es nicht. Niemand weiß es.“
Paul sah die Tränen, die über die Wangen seiner Frau runterrutschen.
„Marie, lies doch deinem Bruder was vor.“
Paul umarmte seine weinende Frau; für eine Weile saßen sie still, dem fleißigen Vorlesen ihrer Tochter zuhörend.
„Hast du mit dem Doktor Rosenstein gesprochen?“
„Er sagt, es gibt keine Hoffnung.“
„Ich habe aber Hoffnung! Solange ich lebe, solange er lebt, werde ich Hoffnung haben.“
Plötzlich wurde André unruhig. „Elisa! Elisa!“ murmelte er. „Elisa!“
Sie schauten einander an:
„Wer ist Elisa?“
„Ich kenne niemanden, der so heißt.“
André war sehr aufgeregt und rief immer wieder den Namen auf. Draußen im Flur wurde auch unruhig: Die Leute rannten die Korridore entlang, etwas war passiert. Sie riefen eine Schwester, mussten aber eine Weile warten, bis sie kam und ihren Sonn mit einer Spritze beruhigte.
„Vielleicht hat er mitbekommen, dass eine unserer Patientinnen, Elisabeth Brunner, einen Herzinfarkt hatte. Und das hat ihn bekümmert“, mutmaßte die Schwester.
„Oh, mein Gott! Sie wird aber wieder?“
„Schwer zu sagen. Das ist eine ältere Dame, die Ärzte wissen nicht, ob ihr Körper das aushält.“
„Das ist so traurig… aber… warten Sie, sagten Sie, sie heißt Elisabeth?“
„Ja.“
„Elisabeth… Elisa!“
„Kennen Sie sie?“
„Nein… Aber ich denke mein Sonn kennt sie.“
„Das glaube ich nicht. Die Patientin hat ihr Zimmer schon seit einigen Monaten nicht mehr verlassen.“
* * *
„Elisa! Endlich! Ich habe mir Sorgen gemacht. Was ist gestern passiert?“
„Ich glaube, meine Zeit ist gekommen.“
„Was meinst du?“
„Ich werde bald sterben.“
„Das ist unmöglich! Du bist noch so jung! Wie alt bist du? 20?“
Elisa lächelte bitter und schüttelte den Kopf.
„20 war ich vor sehr langer Zeit.“
„Aber… aber du siehst nicht älter als 20 aus!“ André nahm ihre Hand und zog sie zum Wasser. Er zeigte auf Ihre Widerspiegelung auf der Wasseroberfläche:
„Siehe doch!“
„Nur die Körper altern, nicht die Seelen, André.“
„Was… was bedeutet das denn? Wo… gehst du hin? Wo wirst du sein? Hier? Für immer?“
„Das glaube ich nicht. Dieser Ort ist für Lebende, nicht für Gestorbene.“
Sie schwiegen für eine Weile.
„Dann komme ich mit dir! Ja, das mache ich!“
„Nein, das kannst du nicht, du bist nicht tot.“
„Wenn ich lange genug hier bleibe, wird mein Körper sterben.“
„Denk an deine Eltern.“
„Das tue ich! Sie werden endlich wieder leben können!“
„Und Christian?“
„Ich habe meine Eltern sprechen gehört, Christian wird schon nächste Woche entlassen. Weißt du, dass er und ich an einem Tag hier eingeliefert wurden? Und jetzt wird er entlassen und mein Zustand ist hoffnungslos. Diese Welt ist nicht für mich. Hinter jeder Farbe sehe ich Schatten, Lüge hinter jedem Lächeln, Leiden in jeder Bewegung. Die Welt ist unglücklich. Und dieser Ort wäre auch nicht derselbe ohne dich. Wir gehen zusammen.“
* * *
Claudia saß in einem Sessel. Weinen konnte sie nicht mehr, aber etwas anderes konnte sie auch nicht tun. Die Erinnerung an die Beerdigung war sehr verschwommen, sie wusste aber, dass es viele Leute gab. Sie kamen zu ihr und sagten etwas, sie nickte und antwortete irgendwas. Dann waren sie zuhause, hatten gegessen und getrunken.
Jetzt war sie endlich allein. Sie nahm noch eine Tablette, schon dritte für heute. Sie war so müde. Sie schloss die Augen und versank in Schlummer.
Sie fühlte André neben sich. Sie fühlte seinen Kuss auf der Wange und hörte ihn flüstern
„Auf Wiedersehen, Mutter!“ Sie berührte die Stelle, wo er sie geküsst hatte, und flüsterte zurück: „Auf Wiedersehen, André!“