Auf geheimer Mission
Mehrere Meter lagen zwischen den gepflegten Dielen und dem strahlend weißen Renaissance-Stuck an der Decke des Zimmers, in dem sich Cora ungeduldig in ihrer Gänsedaunendecke vergrub. Sie lechzte nach Erholung, nach der wohlverdienten Pause, die die vielen Tage voller uneingeschränkter Tatkraft einforderten, doch ihr Körper musste noch eine Weile durchhalten: Es war der zweite Montag im Monat, sie hatte noch etwas zu erledigen. Dafür musste sie warten, bis ihr Gefährte – der leicht untersetzte und stets bemühte David – endlich seine Tiefschlafphase erreicht hatte. Sie teilten gemeinhin alles miteinander, Güter wie Geheimnisse, doch ihr Doppelleben war eine Ausnahme, davon durfte er niemals erfahren. Er würde es nicht verstehen, da war sie sich ganz sicher, also führte an den dunklen Stunden kein Weg vorbei. Mindestens fünfundvierzig Minuten lang lag sie da, die Augen wie aufgespannt, wartend auf das erlösende Zucken ihres Bettnachbarn, das dessen Eintritt in die Welt der Träume markierte, als es plötzlich passierte: Ein Ruck ging durch die Matratze, ein langgezogenes Ausatmen folgte. „Endlich“, dachte Cora und lächelte verschmitzt. Nun konnte es losgehen. Vorsichtig kroch sie unter der Decke hervor, schlüpfte in ihre Schlappen und warf ihren Mantel über. Sie zog den kleinen Karton – ihren „Werkzeugkasten“ – aus der geheimen Kühlkammer auf halber Treppe hervor und nahm die letzten fünf Stufen in einem großen Satz. Als sich die schwere Holztür hinter ihr schloss, war sie schon außer Sichtweite.
Die erste Person auf der Liste, die ihr von ihrem anonymen Auftraggeber zugesandt worden war, hörte auf den Namen Regine und wohnte in der Nachbarschaft. Cora rüttelte einmal an der Haustür, stellte fest, dass sie verschlossen war, und grinste zufrieden. Manchmal versagten die Schließmechanismen, was ihr den Eintritt vereinfachte, doch sie mochte die Herausforderung. Selbstsicher zückte sie ihren Draht, den sie stets bei sich führte, und ließ ihn gekonnt ins Schlüsselloch gleiten. Sie musste bloß zweimal daran drehen, bis der Schließzylinder nachgab und ihr den Weg ins Innere des charmant wirkenden Altbaus freigab. Beinahe unhörbaren Schrittes schwebte sie die Treppe hinauf, eine Etage, zwei, bis sie vor der letzten Hürde stand. Auch diesmal lief es wie am Schnürchen: Das Schloss knackte leise. Sie würde nicht viel Zeit benötigen, es würde genügen, die Tür anzulehnen. Nach einer kurzen Analyse des Wohnungsgrundrisses schlich sie ins zweite Zimmer auf der linken Seite. Ihr Ziel, Regine, lag bäuchlings auf dem Bett und atmete gleichmäßig durch den Mund.
Cora war die beste Agentin in der Firma, was nicht nur an ihren besonderen handwerklichen Fähigkeiten lag, sondern auch – und das war im Grunde die wichtigste Eigenschaft – an ihrer bemerkenswerten Diskretion. Unbemerkt stellte sie den kleinen Karton neben dem fremden Bett auf den Boden und öffnete ihn. Sie nahm eine der neun Spritzen heraus, die ihr Auftraggeber sorgfältig befüllt hatte, und schnipste mehrmals mit ihrem Zeigefinger dagegen, um die kleinen Luftbläschen zu beseitigen, die sich gebildet hatten. Nun kam es auf absolute Präzision an: Sie musste den richtigen Muskel im Oberarm der Zielperson treffen, um die Lösung zu verabreichen. Es handelte sich um Comirnaty, das beste Vakzin, das ihr Auftraggeber bisher entwickelt hatte; tatsächlich konnte es einen beinahe vollständigen Schutz vor der Seuche gewährleisten, die sich mit zunehmender Geschwindigkeit verbreitete. Einerseits frustrierte es Cora zutiefst, dass Menschen das Präparat verweigerten – andererseits sorgten genau diese Menschen für das ansehnliche Honorar, das sie monatlich bezog. „Dummheit ist der Reichtum der Schlauen“, dachte sie amüsiert, während sie die Spritze entleerte.
Nachdem sie das Gebäude verlassen hatte, setzte Cora hinter Regine ein Häkchen und inspizierte die Liste. Acht weitere Namen standen darauf, die Adressen lagen alle im Umkreis. In ihrem letzten Einsatz hatte sie quer durch die Stadt fahren müssen, um sich alle Zielpersonen vorzunehmen, was beinahe die ganze Nacht gekostet hatte. Nun würde sie, sofern alles nach Plan lief, vor dem Morgengrauen zu Hause sein. David würde ihre Abwesenheit erneut nicht bemerkt haben, daran bestand nicht der geringste Zweifel. Es belustigte Cora zunehmend, dass er davon ausging, der Hauptverdiener zu sein – aber sie ließ ihn gern in diesem Glauben. Als der Karton leer und die Dosen verabreicht waren, machte sie sich auf den Heimweg. Um halb sechs betrat sie die gemeinsame Wohnung, hängte ihren Mantel an den Haken und setzte sich auf die Bettkante. Das Schnarchen, in das sich das gleichmäßige Ausatmen mittlerweile verwandelt hatte, verstummte. „Hallo“, sagte David und sah sie durch kleine, verschlafene Augen an. „Wieso bist du wach?“ Cora lächelte. „Musste nur aufs Klo“, antwortete sie leise. „Schlaf ruhig weiter.“