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Auf eine Zigarettenlänge
Niedermeier stand auf der Brüstung. Nur vorbeugen, dann ist es aus. Sein Oberkörper wiegte leicht hin und her. Jetzt mach schon! Er hörte seine eigenen Gedanken so laut wie seinen Puls. Er griff in seine Jackentasche. Die Briefe waren da. Alle würden wissen warum, sogar der Wutke. Würde es ihm Leid tun?
Sieben Stockwerke unter ihm kam jemand aus der Tür und stellte sich in die Raucherecke. Scheiße, ausgerechnet jetzt. Okay, eine Zigarettenlänge warte ich noch … Es sei denn es ist der Wutke … Nein der Dreckskerl ist Nichtraucher.
Wie lange ist eigentlich eine Zigarettenlänge? Oder ist es der Typ mit der Pfeife? Nein, das ist eine Frau. Ach so, das ist die Dicke mit den kurzen Haaren. Übergewicht und Rauchen – da tut sie sich keinen Gefallen. Komisch, dass mir das immer einfällt, wenn ich diese Frau sehe.
Schade, dass es nicht der Wutke ist. Aber der raucht ja nicht … Aber es wäre das Beste, wenn’s der Wutke wär‘. Dann würde er gleich sehen, was er gemacht hat. Am liebsten würde ich ihn mitnehmen. Das wäre irgendwie lustig. Die letzten 25 oder 30 Meter, oder wieviel das ist, würden wir dann gemeinsam gehen. Na, ja, gehen ist ja nicht ganz richtig. Sagt der blöde Sack zu mir: „… den Weg gehen wir zusammen.“
Wieso sagt der so ‘nen Scheiß? Den Weg gehen wir zusammen? Was soll das? Er geht doch nicht. Ich soll gehen. Und wohin soll ich gehen? Jetzt wo die Erna weg ist. Niedermeier rieb sich die Hände. Dann rieb er seine Oberarme. Ich hätte meinen Mantel anziehen sollen, dann wär‘ mir nicht so kalt. Oder besser ich hätte mir Wutkes Mantel gekrallt. Das wäre ein stilvoller Abgang – in Wutkes Armani-Mantel. Ach was, von dem würde ich nichts anziehen wollen. Da wär‘ mir eine Lungenentzündung lieber. Na, ja, die krieg‘ ich jetzt nicht mehr. Wie lange ist da eigentlich die Inkubationszeit? Was soll’s? Ist jetzt auch egal.
Niedermeier trippelte hin und her. Seine Fußspitzen waren kalt. Machen Sie einfach lange Urlaub. Er schüttelte vehement den Kopf. Sagt man so was, wenn man einen entlässt? Urlaub? Wie lang? Bis zur Rente? Ich bin erst siebenundfünfzig. Und wohin? In den Harz? Das war clever. Das hatte er nicht erwartet. Da hat er geschluckt. Aber nur einmal. Die Drecksau ist gerissen. … Den Weg gehen wir zusammen. Sie bleiben bis Quartalsende. Dann nehmen sie noch ein Monatsgehalt extra mit.
Jetzt wird’s aber langsam kalt. Wie lange braucht die denn für eine Zigarette? Niedermeier rieb sich die Oberschenkel. Wenn der Wutke wenigsten ehrlich gesagt hätte, Herr Niedermeier, Sie sind zu alt und zu teuer. Nein, er behauptet, Ihre Leistung hat mächtig nachgelassen. Die Qualität ist nicht mehr ausreichend. So ein Blödsinn. Ich mache soviel wie die andern und nicht schlechter. Aber ich mach‘ halt die Spielchen nicht mit. Diese nutzlosen Projekte, die er dem Vorstand als ganz große Innovationen verkaufen kann.
Vielleicht wär mir der Wutke egal, wenn die Erna noch da wär‘. Die Scheidung okay … aber jetzt wo sie wieder geheiratet hat … Ob sie’s juckt, wenn ich springe? Wenn sie zurückgekommen wäre, wär‘ alle anders. Aber das mit dem Wutke … Er könnte mein Sohn sein. Es tut so weh von so einem Schnösel so behandelt zu werden.
Niedermeier blickte hinunter zur Raucherecke. Ich glaube jetzt ist’s so weit. Noch zwei Schritte bis zur Tür, dann … Vielleicht geb‘ ich ihr noch ‘ne Minute. Meine Hirnmasse muss ich ihr ja nicht auf den Hosenanzug spritzen. Oh Shit, was ist das? Sie kommt zurück und … ist das nicht der Pfeifenraucher? Dann wird das heute nichts mehr.
Zwei Tage später tritt Niedermeier mit einer großen Sporttasche durch Wutkes Bürotüre. „Auf ein Wort Herr Wutke.“
„Jetzt nicht, lassen Sie sich von der Sekretärin einen Termin geben!“
Niedermeier schließt die Tür von innen und rollt einen Bürostuhl unter die Türklinke. „Nein Herr Wutke, ich bin gleich fertig.“
„Aber …“
„Vorgestern war ich oben auf der Dachterrasse und wollte springen. Gestern hatte ich einen Tag frei und war beim Paintball.“ Er öffnet die Sporttasche und zieht einen Paintball-Markierer heraus. „Und heute, Herr Wutke, mache ich das mit dem Markierer, was ich am liebsten mit einer Pumpgun machen würde.“ Er gibt drei Schüsse auf Wutke ab. Die Farbgeschosse zerplatzen auf seinem Hemd. Wutke hechtet unter den Schreibtisch und wimmert.
„So, Herr Wutke, jetzt können Sie das tun, was sie so wie so gern tun wollten: mich fristlos entlassen. Und ich – ich lebe und fühle mich pudelwohl.“