Auf eine andere Art
Ich sehe Leute, Hunderte.
Sehe die alte Dame aus der zweiten Etage, mit der faltigen Haut und dem leichten Geruch nach Mottenkugeln.
Sehe den dicken Postboten, immer mit dem penetranten Schweißgeruch und der nicht zu ihm passenden schlanken Stimme.
Sehe den derben Bauarbeiter, der stets von einer dünnen Staubschicht überzogen zu sein scheint, mit kräftigen, schwieligen Händen, der sich regelmäßig bemüht seinen Händedruck im Zaum zu halten.
Sehe die Frau am Kiosk, die alle Neuigkeiten der Straße kennt und ein wohlwollendes Interesse an persönlichen Entwicklungen hat.
Sehe die nervöse Schulleiterin, mit ihrem dezenten Hauch von Channel No. 5 und klobigen Ringen an ihren feuchten Fingern.
Ich sehe sie alle, nehme ihre Persönlichkeit wahr und staune über die Vielfältigkeit der Menschen.
Und ich sehe dich. Atme dein schulterlanges Haar, die hohe Stirn, deine dichten Augenbrauen. Sehe die leicht gekrümmte Nase, die dir unnötigerweise so viel Kummer zu machen scheint. Deine vollen Lippen, die so oft meinen Körper liebkosend erforschen. Sehe deinen Geruch, vertraut und einzigartig. Die Grübchen, die deinen Hang zum Lächeln unterstreichen und, wenn sie hervortreten, deine Gedanken wie ein offenes Buch freilegen. Sehe dein forderndes Kinn, eckig und willensstark. Deinen schlanken, vornehm wirkenden, Hals, der sich üblicherweise hinter den Haaren versteckt.
Ich sehe deine Schultern, die warmen Höhlen der Schlüsselbeine, den leichten, knochigen Übergang zu den Oberarmen. Ich sehe deine Haut, feinporig und zart, die sich wie ein Neugeborenes anfasst. Die festen Wölbungen deiner Brüste, mit den Nippeln, die sich beim leisesten Hauch aufrichten und nach mehr verlangen. Sehe die Bauchmuskulatur mit ihren intensiv herausgebildeten Muskelsträngen.
Ich sehe die schlanken Hüften, deinen Bauchnabel, der, nach innen gewölbt, dich stets ärgert, weil sich Fussel darin verfangen. Das kleine Loch des Piercings, das meist leer ist, wenn ich dich betrachte. Sehe die kleine, kaum erkennbare Erhöhung der Blinddarmnarbe, Erinnerung an fünf Tage Alleinsein. Die kurzen, widerspenstigen, dichten Haare des Venushügels. Die festen, langen Oberschenkel, die dezent in die Knie übergehen. Sehe die kleinen, hauchzarten Haare an den Schienbeinen, die du dir jede Woche abrasierst. Deine schlanken Fesseln, die erotisierenden Füße und den kleinen Zeh, den ich gestern erst küssen durfte.
Ich sehe das alles und meine Gefühle pressen es in das Papier, damit ich nie vergesse. Ich schreibe es in der einzigen, mir bekannten Art - in Braille.
[Beitrag editiert von: querkopp am 12.04.2002 um 09:28]