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Auf eine andere Art

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02.03.2002
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Auf eine andere Art

Ich sehe Leute, Hunderte.

Sehe die alte Dame aus der zweiten Etage, mit der faltigen Haut und dem leichten Geruch nach Mottenkugeln.
Sehe den dicken Postboten, immer mit dem penetranten Schweißgeruch und der nicht zu ihm passenden schlanken Stimme.
Sehe den derben Bauarbeiter, der stets von einer dünnen Staubschicht überzogen zu sein scheint, mit kräftigen, schwieligen Händen, der sich regelmäßig bemüht seinen Händedruck im Zaum zu halten.
Sehe die Frau am Kiosk, die alle Neuigkeiten der Straße kennt und ein wohlwollendes Interesse an persönlichen Entwicklungen hat.
Sehe die nervöse Schulleiterin, mit ihrem dezenten Hauch von Channel No. 5 und klobigen Ringen an ihren feuchten Fingern.
Ich sehe sie alle, nehme ihre Persönlichkeit wahr und staune über die Vielfältigkeit der Menschen.

Und ich sehe dich. Atme dein schulterlanges Haar, die hohe Stirn, deine dichten Augenbrauen. Sehe die leicht gekrümmte Nase, die dir unnötigerweise so viel Kummer zu machen scheint. Deine vollen Lippen, die so oft meinen Körper liebkosend erforschen. Sehe deinen Geruch, vertraut und einzigartig. Die Grübchen, die deinen Hang zum Lächeln unterstreichen und, wenn sie hervortreten, deine Gedanken wie ein offenes Buch freilegen. Sehe dein forderndes Kinn, eckig und willensstark. Deinen schlanken, vornehm wirkenden, Hals, der sich üblicherweise hinter den Haaren versteckt.
Ich sehe deine Schultern, die warmen Höhlen der Schlüsselbeine, den leichten, knochigen Übergang zu den Oberarmen. Ich sehe deine Haut, feinporig und zart, die sich wie ein Neugeborenes anfasst. Die festen Wölbungen deiner Brüste, mit den Nippeln, die sich beim leisesten Hauch aufrichten und nach mehr verlangen. Sehe die Bauchmuskulatur mit ihren intensiv herausgebildeten Muskelsträngen.
Ich sehe die schlanken Hüften, deinen Bauchnabel, der, nach innen gewölbt, dich stets ärgert, weil sich Fussel darin verfangen. Das kleine Loch des Piercings, das meist leer ist, wenn ich dich betrachte. Sehe die kleine, kaum erkennbare Erhöhung der Blinddarmnarbe, Erinnerung an fünf Tage Alleinsein. Die kurzen, widerspenstigen, dichten Haare des Venushügels. Die festen, langen Oberschenkel, die dezent in die Knie übergehen. Sehe die kleinen, hauchzarten Haare an den Schienbeinen, die du dir jede Woche abrasierst. Deine schlanken Fesseln, die erotisierenden Füße und den kleinen Zeh, den ich gestern erst küssen durfte.

Ich sehe das alles und meine Gefühle pressen es in das Papier, damit ich nie vergesse. Ich schreibe es in der einzigen, mir bekannten Art - in Braille.

[Beitrag editiert von: querkopp am 12.04.2002 um 09:28]

 

Moin Querkopp.

Ohhhh, eine Liebeserklärung *schmacht* *dahinschmelz*, wie liebevoll und niedlich!

Nun, nachdem ich meine grauen Zellen angestrengt habe, man bedenke die Zeit, und "Braille" doch eine Blindenschrift ist(?) Ich bin mir jetzt gar nicht so sicher :eek: .
Doch, es ist eine Blindenschrift, alles klar, hat die Geschichte ja auch noch einen gewissen Tiefgang. Beim ersten Lesen befürchtete ich, dass dies nicht so sei, sondern eine "einfache" Liebesgeschichte.
Unter diesen neuen Aspekt gefällt mir deine Geschichte wesentlich besser.Den Anfang deiner Kg fand ich sie recht verwirrend und kompliziert ausgedrückt.
Einige Kritikpunkte:

Sehe den dicken Postboten, immer mit dem penetranten Schweißgeruch und der nicht zu ihm passenden schlanken Stimme.
schlanke Stimme, den Ausdruck habe ich noch nie gehört, finde ihn nicht so passend, wie wärs mit piepsiger Stimme, oder hoher Stimme oder Chorknabenähnlicher Stimme?

Sehe den derben Bauarbeiter, der stets von einer dünnen Staubschicht überzogen scheint, mit kräftigen, schwieligen Händen, der sich regelmäßig bemüht seinen Händedruck im Zaum zu halten.
...überzogen zu sein scheint,...

Sehe die Frau am Kiosk, die alle Neuigkeiten der Straße kennt und ein wohlwollendes Interesse an persönlichen Entwicklungen hat.
Der Satz hat mir besonders gefallen.

Deinen schlanken, vornehm wirkenden, Hals, der sich üblicherweise hinter den Haaren versteckt, einen dünnen Schwitzfilm am Haaransatz hinterlassend.
irgendwie stört mich der dünne Schwitzfilm, hört sich etwas seltsam an.

Aber ansonsten, tolle Idee mit einer daraus resultierenden tollen Geschichte!

Lieben Gruß
Maya

 

Hiho!

Auch ich finde die Geschichte nicht schlecht (obwohl ich eigentlich von Liebeserklärungen nicht so viel halte... :rolleyes: ); schön geschrieben und beschrieben.
Aber auf das mit der Blindenschrift am Ende wär ich nicht gekommen... :eek:

Griasle!
stephy

 

Hi

Schön romantisch.
Hat mich heute Morgen richtig aufgebaut.

Ich nehme meinen Mann heute mal öfter in den Arm.
:D

Rub.

 

sehr komische wendungen hast du dabei, wie maya das schon andeutet. die stören ein wenig in der sonst so schönen geschichte. gefällt mir wie du jeden zentimeter beschreibst. allerdings kannst du keine gerüche sehen, da wirds merkwürdig.
erinnert mch an die auto werbung!

 

Lieber querkopp,

fast hätte ich übersehen, dass da ja wieder ein frischer Text von dir aufgelegt worden ist.
Diese Liebeserklärung hat mir gefallen, weil sie nicht in Kitschigkeit zu ertrinken drohte.
Ich selbst beurteile solche Texte immer danach, wie sehr sie bei mir die Sehnsucht auslösen, diese geliebte Person sein zu wollen.
Wie sehr ich mir also wünsche, dass diese Worte allein für mich gedacht sind.
Und bei deiner Geschichte wär ich es gern gewesen. :rolleyes:

Nun zum kritischen Teil deiner Geschichte. Mich hat gestört, dass sie einer gewissen Unlogik nicht entbehrte. In Brailleschrift zu schreiben heißt dann wohl, dass der Protagonist(ich hasse dieses Wort immer noch, aber es ist nun wohl mal gebräuchlich!)blind ist.

Jedenfalls gehe ich nicht davon aus, dass seine Geliebte blind ist oder habe ich da was falsch verstanden?
Wenn er blind ist, dann kann er schlichtweg nichts sehen, es müßte daher von dir anders formuliert werden, was du ja auch zum Teil getan hast. Deine Formulierung, er atmet ihr Haar z.B. ist so eine und obendrein sogar sehr schöne.
Soweit also deutlich davon berichtet wird, dass der Protagonist etwas sieht, entbehrt dann die Geschichte der gehörigen Logik.
Und diejenigen Eindrücke, die er nur riechen kann, solltest du auch so darstellen, man kann Gerüche nicht sehen. Ich weiß nur von Menschen, die Töne, Klang, Laute in Farben sehen können.

Liebe Grüße
elvira

 

Hi, hab mir mal die anderen Kritiken angesehen.
Also ich muß Dich in Schutz nehmen.
Blinde " sehen" mit den Sinnen.
Blinde Menschen werden Dir das bestätigen.

Sie entfinden alles um sie herum als durchaus visuel.

In diesem Sinne ;)

Alles liebe

Rub.

 

Ok Rub. das ist mir wohl bekannt und ich denke Blinde hätten auch keine Probleme, das Wort "Sehen" für sich auszufüllen.
Nur innerhalb dieser Geschichte wird keineswegs deutlich, dass es sich um diese Art "Sehen" handelt.

Außerdem frage ich mich in diesem Zusammenhang dann, was die Geschichte eigentlich für einen Wert hätte, wenn es sich nicht um einen Blinden handelt? Einfach den, dass sie nach wie vor gut wäre und der kleine Überraschungseffekt wegbliebe, der aber, was die Romantik anbelangt, auch zu dieser nichts beigetragen hatte.
Ich denke diese Geschichte würde bequem ohne diesen Überraschungseffekt auskommen.
Und sie wäre obendrein auf einmal logisch. ;)

elvira

 

Hi lakita,

sicherlich hast Du recht.
Aber Romantik und Logik passen zusammen wie Ananas mit Ketchup.


:D

Nichts desto Trotz. Ne tolle Geschichte, so oder so.

Greetings

Rub.

 

freundliches Hallo und Danke an alle.

Tatsache ist, mein Protagonist (wenn mir jemand einen vernünftigen Ersatz dafür nennt, will ich ihn gern gebrauchen, damit meine lieben Leser nicht abgelenkt werden :) ) ist blind. Er kann nicht sehen, nutzt jedoch trotzdem dieses Wort, als eine "Krücke", eine Metapher (für ihn), um seine Außenseiterrolle, in der Gesellschaft zu überspielen.
Blinde, habe ich mir sagen lassen, nehmen ihr Umgebung mit allen Sinnen intensiver wahr, als wir "Normalen". Sie gleichen damit ihr Defizit oft mehr als aus.
Wir sind doch in erster Linie visuell gesteuert (über Triebe reden wir jetzt nicht :) ), daher bezeichnet mein Protagonist das, was er am intensivsten wahrnimmt als "sehen"; um damit gleichzeitig hervorzuheben, dass es sich um seine stärksten Wahrbehmungen handelt.

Insofern dachte (und denke) ich mir, diese unlogischen Aussagen ruhig stehen lassen zu können (schlanke Stimme - eine Assoziation beim Hören; das Sehen der Gerüche, das Atmen des Haares, etc). Wenn ich die Kritiken richtig verstehe, irritiert das zwar, aber nicht so sehr, um die Geschichte schlecht zu finden. Aber man stutzt und beginnt darüber nachzudenken, da freut sich der Autor :D

Was mich ein wenig wundert, ist dass keiner etwas zur Rubrik Gesellschaft gesagt hat, in der eine Liebeserklärung vielleicht nicht richtig untergebracht ist.

Gruß vom Anti-Logiker
querkopp

 

Hi Kristin,

vorab Danke für´s Lesen, deinen Kommentar und deine Empfehlung! (über die ich mich sehr freue).

Was mich besonders freut:

dass mir kaum aufgefallen ist, dass keine wirklich sichtbaren Äußerlichkeiten beschrieben werden...
So wird deutlich, wie "unsensibel / undifferenziert" man mit seinen Wahrnehmungen umgeht (Feststellung, kein Vorwurf). Das Wunder der Möglichkeit unterschiedlicher Sinneseindrücke wird leider meist erst dann wahrgenommen, wenn etwas fehlt.
Und wenn die Leser noch ein zweites Mal an den Anfang der Geschichte gehen, habe ich irgend einen Nerv getroffen. :)

Weiter so, Kristin :D

Gruß vom querkopp

 

Hallo querkopp,

diese Geschichte hat die Empfehlung mehr als verdient. Sie ist wunderbar leicht, ich bereue, sie nicht früher gelesen zu haben.

Es wäre ein großer Fehler gewesen, etwas an den "unlogischen" Stellen zu ändern, der Text hätte dadurch nur verlieren können.

Deine Geschichten (und btw. auch Deine Beiträge zu Diskussionen!) sind es immer wieder wert, gelesen und weiterempfohlen zu werden.

lg Sav

 

Hi Sav,

Danke für den äußerst lesenswerten Kommentar :D und das Hervorkramen aus der Versenkung.
Lieber Gruß
Maris

 

Hallo querkopp,

in der Einführung kann man im Nachhinein schon Hinweise auf einen Blinden `sehen´ (dieses Wort wird öfters Doppeldeutig gebraucht, wie in `ich sehe hierin keinen Grund...´). Riechen, tasten, spielt eine große Rolle und die „schlanke Stimme“ empfand ich als erfrischend treffend, man macht sich doch auch so seine Vorstellungen am Telephon. Der bewußt zurück gehaltene, kräftige Händedruck bereitet schon auf die weiteren, viel privateren Berührungen vor, und bevor die Geschichte dann doch nur (wieder `mal) eine soft- erotische Liebeserklärung wird, kommt der tolle Schluß...
Aber die Rubrik Gesellschaft ... da müßte ich doch schon sehr verwegene Schlüsse ziehen...

Tschüß... Woltochinon

P.S. Blinddarm OP unter dem Aspekt des Verlassen- Seins zu sehen - echt gut!

 

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