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Auf die Sekunde....
Auf die Sekunde....
Das gleißende Licht der untergehenden Sonne strahlte in kräftigem Rot durch die großen Scheiben und malte bewegungslose, bizarre Schatten auf die gegenüberliegende Wand.
Die Fenster waren geschlossen, das Leben von der Außenwelt drang nur schwer mit dumpfem Murmeln und entferntem Stampfen herein. Im Raum herrschte Stille.
Nur das leise Klicken, wenn die Sekunden in der Uhr umsprangen, wirkten wie Hammerschläge auf die angespannten Nerven von Dölb und seinem jüngeren Partner Rennep.
Dölb war erfahrener. Er war an die Sechzig und würde bald weg sein.
Rennep war erst seit gut einem Jahr dabei, wusste aber schon vom ersten Tag an, worum es ging.
Fast bewegungslos saßen sie da, ihre dicken Winterjacken wegen der Wärme im Haus noch geöffnet.
Dölb war der elegantere von beiden. Er war untersetzt, wirkte korrekt und gepflegt, trug stets einen Aktenkoffer bei sich. Es gab eine Zeit, da sah man ihn in der Öffentlichkeit nie ohne Hut. Rennep war eher lässig und strahlte jugendlichen Elan aus. Seine blonden, strähnigen Haare fielen fast bis auf die Schultern und in der leicht zerknitterten Kleidung wirkte er etwas vernachlässigt. Sein alter, abgewetzter Rucksack lag griffbereit vor ihm auf dem Boden.
Sie sprachen nicht miteinander. Sie warteten. Ihre Blicke hatte sich an der Uhr festgesaugt.
Jede Sekunde, die verging wurde gezählt.
Noch acht.
Es schien, als würde Rennep jede Anzeige einer neuen Sekunde mit einem zusätzlichen, nervösen Herzschlag quittieren.
Noch sechs.
Hin und wieder trafen sich doch ihre Blicke, als Bestätigung, dass der jeweils Andere auch genau über den Stand der Anzeige informiert war.
Dölb hielt seine Hände ruhig vor sich auf der Tischplatte. Er hatte Routine, doch der Schweiß, der sich unter seinen Händen bildete, verriet seine Nervosität.
Noch vier Sekunden.
Rennep stand auf und griff nach dem Rucksack.
Dölp drehte sich vom Tisch weg und schob den Oberkörper leicht nach vorn.
Noch drei, zwei, eins,
Null.
Rennep spurtete wie von der Sehne geschossen los, an Dölb vorbei und riss die Tür auf. Dölb stürmte hinterher.
Gemeinsam hasteten sie den langen Gang entlang. Rennep war bedeutend schneller und ließ den Älteren, der sich Mühe gab mitzuhalten, bald hinter sich. Vor einer Biegung verlor Dölb seinen Partner vollends aus den Augen.
Dölbs Atem rasselte wild. Bald gab jeder Schritt, den er lief, ein Signal an den Rücken, wo ihm stechende Schmerzen durch die Knochen zogen. Er musste trotzdem schneller werden.
Hinter sich hörte er das Trampeln hunderter Schritte.
Rennep war weg, aber er hätte ihm ohnehin nicht genützt.
Das infernale Getöse hinter seinem Rücken wurde immer lauter. Rufe hallten durch die Flure und holten ihn ein. Die Stimmen wurden lauter. Höllisch laut. Dölb gab sein Bestes und mobilisierte die letzten Kräfte. Er meinte, Atem zu spüren, rhythmische Geräusche von Leder, Kleidung. Ein Stakkato von Schritten.
Dann ein Schatten neben ihm, ein Stoß von der Seite, von hinten.
Dölb strauchelte, stürzte und versuchte, sich vor der gigantischen Welle stampfender Füße und wirbelnder Beine zu schützen. Er warf die Hände vor sein Gesicht, verlor den Koffer.
Tritte trafen ihn in den Rücken, in die Seite. Gerade noch rechtzeitig konnte er seinen Kopf vor einem mächtigen Stiefeltritt zur Seite werfen.
Und dann verloren sich die Gestalten und die Schatten in der Tiefe des Ganges.
Es war vorbei!
Einige tiefe Atemzüge lang blieb Dölb liegen, dann untersuchte er sich flüchtig auf mögliche Verletzungen. Er hatte Glück gehabt.
Erschöpft schob er sich an der Wand hoch. Der Koffer lag ein gutes Stück von ihm entfernt.
Der Rahmen war gebrochen, der Griff abgerissen.
Langsam schob sich Dölb an der Wand entlang weiter.
Hinter der nächsten Biegung ließ die fast vergangene Sonne ihre letzten Strahlen durch das breite Tor ins Gebäude scheinen.
Dölb hatte Mühe, die Stufen ins Freie hinunterzusteigen.
Am Fuß der Treppe blieb er stehen und schaute auf die ausladende Inschrift über dem Portal.
„Stadtverwaltung“
Jeden Feierabend dasselbe, er sollte endlich in Rente gehen.