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Auf die Sekunde....

Seniors
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23.07.2001
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Auf die Sekunde....

Auf die Sekunde....


Das gleißende Licht der untergehenden Sonne strahlte in kräftigem Rot durch die großen Scheiben und malte bewegungslose, bizarre Schatten auf die gegenüberliegende Wand.
Die Fenster waren geschlossen, das Leben von der Außenwelt drang nur schwer mit dumpfem Murmeln und entferntem Stampfen herein. Im Raum herrschte Stille.
Nur das leise Klicken, wenn die Sekunden in der Uhr umsprangen, wirkten wie Hammerschläge auf die angespannten Nerven von Dölb und seinem jüngeren Partner Rennep.
Dölb war erfahrener. Er war an die Sechzig und würde bald weg sein.
Rennep war erst seit gut einem Jahr dabei, wusste aber schon vom ersten Tag an, worum es ging.
Fast bewegungslos saßen sie da, ihre dicken Winterjacken wegen der Wärme im Haus noch geöffnet.
Dölb war der elegantere von beiden. Er war untersetzt, wirkte korrekt und gepflegt, trug stets einen Aktenkoffer bei sich. Es gab eine Zeit, da sah man ihn in der Öffentlichkeit nie ohne Hut. Rennep war eher lässig und strahlte jugendlichen Elan aus. Seine blonden, strähnigen Haare fielen fast bis auf die Schultern und in der leicht zerknitterten Kleidung wirkte er etwas vernachlässigt. Sein alter, abgewetzter Rucksack lag griffbereit vor ihm auf dem Boden.
Sie sprachen nicht miteinander. Sie warteten. Ihre Blicke hatte sich an der Uhr festgesaugt.
Jede Sekunde, die verging wurde gezählt.
Noch acht.
Es schien, als würde Rennep jede Anzeige einer neuen Sekunde mit einem zusätzlichen, nervösen Herzschlag quittieren.
Noch sechs.
Hin und wieder trafen sich doch ihre Blicke, als Bestätigung, dass der jeweils Andere auch genau über den Stand der Anzeige informiert war.
Dölb hielt seine Hände ruhig vor sich auf der Tischplatte. Er hatte Routine, doch der Schweiß, der sich unter seinen Händen bildete, verriet seine Nervosität.
Noch vier Sekunden.
Rennep stand auf und griff nach dem Rucksack.
Dölp drehte sich vom Tisch weg und schob den Oberkörper leicht nach vorn.
Noch drei, zwei, eins,
Null.
Rennep spurtete wie von der Sehne geschossen los, an Dölb vorbei und riss die Tür auf. Dölb stürmte hinterher.
Gemeinsam hasteten sie den langen Gang entlang. Rennep war bedeutend schneller und ließ den Älteren, der sich Mühe gab mitzuhalten, bald hinter sich. Vor einer Biegung verlor Dölb seinen Partner vollends aus den Augen.
Dölbs Atem rasselte wild. Bald gab jeder Schritt, den er lief, ein Signal an den Rücken, wo ihm stechende Schmerzen durch die Knochen zogen. Er musste trotzdem schneller werden.
Hinter sich hörte er das Trampeln hunderter Schritte.
Rennep war weg, aber er hätte ihm ohnehin nicht genützt.
Das infernale Getöse hinter seinem Rücken wurde immer lauter. Rufe hallten durch die Flure und holten ihn ein. Die Stimmen wurden lauter. Höllisch laut. Dölb gab sein Bestes und mobilisierte die letzten Kräfte. Er meinte, Atem zu spüren, rhythmische Geräusche von Leder, Kleidung. Ein Stakkato von Schritten.
Dann ein Schatten neben ihm, ein Stoß von der Seite, von hinten.
Dölb strauchelte, stürzte und versuchte, sich vor der gigantischen Welle stampfender Füße und wirbelnder Beine zu schützen. Er warf die Hände vor sein Gesicht, verlor den Koffer.
Tritte trafen ihn in den Rücken, in die Seite. Gerade noch rechtzeitig konnte er seinen Kopf vor einem mächtigen Stiefeltritt zur Seite werfen.
Und dann verloren sich die Gestalten und die Schatten in der Tiefe des Ganges.
Es war vorbei!
Einige tiefe Atemzüge lang blieb Dölb liegen, dann untersuchte er sich flüchtig auf mögliche Verletzungen. Er hatte Glück gehabt.
Erschöpft schob er sich an der Wand hoch. Der Koffer lag ein gutes Stück von ihm entfernt.
Der Rahmen war gebrochen, der Griff abgerissen.
Langsam schob sich Dölb an der Wand entlang weiter.
Hinter der nächsten Biegung ließ die fast vergangene Sonne ihre letzten Strahlen durch das breite Tor ins Gebäude scheinen.
Dölb hatte Mühe, die Stufen ins Freie hinunterzusteigen.
Am Fuß der Treppe blieb er stehen und schaute auf die ausladende Inschrift über dem Portal.
„Stadtverwaltung“
Jeden Feierabend dasselbe, er sollte endlich in Rente gehen.

 

Hallo Manfred!

Eine ziemlich kurze Geschichte, die du diesmal hier abgeliefert hast. Aber die Länge reicht, um die nette und unvorhersehbare Pointe beim Leser gut rüberzubringen.

Hab' die Geschichte beim zweiten Mal mit völlig anderen Augen gelesen. Und obwohl sie wohl teilweise (beabsichtigt) überzogen geschrieben ist (hektisches Gerenne), konnte ich auch vieles nachempfinden. Gefällt mir insgesamt gut.

Die Situation, in der sich Dölb und Rennep befinden, hast du sprachlich gut geschildert. Hab' mich während des Lesens neugierig gefragt, worauf die Geschichte wohl hinaus will.

Den Titel finde ich passend und gut gewählt.

Also, weiter so!

Viele Grüße,
Michael :)

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Michael,
schmunzeln über den öffentlichen Dienst, das können wir uns ja locker erlauben, Du bist drin (wenn ich richtig gesehen habe) und ich auch. Wir wissen, daß die Realität anders ist.
Eigentlich gehört sie ja unter Humor aber da erwartet man wohl mehr und im Abgleich meine ich, hat sie mehr Spannung als Humor.
Schön, daß sie Dir gefallen hat.

Hallo Chief,
Du hast recht. Um die Charaktere deutlicher zu zeichnen, hat die Geschichte nicht genug Inhalt. Bei so einem kleinen, mageren Ding darf man nichts auswalzen.
Ja, und die Sonne hab ich dann auch am Leben gelassen.
Danke fürs Lesen.

Hat sich eigentlich keiner über die Namen gewundert?

Gruß Manfred

 

Hallo noch mal!

Die Namen sind mir schon aufgefallen. Allerdings weiß ich nicht, was ich mit ihnen anfangen soll, da sie mir persönlich nichts sagen. :confused:

Dass ich im öffentlichen Dienst bin, ist richtig. :)

Was die Rubrikenauswahl anbelangt, finde ich Spannung ebenfalls besser geeignet wie Humor, da ersteres wirklich überwiegt.

Grüße - Michael :)

 

Hallo, Dreimeier!

Ein Paradestück aus dem bürokratischen Leben, wie es in den Köpfen der Allgemeinheit zu existieren beliebt, hast Du da mit leichter Feder hingezaubert!
Werde mich bezüglich des brisanten Inhalts später noch einmal zu Wort melden.

@ Michael:

Hey, Mann! Das finde ich wirklich nett von Dir. Du willst mir schon wieder den Vortritt lassen. Danke, Du Kavalier alter Schule!
Also, dann:
die Bedeutung der Namen ergibt sich durch Rückwärts-Lesen. Dölb = Blöd und Rennep = Penner.


Ciao
Antonia

 

@ Antonia:

Hey, Mann! Das finde ich wirklich nett von Dir. Du willst mir schon wieder den Vortritt lassen. Danke, Du Kavalier alter Schule!
Sieht fast so aus, als ob ich geahnt hätte, dass du die Geschichte noch liest. :D
Und ich konnte dir doch nicht die ganze Arbeit wegnehmen! ;)

Aber danke mal wieder für die Aufklärung! Hätte sonst noch ein wenig länger herumgerätselt.

Trotzdem hätte ich draufkommen müssen. :bonk:

Grüße,
Michael :)

 

Hallo Antonia,
danke für Dein Lob.
Wegen des brisanten Inhalts willst Du Dich noch einmal melden? Bekomme ich dann den Kopf gewaschen?:dozey:

Und noch mal danke an Euch allen, daß Ihr Euch für die Geschichte interessiert habt.
Freu, freu.:D :D
Gruß Manfred

 

Hallo, Dreimeier!

Bekomme ich dann den Kopf gewaschen?
Ganz und gar nicht! Mit "brisant" meinte ich, den Vorurteilen in Bezug auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst mit folgendem Kommentar womöglich Vorschub zu leisten. Aber, so wie´s aussieht, kriegt das eh kaum Jemand mit. ;)

Also:

Einige tiefe Atemzüge lang blieb Dölb liegen, dann untersuchte er sich flüchtig auf mögliche Verletzungen. Er hatte Glück gehabt.
Stimmt. Ein Kumpel von mir, Büroangestellter im ö. D., hatte vor Jahren einen Betriebsunfall, der beinahe böse endete. Wie das passierte? Er saß an seinem Schreibtisch, hatte nicht soo viel zu tun (eigentlich eher nichts) und bekam einen ganz schweren Kopf. Er stützte seinen linken Ellbogen auf dem Tisch ab, legte das Kinn auf die linke Faust und spielte, um sich abzulenken, rechtshändig mit einem angespitzten Bleistift. Irgendwann ließ seine Konzentration dann doch nach, der Kopf kippte nach vorn und verfehlte nur knapp ein Auge. Er hatte auch Glück gehabt.


@ Michael:

Gern geschehen! :D


@ Chief:

Freut mich, dass Dir ausnahmsweise auch einmal etwas entgangen ist. Passiert ja selten genug. CU


Gruß an Euch
Ciao
Antonia

 

Hallo Dreimeier,

eine prima gelungene Story! Ich denke, man kann sie auch auf das Leben an sich beziehen, so mancher wird in der Gesellschaft überrollt...

Tschüß... Woltochinon

 

Ich bin ja total erschlagen von der Resonanz.
Ich muß gestehen, daß die Geschichte keinen tieferen Sinn haben sollte. Ich war in alberner Stimmung und hab sie einfach runtergeschrieben.
Das Einfachste ist es dann, auf Minderheiten rumzuhacken. Ich mach das gern.
Im Ernst: Es gibt in der freien Wirtschaft sicher genauso viele Penner wie im öffentlichen Dienst, und hier wie da muß man arbeiten. Ausnahmen gibt es auch auf beiden Seiten.
In vielen Bereichen geht es den öffentlichen Dienstlern aber schlechter, weil sie von je her schlechter verdient haben und jetzt durch die Privatisierungen auch noch der Kündigungsschutz weg ist.
So. damit Ihr's wißt. :mad:
Aber, der Kollege, mit dem Bleistift am Auge.......heftig.
Genauso gefährlich, als wenn beim popeln der Finger in der Nase abbricht.
Liebe Grüße Manfred:D :D

Ha. Jetzt bin ich Senior:naughty:

 

Hi Dreimeier!
Mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen, wirklich. Besonders die Pointe am Schluss kommt sehr gut rueber:)

 

Hallo Dreimeier,
mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen, schon beim ersten Lesen, beim zweitenmal hat es noch mehr Spaß gemacht. Ich glaube ich werde sie noch einmal lesen...
Gruß vom Neuling CharlyM
:D :D :D

 

Hallo Charly

Deine Stellungnahme macht mich schon stolz.
Was will ein Autor mehr?

Danke fürs lesen und lieben Gruß
Manfred

 

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