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Auf der Treppe
Immer an Ostersonntag bekamen wir Besuch von unserer Verwandtschaft. In jenem Jahr waren meine Schwester Klara und ich spät dran. Auf mein Bitten hin hatte sie sich bereit erklärt, mir die Haare zu machen. Mit flinken Fingern flocht sie mir einen Bauernzopf, während wir über das Essen spekulierten.
Ein Klingeln an der Tür riss mich aus meinen Gedanken. Jemand ging in den Flur und öffnete die Haustür. Ich lauschte angestrengt, ohne Stimmen ausmachen zu können. Meine Schwester plauderte, als habe sie nichts mitbekommen. Kaum eine Minute später hörte ich Schritte auf der Treppe. Langsame, dumpfe Schritte, denen stets ein Poltern vorausging. Ein Poltern wie von einem Spazierstock, der gegen die Stufen stößt.
»Braucht Onkel Wilhelm jetzt einen Stock zum Gehen?«, fragte ich Klara, die mich verblüfft ansah.
»Wie kommst du darauf?«, entgegnete sie und fuhr mit mit dem Kamm über meine Schläfe. Ich lachte etwas zu schrill auf.
»Klara, bist du taub? Es hat eben geklingelt und irgendjemand kommt die Treppe herauf!« Es polterte erneut. »Hörst du das nicht?« Ich sehe heute noch Klaras Gesichtsausdruck vor mir.
Niemand hatte geläutet. Meine Mutter tat die Frage danach mit einem Kopfschütteln. Ich musste mich verhört haben. Außerdem war es an der Zeit, das Essen zu servieren.
Sie musste Recht haben. Sicher hatte ich mich verhört.
Am gleichen Abend starb meine Tante Lisbeth in unserem Ohrensessel. Sie hatte über Herzbeschwerden geklagt und sich ein wenig ausruhen wollen. Wir hatten sie alleine gelassen und als Mutter etwas später nach ihr sah, war sie tot. Sie war Vaters älteste Schwester und auch wenn sie nicht mehr jung gewesen war, kam ihr Tod überraschend. Mutter weinte, Vater trank zuviel und Klara dachte wehmütig an das letzte Weihnachten, das wir zusammen mit Tante Lisbeth verbracht hatten.
*
Vier Jahre darauf feierten wir den Geburtstag meiner Mutter gemeinsam mit meinen Großeltern und Onkel Wilhelm. Ich war gerade im Schlafzimmer, als es unten läutete. Kurz darauf hörte ich, wie jemand in das Wohnzimmer trat. Als ich mir den Pullover über den Kopf zog, stockte ich. Waren da eben Schritte auf der Treppe gewesen? Ich schloss die Augen und lauschte. Es polterte. Kein Zweifel. Mir schwindelte. Ich war wieder zwölf Jahre alt und saß im Badezimmer, wo Klara mir die Haare flocht, während irgendjemand die Treppe heraufkam. Ich sank auf mein Bett. Ich wollte schreien, wollte nach meinen Eltern rufen, aber gleichzeitig wagte ich keinen Laut von mir zu geben. Wer immer dort unten war, er sollte mich nicht hören, sollte nicht zu mir kommen, sollte keinen seiner gräßlichen Schritte mit diesem Poltern mehr machen! Ich wusste, dass niemand geläutet haben konnte, weil auch damals niemand geläutet hatte, doch was nützt alles Wissen, wenn man allein ist. Allein mit seiner Angst. Ich presste die Hände auf die Ohren und wartete.
Ich konnte nie sagen, wie lange ich dort saß, bis ich es wagte, die Hände herunterzunehmen und die Augen zu öffnen. Die Schritte waren verstummt. Ich wartete noch ein paar Minuten, ehe ich die Schlafzimmertür öffnete und auf den Flur trat. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Niemand war zu sehen. Mit halblauter Stimme rief ich nach meinen Eltern, beim dritten Mal antwortete meine Mutter. Wie beiläufig fragte ich, ob es nicht eben geläutet habe. Nein, hatte es nicht. Ich hatte nichts anderes erwartet.
Es ist schwer zu sagen, was ich empfand, als meine Mutter mich in der Nacht weckte und es mir sagte. Mir müssen die Tränen gekommen sein, denn ich weiß noch, wie Mutter mich in den Arm nahm und sagte, ich solle nicht weinen, Großmutter sei friedlich eingeschlafen. Doch auch sie weinte und wir beide wussten, dass nichts Friedliches diesem Abend war. Ich wusste es noch besser als sie.
*
So viele Jahre sind vergangen seit jenem Ostern und seit jenem Geburtstag. Manchmal kamen die Erinnerungen zurück und manchmal dachte ich lange Zeit nicht daran.
Heute hat es geklingelt. Ich bin krank und konnte nicht aufstehen. Ich nahm an, es sei der Postbote. Es klingelte wieder und wieder und wieder. Dann war es still. Wer immer es war, er hat aufgegeben. So glaubte ich.
Bis ich die Schritte hörte. Die Schritte und das Poltern. Gott, es kann nicht sein, die Tür ist verschlossen, sie muss es sein und niemand ist hier, der hätte aufmachen können, niemand!
Doch sie sind da. Ich höre sie. Schritte. Und mit jedem Schritt ein Poltern. Wie mit einem Spazierstock. Sie sind auf der Treppe. Sie kommen herauf. Ein Poltern und ein Schritt, ein Poltern und ein Schritt. Gott, wie lange noch, wie lange noch? Es hallt in meinem Kopf, ich kann nichts hören außer diesem Poltern und diesen Schritten, diesen verdammten Schritten. Es wird lauter und es kommt näher und es ...
Es klopft.
Es klopft an meiner Tür.