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Auf der Suche nach der Siebten Dimension

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28.02.2004
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Auf der Suche nach der Siebten Dimension

Was für ein Müll. Wieder hätte ich besser den Mund gehalten, anstatt vorschnell zu antworten. Und das alles, obwohl „Aus Fehlern lernen“ mein großer Vorsatz für das noch junge Jahr war. Aber das war eigentlich auch ein Widerspruch in sich. „Aus Fehlern lernen“ hätte nämlich bedeutet, mir keine Vorsätze für das neue Jahr zu nehmen. Aber als mich der erwartungsfrohe Blick meiner vom Champagner ausreichend emotionalisierten Begleitung, Leslie, in der noch jungen Silvesternacht durchbohrte, erlag ich ihrem sinnentleerten, fragendem Blick, und sagte „im kommenden Jahr möchte ich aus meinen Fehlern lernen.“ Da lächelte sie. Ich lächelte auch, weil mir klar wurde, dass ich bei ihr damit anfangen würde.

Und vorhin ist es mir wieder passiert. Nicht aus Fehlern gelernt. Wenn dich in der Fußgängerzone wer anspricht, gibt es nur eins, wenn du unbeirrt weiter deinen Weg beschreiten möchtest: Tue so, als verstehst du ihn nicht. Tue so, als hörst du ihn nicht. Das hilft in 99 von 100 Fällen. Für den anderen Fall bietet es sich an, den richtigen Satz parat zu haben. Bei der Unterschriftensammlung für eine Bürgerinitiative, ist man woanders gemeldet, geht es um ein Zeitungsabo, kann man nicht lesen. Kinoumfrage – Klaustrophobie.
Immer wenn ich wieder einen dieser Anwerber hab stehen lassen, fühle ich mich wie ein Großstadtchamäleon. Einer, der abzutauchen versteht, im entscheidenden Moment. Hendrixs „Crosstown Traffic“ begleitet mich dann auf meinem inneren Ohr.

Aber auf seine Frage war ich nicht gefasst. „Was wünschst du dir?“. Dieser kleidsame Nadelstreifenclown, der anstatt einer Pappnase ein Clipboard vor seinem Gesicht trug, fragte mich, was ich mir wünsche. Das hat mich schon lange keiner mehr gefragt.
Nicht dass er so gefragt hätte, als würde es einen Unterschied machen, was ich ihm antworten würde, denn für ihn gab es sicher nur eine Antwort. Seine Religion. Seinen Gott. Sein Clipboard. Ich war so im Stress, dass ich ihm, ohne mich nochmals um zu drehen, „Zeit“ antwortete. „Davon haben wir reichlich im Angebot“, rief er mir nach
Ich hätte nicht stehen bleiben sollen. Ich kann auch gar nicht genau sagen, weshalb ich Stehen blieb, vielleicht war es der unterschwellige Humor in seiner Antwort.

Jedenfalls nahm er mich gleich mit in ihr Kommunikationscenter. Deutsche Vermögensberatung AG prangte in gigantischen Kapitalien über dem Eingang. So hieß also seine Religion. Ich hatte mich schon gewundert, denn der Mann am Empfang trug einen 500 Euro-Anzug.
Bereits auf dem Weg zum Center hatte er mir von den 7 Dimensionen zu erzählen begonnen, auf denen alles beruht. Wie sie ihm geholfen haben, die sieben Dimensionen. Jede einzelne Stufe hat sein ganzes Leben verändert. Sieben Dimensionen, impfte er mir ein. So hieß also ihre Religion. „Das spannendste daran ist“, sagte er, „dass sie einzeln genommen, nicht viel bewirken, aber in der Summe, wenn alle 7 Zahnräder ineinander greifen, dann ist das Ganze weit mehr als die Summe aller Teile.“ Er zitierte Laotse, Respekt. „Die sieben ist eine göttliche Zahl“, erklärte er mir. Genau wie die 1, die 2, die 3, und vor allem die Null, dachte ich mir. Irgendwie erinnerten sie mich in ihren schicken Anzügen ein bisschen an Michael Endes graue Männer. Nicht genau hinterblickend, wen sie weshalb zu betrügen versuchen.

Wir betraten einen riesigen Konferenzraum, in dem bereits mehr als eine Handvoll
„Anwärter“ wie ich, ergeben auf die Erlösung von ihrem sinnlosen Dasein warteten.
Offensichtlich komplettierte ich die Runde, denn als ich mich gesetzt hatte, betrat der mutmaßliche Zirkusdirektor die Bühne. „Guten Tag, ich bin Klaus Merz. Ich arbeite seit über 30 Jahren für die Deutsche Vermögensberatung und bin der Direktionsleiter hier“, stellt er sich vor, während mein Clipboardclown ihn anblickte, als wäre er die Personifizierung der Siebten Dimension, Gott in Person. Sehr befremdend das Ganze. Er referiert die Geschichte seines Glaubens. „Die Deutsche Vermögensberatung, das ist mein Zuhause“, sagt er, „die haben mich zu dem gemacht, was ich bin.“
Und was bist du, fragte ich mich? Ein Zirkusdirektor in Nadelstreifen. Gut, mit öliger Haut und einem irren Blick, der jeden einzelnen Zuhörer derartig durchbohrt, dass man sich des Gefühls nicht erwehren kann, die Augen würden gleich aus dem Kopf austreten, um dann wie Satelliten um seinen Kopf zu kreisen für eine 360°-24/7-Umweltüberwachung. Allerdings folgt ihm keiner, in seinem Elan. Die Typen neben mir versuchen sich ihre Langeweile nicht anmerken zu lassen. Immer wieder wechseln sie ihre Sitzposition, nicken geschäftig. Nur einer macht einen besonders aufgeweckten Eindruck. Er hat sich einen der Kugelschreiber vom Tisch genommen und eine der Servietten, die unter den Gläsern auf dem Tisch liegen, und begonnen wie wild Notizen zu machen. Er schreibt sogar, wenn alle Schweigen.
Ich frage mich, ob er bezahlt ist. Vielleicht ein schlechter Schauspieler, vom Arbeitsamt vermittelt. Der Arme stand wohl schon so lange auf keiner Bühne mehr, dass sein jetziges Schauspiel so aufgeladen und überzogen wirkt, als gäbe eine alternde Filmdiva ihren Bühnenabschied. Oder er ist ein Glaubensjünger aus einer der unteren Kasten. Vielleicht 3. Dimension, oder so, schätze ich. Aber so recht kann er keinen anstecken.
Als der Meister mit der öligen Haut den Beamer anschmeißt und das fette “D“, mit der „7“, daneben auf der Leinwand erscheint, ist es uns allen klar. Die sieben Dimensionen. Die zwölf Gebote. Das dreckige Dutzend, die sieben Todsünden. Zwei kleine Italiener. Ein Ticket für Zwei. Die Macht der Zahlen. Nicht der Ton, sondern die Zahl macht die Musik. Die 7 Dimensionen.
Seine ölige Haut erinnert mich an Leslie. Ich muss an das Tattoo denken, dass ich auf ihrem Arm hinterlassen hatte, an dem Abend, an dem ich sie kennen lernte. Damals versuchte ich vergeblich, ihr meine Telefonnummer mit einem Kugelschreiber auf dem Arm zu verankern. Aber ihre Haut war so ölig, dass die Tinte nicht hielt. Und der Versuch, diesem Problem mit Druck zu begegnen, erwies sich als wahre Schnapsidee. Als ich am nächsten Morgen neben ihr erwachte, bin ich dermaßen erschrocken, als ich da in blutrot meine Mobilnummer auf ihrem Arm leuchten sah, dass Leslie gleich miterwachte.
„7 Dimensionen sind der Schlüssel zum Erfolg“, holt mich der Direktor aus meinen Gedanken. Sein bohrender Blick verunsichert mich dermaßen, als er von vorne beginnt, die Bedeutung der 7 Dimensionen zu erläutern, dass ich mir aus Nervosität auch einen Kugelschreiber greife. Die Diva nickt mir begeistert zu, lässt aber wieder ab, als sie meine Finte entlarvt und bemerkt, dass ich mir den Stift nur zum Anschauen gegriffen habe. „Deutsche Vermögensberatung, seit 1972“, lese ich. 1972. Eine junge Religion, denke ich mir. Der Direktor erklärt in diesem Moment, dass das Konzept der 7 Dimensionen auf das Gründungsjahr zurückgeht. „1972“, sage ich gedankenverloren.
Das hätte ich nicht tun sollen. Die Diva blickt mich neidisch an, als sie merkt, welchen Respekt mir diese Äußerung eingebracht hat. Jetzt bin ich ein gemachter Mann. Ich glaube damit habe ich gleich 3 Dimensionen übersprungen. Der Direktor strahlt, „Hausaufgaben gemacht“, lacht er. Er erinnert mich schon wieder an Leslie, wie er so strahlt.
1972. Ich habe das Bild genau vor mir. Da sitzen so ein paar Typen beisammen, gerade fertig mit der Uni, und tüfteln wie bei einer großen Verschwörung einen Plan aus. „Reich wird man durch Fleiß oder durch die Dummheit anderer“ steht dick auf einem der Blätter, die auf dem riesigen Konferenztisch liegen. „durch Fleiß“ ist durchgestrichen. Sie sitzen beisammen und grübeln. Ich kann sie mir genau vorstellen, definitiv so ein paar abgewichste Juristen mit dicken, beigen Kordhosen, blauen Hemden und Wollpullover die lässig über ihren Schultern baumeln. Sitzen in einem viel zu großen Büro, mit einem gigantischen Konferenztisch. Darauf ein paar bekritzelte Blätter. Vom vielen wichtig sein rauchen ihre Köpfe.
Sie scheinen schon lange zu tüfteln. Sie wirken alle sehr erschöpft aber gleichzeitig nervös. Als stünde eine schwerwiegende Entscheidung bevor.
„Verdammte Scheisse“, sagt einer, nachdem er sich umständliche Notizen auf einem Blatt gemacht hatte, „sechs Dimensionen. Wir haben nur sechs Dimensionen!“
„Wir müssen etwas übersehen haben“, sagt ein anderer, „das gibt es doch gar nicht. Öffnet euer Denken. Sechs Dimensionen, das geht nicht. Das verkauft sich nicht.“
„Und nun?“ wirft ein anderer ein.
Sie stecken ihre Köpfe zusammen und tuscheln, ehe sie diese nach einer Weile erheben und sich erleichtert zunicken.

Mister, die 7. Dimension in Person, holt mich zurück ins Jahr 2004. Er setzt zum Endspurt an. „Sieben Dimensionen“, beginnt er sein großes Finale, „sind der Schlüssel zu Ihrem Glück.“

TADAU. TUSCH. Alles klar.

„Welche sieben Dimensionen wären denn das?“ frage ich, in Gedanken wieder zurück im Jahr 1972. Und als ob es nicht genügte, lege ich ein „könnten sie für mich vielleicht noch einmal alle sieben Dimensionen zusammenfassen“, nach.
Der Direktor sieht mich entsetzt an. Sein in Öl gemeißeltes Lächeln verschwindet und er drückt einen Knopf am Rednerpult. Er sieht ein bisschen aus, als vermisste er seine beigen Kordhosen und die Wollpullover. Wie das Schicksal so spielt, tritt der Clown ein, der mich gebracht hat und bringt mich zur Tür. Beim rausgehen wirft die Diva sich auf den Tisch. Ihr Kugelschreiber fällt zu Boden. „Die verbotene Frage, die verbotene Frage!“ weint sie in den Tisch.

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andreas melchner

 
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Und gleich noch ein Hallo! ;)

Bei dieser Geschichte bin ich mir im Unklaren, was du an ihr romatisch oder erotisch findest. Da würde ich eine Rubrik wie Gesellschaft oder Sonstiges passender finden.
Was diese Geschichte für mich auszeichnet, ist die Charakterisierung der Figuren. Auch die Skizze der Situation in der Deutschen Vermögensberatung AG ist dir gelungen.
Manchmal kratz du allerdings schon fast ein bisschen am Klischee solcher Darstellungen, aber ok, die Realität ist oft ihr wandelndes Klischee.
Für mein Gefühl lässt in dieser Geschichte die Spannung ab uns zu nach, fast so, wie bei deinem Protagonisten. Leider kann ich nicht so ganz ausmachen, woran das liegt.
Auch empfinde ich sie als sprachlich nicht so sauber, wie die andere. Damit meine ich nicht die zwischenzeitlichen Ausflüge ins Umgangs- oder Werbeslangsprachliche, auch nicht die Zahlen, die normalerweise in Geschichten ausgeschrieben werden, sonder eher kleine Fehler wie diesen hier.

Tue so, als verstehst du ihn nicht. Tue so, als hörst du ihn nicht.
Da der Satz mit einem "so als" beginnt, müssen die Verben dieser Form folgen und in die Möglichkeitsform gesetzt werden, entweder als ob du ihn nicht verstehen würdest oder als ob du ihn nicht verstündest. Tue so, als hörtest du ihn nicht.
Nicht genau hinterblickend, wen sie weshalb zu betrügen versuchen.
Weshalb man wen betrügt ist ja im Allgemeinen klar. Nicht aber, worum oder womit man jemanden betrügt. :)

Insgeammt gefällt mir auch diese Geschichte von dir, jedoch nicht so gut die die andere.

Lieben Gruß, sim

auf Wunsch des Autoren nach Alltag verschoben.

 

Hallo Andreas!

Ich habe auch hier den Link entfernt.

schöne Grüße
Anne

 

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