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Auf der Strecke geblieben
3:56. Meine Digitaluhr geht 5 Minuten vor. Das war schon immer so. Jedenfalls seit der 10. Klasse. Damals war ich 16, jetzt bin ich 20, stehe immer noch am Anfang meines Lebens, habe aber schon 1000mal damit abgeschlossen. Vor mir sitzt Nicholas, neben mir Nico, Marcus fährt. Die winterliche Landschaft zieht an uns vorbei, alle paar Kilometer kommen uns Autos entgegen. Ich kann ihre Nummernschilder nicht lesen, ich kennen die Fahrer nicht, nicht die Geschichten, die hinter ihren Leben stecken. Kenne ich meine eigene Geschichte, mein eigenes Leben ? Ich war mir mal sicher, dass ich alles über mich wissen würde. Viel hat sich geändert, weniges ist geblieben. Aus dem Radio kommt Musik von Menschen die ich nicht benennen kann, mein Kopf ist schwer. Wann sind wir losgefahren ? Ich kann mir diese Frage nicht beantworten. Zu viel Alkohol ist der Grund dafür. Jetzt bin ich nüchtern, zu nüchtern um die letzten Stunden sinnvoll zu rekonstruieren. Ich traue mich auch nicht, die Anderen zu fragen. Nico liegt schnarchend an die kalte Scheibe gelehnt, Nicholas habe ich auch schon lange nichts mehr sagen hören und Marcus würde bei der Frage wahrscheinlich auf die Idee kommen, dass er schon zu lange gefahren ist und jetzt doch mal ein Anderer dran wäre. Draußen ist es kalt, der Himmel ist klar, Sterne sind zu erkennen und die Sonne wirft ihr Licht durch den Mond auf weite Felder, die an den Seiten der Straße liegen. Meine Gedanken gleiten zurück, damals, als wir noch jünger waren. Marcus und Nico kenne ich schon mein Leben lang. Der eine ist mein Bruder und Marcus unser Nachbar. Nicky kenne ich seit dem Kindergarten. Früher hatte ich immer Angst vor ihm, er war bekannt dafür, andere Kinder zu verhauen. Mich hat er nie geschlagen, ich war immer dort, wo er nicht war. Das ging sogar bis zum Ende der Grundschule gut, danach sah ich ihn für lange Zeit nicht wieder. Marcus ist der Älteste. 24 ist er, hat seine eigene Wohnung, die er mit seiner Freundin bewohnt, und einen BMW, der uns soeben mit 180 Sachen voran treibt. Über Nico brauche ich nicht viel sagen, wir sind Zwillinge. Früher war alles größer, schöner, trauriger, bunter, weiter. Als ich noch bei uns im Dorf zur Schule ging, und die große Welt noch vor mir lag, waren alle Sommer heiß, alle Winter lang und voller Schnee, der auch mindestens 2 Monate liegen blieb und Weihnachten das Aufregendste, dass ich mir überhaupt vorstellen konnte. Ich freute mich immer auf die Sommerferien. Ich konnte immer lange schlafen, meine Mutter hatte immer Zeit, auch Lehrer haben Sommerferien, und es war einfach toll. Ich spielte draußen lange, die Sonne schien und wir fuhren dann noch für 2 Wochen in den Urlaub. Zum wandern nach Südtirol. Im Winter begann es spätestens eine Woche nach den Herbstferien zu schneien und der Teich hinterm Wald war für den Rest der kalten Jahreszeit gefroren. Wir fuhren Schlitten, auf einer Wiese, auf der im Sommer Pferde standen. Und dann kam Weihnachten. Meine Oma gab mir Wunderkerzen, ich aß viel, einmal auch ein wenig Wunderkerze, aber man wird ja älter, und alle waren glücklich. Mein Bruder und ich bekamen Heiligabend unsere Geschenke zu erst immer bei unseren Großeltern väterlicherseits, danach fuhren unsere Eltern mit uns zu unserer anderen Oma, die mit den Wunderkerzen, wo unsere Tante und unsere Kusine, jedes Jahr mit einem anderen Freund, auf uns warteten, und es gab wieder Geschenke. Erst am ersten Weihnachtstag gab es von unseren Eltern Geschenke. Danach wurden noch einige Verwandte und Bekannte besucht und, wie überraschend, auch hier gab es was. Ich wäre gerne noch einmal sechs oder sieben oder acht. Heute glaube ich, dass keine Winter wirklich lang waren, und es überhaupt keinen Schnee gegeben hat. Jedenfalls nicht so viel, wie ich es in Erinnerung habe. Die Sommer waren auch nicht warm, die Sonne schien wahrscheinlich nur sporadisch. Ich möchte allerdings keine andere Erinnerung an diese Zeit zu lassen. Ich möchte glauben, dass alles genauso war, und so wird es immer für mich gewesen sein. Wo ist die Zeit geblieben ? Plötzlich war sie vorbei. Auf der Strecke geblieben.
Nico ist wach geworden. Er fragt Marcus, wie lange wir schon unterwegs sind, da er geschlafen habe. Marcus setzt den Blinker. „Lange genug, jetzt fährt mal ein Anderer.“
Nicholas dreht sich zu mir um, müde blickt er mich an. Marcus steht draußen, ein kalter Wind bläst durch die offene Tür. „Wo zur Hölle sind wir hier“, fragt Nicholas. „Das darfst du mich nicht fragen“ antworte ich ihm. Ungläubig wendet er sich einer Tüte Chips zu, die er bereits halb gelehrt hatte, dann aber durch seine Schläfrigkeit daran abrupt gehindert wurde. Nico ist auch ausgestiegen, konzentriert dreinschauend bereitet er sich schon mal auf die Weiterfahrt vor, die, dank seiner ungebändigten Neugierde, er wohl als Fahrer erleben wird. Marcus uriniert an einen Baum und singt irgendwelche Lieder, die er vermutlich selbst erfunden hat und deren Melodie und Text unverständlich wirken. Marcus setzt sich nach hinten. Nico nimmt hinter dem Steuer platz. „Marcus, wo sind wir?“, Nicholas wirkt nervös, er war eh nicht davon überzeugt, dass man über Weihnachten spontan (ich hasse dieses Wort), aus dem Alltag fliehen sollte. Mit durchdrehenden Reifen startet Nico. Marcus erklärt uns, dass wir unterwegs in Richtung Süden wären. Erst sind wir die 45 gefahren und dann irgendwo bei Frankfurt auf eine Landstraße abgefahren. Von da an hätte er nicht mehr auf Straßenschilder geachtet, sondern hätte sich von seiner Intuition lenken lassen. Marcus und Intuition ? Langsam bekomme auch ich Zweifel, ob ich jemals wieder Weihnachten feiern werde. Vermutlich sind wir schon auf den Weg nach Osteuropa und würden gleich von der Bulgarischen Mafia gefoltert.
„Wann sind wir losgefahren?“ frage ich besorgt.
„So ungefähr vor 4 Stunden.“
„ 4 Stunden?“
„Ja, und?“
„Nichts.“
„Dann ist ja gut.“
Marcus ist immer so furchtbar schnell beleidigt. Ich wüsste jetzt langsam doch mal gerne wo wir wären. Aber egal. Konfus, chaotisch, Begriffe, mit denen man uns beschreiben sollte. Meine Ex-Freundin warf mir ständig vor, vergesslich zu sein und das mich meine Alkoholikerfreunde nur noch weiter herunter reißen würden. Scheiß drauf. Wir haben nur ein Leben zu verschwenden, also beeilen wir uns lieber ein wenig. Mein Blick fixiert eine, bis auf ein Viertel gelehrte, Sambuca- Flasche. Sambuca, Erinnerung werden geweckt. Ich zeige Marcus und Nicky die Flasche. Ihre Augen werden klar und sie denken wahrscheinlich an das Gleiche wie ich. Unzählige Erinnerungen. Ich nehme einen großen Schluck. Der Likör brennt in meinem Hals und kurz schüttelt es mich. Es folgt die Wärme, die sich in meinem leeren Magen ausbreitet. Gierig nimmt Marcus sich der Flasche an. Nicholas folgt. Nico trinkt keinen Anisschnaps. Bier und Wodka, was anderes kam für ihn noch nie in Frage. Ein Zischen, ein Schluck und Nico ist zufrieden. Ein schneller Blick auf die Tachonadel, die rasant ansteigt, macht mir bewusst, wir werden noch Spaß haben.
„Wisst ihr, woran man echte Freunde erkennt?“, die Frage zerreißt die Lethargie, die sich in den letzten Minuten aufgebaut hatte.
Marcus sieht mich an:„Ist das jetzt wieder ein scheiß Witz, den keine Sau versteht. So ungefähr wie – Warum gibt es im Wald Pilze? Weil Tannenzapfen!!!! – Auf so was hab ich jetzt kein Bock.“
„Nee, ich mein das jetzt ernst.“
„Tja, keine Ahnung. Vielleicht weil sie so blöd sind, und am ersten Weihnachtstag besoffen, und viel zu schnell, über irgendwelche Landstraße rasen und das auch noch geil finden. Also wenn das so ist, habe ich wohl die besten Freunde auf der Welt.“
„Hey, darüber habe ich ja noch gar nicht nachgedacht. Aber, nein, das meinte ich eigentlich nicht. Gute Freunde erkennt man daran, dass, egal wie zu sie sind, und egal wie viele Drogen und Alkohol ihren Körper haben aufschwemmen lassen, sie immer dazu bereit sind, einen Freund besoffen von der B1 zu ziehen.“
Marcus, der nicht gerade für einen ausgeprägten Sinn für Melancholie bekannt ist, nimmt mich in den Arm, drückt mich fest an sich und sagt mit weinerlicher Stimme:
„Mann, wir beide haben die besten Freunde der Welt.“
In diesem Moment gibt es einen Knall. Es kracht. Es kribbelt in meiner Nase, wie bei einem Überschlag in der Achterbahn. Ich spüre, wie Blut in meinen Kopf schießt. Neben mir splittert Glas. Ein kurzes Hupen. Dieser Überschlag war nicht geplant, nicht geplant in unserem Konzept vom „Schnellen Leben“. Zu schnell. Viel zu schnell. Es wird dunkel. Stille.