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Auf der Straße ist es wieder so
Als seine Augen sich öffneten, brach das Licht schon seit Stunden durch das graue Fenster. Es hatte sich warm um sein Gesicht gelegt, ihn zärtlich gestreichelt.
Nun blendete es ihn furchtbar.
Brad drehte sich noch einmal um, es musste schon Mittag sein, doch er zog es vor, noch einen kurzen Moment liegen zu bleiben. Immerhin hatte er die letzten drei Tage Überstunden geschoben und das ohne einen einzigen Cent zu sehen.
Man hätte schwere Zeiten durchzustehen, in denen man zum Wohl der Firma nichts unversucht lassen könne. Jeder müsse nun mit anpacken, hatte der Vorarbeiter gesagt. Ansonsten sei er ein freier Mann, niemand zwinge ihn....
Früher hätte er einen so lausigen Job einfach hingeschmissen, er wäre einfach weitergezogen, hätte sich woanders niedergelassen, doch nun?
Niemand würde ihn mehr einstellen. Brad war zu alt- zu müde, einen Neuanfang zu wagen und seine Träume hatte er schon vor langer Zeit aufgegeben.
Allzu oft hatte er es versucht, in der Hoffnung, es werde sich ändern. Letztlich war es doch wieder so. Der gleiche miese Job, der ihn über Wasser hielt, das gleiche Zimmer, das gleiche Leben, nur vor einem anderen Publikum, einer anderen Kulisse.
Was änderte sich denn schon?
Von der Straße her dröhnte die alte Sirene der Fabrik zur Mittagspause. Die Arbeiter würden sich nun im Schatten der Mauer einen Platz suchen, in ihren Brotdosen vielleicht ein wenig Trost finden.
Für einen kurzen Moment hielt das Leben inne, um einen Blick auf die Zurückgebliebenen zu werfen, dennoch war diese Ruhe nicht willkommen.
Sie ließ einen in Gedanken versinken und es war fatal wieder zu erwachen.
Brad rieb sich die Augen. Widerwillig erhob er sich von der Matratze.
Unter dem Fenster bot das Bett einen verlorenen Anblick. Es hatte schon dort gestanden, als er eingezogen war.
Er machte sich auf ins Bad, vorbei an ein paar Bierdosen. Das Schwindelgefühl, das ihn letzte Nacht befangen hatte, war kaum von ihm gewichen.
Über dem kleinen, verschrobenen Waschbecken zeichnete der Spiegel ein markantes, verlebtes Gesicht.
Er hatte die letzte Nacht mal wieder in der Bar verbracht.
Seit Jahren ging er hin.
„Pink Breast“ lag zwei Häuserblocks weiter die Straße rauf. Sie bekam nur selten Fremde zu Gesicht.
Brad nickte dem Barkeeper zu, setzte sich an die Theke und bestellte einen Scotch.
In der hinteren Ecke saß ein Mann. Das Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor, doch konnte Brad es nicht zuordnen. Er leerte das Glas in einem Zug und wischte sich über den Mund- Es war Nick.
Nick war Hafenarbeiter. Damals half Brad ihm für ein paar Dollar, die Ladung irgendeines Schiffs aus Panama zu löschen. Sie waren kurz ins Gespräch gekommen, hatten über dies und das geredet.
Nick hatte ihm erzählt, dass er Familie hätte. Zwei Töchter, auf die er sehr stolz war. Die große war in der Zweiten, wollte später Ärztin werden. Die kleine war gerade eingeschult worden. Sie lebten in einer Zweizimmerwohnung am Rande der Stadt. Das ganze Jahr über schuftete Nick im Hafen. Sobald er aber etwas Geld angespart hatte, versprach er seinen Lieben, mit ihnen an die See zu fahren. Seine Töchter konnten es nie erwarten, den weißen Sand zwischen den Zehen zu spüren. Wann immer sie davon erfuhren, machten sie sich daran, allerhand Vorkehrungen zu treffen, um auch ja nichts zu vergessen. Sie legten sich ihre Badeanzüge und Strandspielzeuge schon Tage vorher zurecht, malten sich genau aus, was sie alles unternehmen würden und je mehr sie sich damit beschäftigten, desto größer wurde ihre Vorfreude. Sie löcherten Nick mit Fragen, ob er mit ihnen den Drachen steigen lassen würde, ob sie ein Eis bekämen..... Nick versprach es ihnen.
Er liebte sie.
Wie hätte er es ihnen da abschlagen können?
Die beiden waren nicht die einzigen, die sich darauf freuten, mal wieder etwas Anderes zu sehen. Auch Nick und seine Frau sehnten sich danach, wieder mehr Zeit füreinander zu haben. Besonders am Meer genossen sie es, wenn sie sich in den Armen lagen und in die Brandung schauten. Während die Kinder ausgelassen im Sand spielten, ließen sie sich den feinen Sand auf die Haut rieseln.
Im Stillen waren sie dann wieder jung, verliebt wie zwei Teenager, die ihre erste große Liebe erlebten.
Doch dazu kam es nur selten, Nick hatte meistens gerade genug Geld, um sich und seine Familie zu versorgen, da war an Urlaub nicht zu denken.
Früh morgens fuhr er mit dem abgewrackten Ford zur Arbeit und kam erst spät nach Hause, wenn seine Töchter schon schliefen...
Nach zwei Tagen gab es für Brad im Hafen nichts mehr zu tun und das war`s dann. Er suchte sich etwas Neues. Das alles war schon Jahre her und sie hatten sich seitdem nicht mehr gesehen.
Umso mehr freute sich Brad nun, ihn hier wiederzusehen.
Er würde an diesem Abend nicht alleine trinken, sondern über gute alte Zeiten reden,
das dachte Brad jedenfalls.
Nick saß hinten etwas zusammengesunken und schaute verloren in ein halbleeres Bierglas. Brad beschloss, zu ihm herüber zu gehen und ihn zu begrüßen. Er konnte es kaum erwarten.
Als Nick ihn bemerkte, schien sich sein Gesicht kurz zu beleben. Doch das währte nicht lange- Er schwieg, schaute wieder in sein Glas und rührte sich nicht mehr.
Brad ließ ihn in Ruhe und setzte sich wieder an die Theke.
Solle er ihn doch am Arsch lecken, wenn er für alte Freunde nichts mehr übrig hatte.
Dabei hatte Brad sich damals so ins Zeug gelegt, nicht nur für die paar Dollar,
nein, sie waren sich in der Zeit einfach näher gekommen, hatten sich gut verstanden- Das hatte ihn motiviert.
Er konnte es nicht begreifen.
Als er ihm seinen zweiten Scotch eingoss, sagte der Barkeeper zu Brad, er solle das mit dem Kerl dahinten nicht persönlich nehmen, er spreche nur mit wenigen.
Seine Frau sei gestorben, kurz nachdem sie ihm einen Sohn geschenkt hatte.
Es schien als habe sie ihm noch diesen einen Wunsch erfüllen wollen, bevor sie aus dem Leben schied, beziehungsweise auf eine weite Reise gegangen sei, wie Nick zu seinen Kindern gesagt hatte.
Wie hätte er ihnen auch beibringen sollen, dass sie nie mehr für sie da sein würde, dass sie sie nie wieder in ihre Arme schließen würde?
Es gab keinen Trost, für niemanden- am wenigsten für ihn und seine Kinder.
Zunächst habe er noch für sie sorgen können. Als dann aber auch noch die Reederei dichtmachte, saß er auf der Straße und ihm blieb nichts Anderes übrig, als seine Kinder wegzugeben.
Die beiden Töchter und den Kleinen, noch ein Baby.
Einen Tag hatte er mit ihnen zusammen im Heim verbracht, hatte ihnen jeden Wunsch von den Lippen abgelesen, als könnte er sein Gewissen damit beruhigen.
Sie wussten nicht, dass es das letzte Mal war, dass ihr Vater sich um sie kümmerte.
Nick versuchte sich einzureden, dass sie sich schnell daran gewöhnen würden, womöglich gar nicht mehr nach Hause wollten.
Doch das war eine Illusion.
Am Ende hatte er sie doch angelogen, sie würden nur für ein paar Tage dableiben.
Tränen in ihren Augen zu sehen- das hätte er nicht verkraftet.
Seitdem sei Nick fast jeden Abend hier, trinke seine zwei bis drei Bier und ginge wieder.
Früh morgens würde er an der Straße stehen. Manchmal könne er den Tag über auf dem Bau oder in einem Lager arbeiten.
Oft würde er den ganzen Tag warten.
Später fand Brad doch wieder Kontakt zu ihm- Sie sahen sich nun hin und wieder in der Bar.
Nick erzählte ihm, was in den vergangenen Jahren passiert sei- wie er seine Familie verloren hatte.
Eines Tages jedoch hatten sie sich nichts mehr zu sagen, nicht dass sie nicht gewollt hätten, es gab nur nichts mehr, das wert gewesen wäre, zum Ausdruck gebracht zu werden. Zwar grüßten sie sich noch, wenn sie sich sahen, aber dabei blieb es dann auch.
Man kümmerte sich um seinen Kram.
Das war sowieso besser.
Wenn man einen Drink vor sich stehen hatte, Musik im Hintergrund spielte und man einfach nur dasitzen konnte, war es schon fast erträglich.
Hier war man jemand, jeder kannte einen und das reichte.
Es gab hier keine Überraschungen- keine Enttäuschungen.
Ab und an schmiss der Barkeeper noch eine Runde, bevor er den Laden dichtmachte.
Draußen auf der Straße, war es dann wieder so. Die Straßenlampen strahlten in die Nacht.
Sie leuchteten anderen.
Brad wusch sich das Gesicht und legte sich wieder ins Bett. Morgen würde er wieder zur Arbeit in die Fabrik gehen müssen....