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Auf der schiefen Bahn
Auf der schiefen Bahn
In den Weihnachtsferien saß Fred Strubel an einer geisteswissenschaftlichen Arbeit über das 50-jährige Bestehen der Frankfurter Gesellschaft für Sexualforschung. Er meldete sich darin mit einer These zu Wort, dass die Menschen in den Nachkriegsjahren durch Kriegsfolgen und traumatische Erlebnisse aller Art sowohl in ihrer Psyche als auch ihrem Sexualverhalten nachhaltig gestört worden waren. Als Beispiel diente Fred der eigene Vater, der seine Traumata an seiner Frau und seinen zwei Kindern ausließ - was noch heute an den beiden Kindern, zumindest einem von ihnen - seine Schwester hatte die Konstitution eines Rindviehs! - nachhaltig nagte.
Dieses Thesenpapier sollte nach seiner Fertigstellung in ca. einem halben Jahr nicht nur der Erforschung der Therapieformen sexueller Problematiken dienen, sondern auch den Einfluss der Gesetzgebung und eine Revidierung des Sexualstrafrechts zur Folge haben. Fred plante, mit öffentlichen Erklärungen, Stellungnahmen und Gutachten sich an der Formulierung von neuen Paragraphen zu beteiligen und gemeinsam mit Ministerien, Gerichten und Kriminologen verdrängte Probleme in der Sexualität zu thematisieren, die heute wie gestern immer noch verdrängt wurden.
So weit, so gut.
Während Fred konzentriert unter dem Kegel der Schreibtischlampe in seinem kleinen Haus in Oberursel arbeitete, war das Wetter draußen ziemlich ungemütlich. Eine schwarze Wolkenwalze nach der anderen brachte Sturm, Eis und Hagel und bei seinen vielen Spaziergängen über die Felder und später durch die Stadt wurde Fred von tosenden Sturmstößen erfasst, die ihn zehnmeterweise den Bürgersteig entlang und auf die Straße rübertrieben, wo er ein lautes Hupkonzert bei den Autofahrern hervorrief, weil er in alle Richtungen störte.
Kaum war der Januar da, gab es schon den ersten Schnee. Stündlich musste Fred den Weg zur Straße freischippen, was an den beiden Tagen, an denen seine Heizungsanlage ausfiel - und sich offensichtlich alle Handwerker des Maintaunuskreises auf Ibiza befanden - eine beinahe wärmespendende Wohltat für ihn war.
Nein, es waren nicht gerade die schönsten Tage in Freds Leben. Er wurde von körperlichen Beschwerden aller Art heimgesucht: Mal waren es brennende, krampfartige Schmerzen im Oberbauch, dann Übelkeit und Erbrechen oder Sodbrennen und Aufstoßen. Ihn quälten Blähungen, Druck- und Völlegefühle sowie das Gegenteil davon: Appetit- und Interesselosigkeit. Seine Blinddarmnarbe schmerzte, er schlief schlecht und hatte dunkle Ränder unter den Augen.
Albträume verfolgten ihn Nacht für Nacht; Träume, in denen ein blutrünstiger Mob "schuldig, schuldig!" brüllte und ihn über Marktplätze und Treppenstufen zu einem Schafott begleiteten, auf dem ein Scharfrichter ihm eine Kapuze überstülpte, ein Priester ein Gebet sprach und das Fallbeil sich rasselnd aus der Halterung löste und auf seinen wie auf einer Schlachtbank ausgestreckten Körper niederraste.
In einem anderen Traum - dem Traum, von dem Fred jeden Morgen aufwachte - wurde er auf einer unbelebten Straße von einem Lastkraftwagen erfasst, der ihn hoch in die Luft schleuderte und nach einigen Saltos hart auf dem Bürgersteig aufschlagen ließ. Schwankende Türme, untergehende Schiffe und einstürzende Hochhäuser begleiteten seine Nächte: Alle träumbaren Katastrophen brachten ihn um den Verstand und sieben Morgende hintereinander saß er um halb fünf in seiner Küche und schüttete heiße Milch mit Honig in sich hinein.
Als er es nicht mehr zum Aushalten fand, suchte er seinen Hausarzt Dr. Usslar auf. Wie immer konnte der keine organische Ursache für seine Beschwerden entdecken - wofür war er eigentlich gut, der liebe Dr. Usslar? - und er schickte Fred weiter zum Urologen Dr. Seligmann, der zum Kardiologen Dr. Meier und der zurück zu Dr. Usslar: Alle ohne pathologisch relevanten Befund. Erst Therapeut Werner hatte die rettende Idee: Fred litte unter „chronischen Störungsbildern aus Selbstsicht des Patienten“, die klinisch zwar noch nicht klar definiert, aber zweifelsohne vorhanden seien - man sähe es ja an Fred - und entließ ihn mit der Aufgabe, in der Bibliothek herauszufinden, wie seine Krankheit hieße.
Nach aufwendigen Recherchen - wie ihn das von der Arbeit abhielt! - hatte Fred auch endlich Erfolg: Seine Symptome korrespondierten offensichtlich, so krude es zunächst schien, mit der "Eisenbahnerkrankheit" aus dem Jahr 1892, deren dumpfe Schmerzen und frühzeitige Dienstunfähigkeit auf äußere Einflüsse zurückzuführen waren, denen das Personal der Eisenbahnen ausgesetzt waren - das Dröhnen der Maschinen, körperliche Erschütterungen aller Art - die sich auf den Organismus in negativ vegetativer Weise auswirkten. Fred schlug mit der Hand flach auf den Tisch: Genau wie bei ihm!
Woher die Erschütterungen im Detail auch rühren mochten.
Freds Problem lag natürlich ganz woanders. Seit einem Monat schleppte er in seiner Manteltasche einen Brief einer Frau mit sich herum, der ihn sehr belastete. Diese Frau hatte er bei einer Lesung im Frankfurter Literaturhaus kennen gelernt und schnell waren sie sich darüber einig geworden, dass nicht mehr die Sexualität, sondern Gott das Tabuthema der westlichen Gesellschaft war. Bei einer Tasse Capuccino vertieften sie ihren Meinungsaustausch im Café und begeistert von ihrer großen Übereinstimmung fasste Fred sich spontan ein Herz und fragte Katharina, ob sie vielleicht Lust hätte, seine erst kürzlich beendete Novelle Ausgesetzt zu lesen: Sie handle von einem Mann, erklärte Fred, der nach einer persönlichen Krise in der landschaftlichen Einöde der holsteinischen Schweiz zu sich selbst fand und ein neues Leben begann; ein Leben jenseits von Statussymbolen und Hedonismus, ganz der Natur und dem Haschisch zugewandt.
Fred strahlte Katharina an: Keine Angst, es sei eine gute Geschichte, schön gemacht, mit aufregenden Ideen und einer originellen Schreibe. Zudem philosophisch erhellend. Nach einem kurzen Zögern sagte Katharina „Ja“ und gleich am nächsten Tag schickte Fred ihr das Manuskript nach Hause. Er versprach sich viel von ihrer kritischen Stellungnahme: Katharina kannte sich mit Texten gut aus, war Journalistin und redigierte bei der Zeitung regelmäßig die Arbeiten jüngerer Kollegen. Natürlich war sein Text war nicht einfach zu lesen - keine Dutzendware eben - und oft, wenn der Leser glauben würde, eine allgemein gültige Regel für seine Semantik oder Syntax zu entdecken, vollzog Fred eine verblüffende Wendung, sodass alles wieder von vorn anfangen mussten. Aber war es anders bei anderen großen Schriftstellern: Musste man nicht dem Werk eines ernstzunehmenden Autors mit entsprechender etymologischer und sprachkritischer Sekundärliteratur zu Leibe rücken? Na also.
Bei Gefallen, hatte Fred angedeutet, konnte man sich bei einem Essen wieder treffen und die Gedanken zu der Novelle austauschen: Wie hatte Katharina der Held gefallen? wie die Heldin? die Landschaft? die Wetterlage? der metaphysische basso continuo? Ein rundum herrlicher Abend also, voll anregender Gesprächsthemen.
Leider kam alles ganz anders. Katharina las einfach seine Novelle nicht. Höflich rief er bei ihr an: Hatte sie sein Manuskript schon erhalten? Habe sie schon Zeit gefunden, einen Blick hinein zu werfen? Nein, wie schade: Wann dann? In der nächsten Zeit nicht? Sie vermeide es, in ihrer Freizeit Texte zu lesen? In ihrer Freizeit lese sie Bücher?
Aha.
Und seine Novelle war nur ein Manuskript.
Sie sage nicht, dass sie es nicht lese, nur im Moment, leider nein. Vielleicht wenn sie aus der Schweiz zurück sei.
Pardauz. Freds schönes Konstrukt „Frau-liest-Novelle-ist-hingerissen-geht-mit-Universitätsprofessor-ins-Bett“ krachte in sich zusammen. Höflich fragte er, wann dann mit ihrer Rückkehr zu rechnen sei; in ca. fünf Wochen, lautete die Antwort und das war Fred nun entschieden zu lang. Resolut lud er sie zu sich nach Hause zum Essen ein, denn bloß weil sie seinen Text nicht mochte, bedeutete das ja wohl nicht, dass sie ihn nicht mochte und ihm keine Lust spenden konnte.
Katharina besuchte ihn also und bewunderte angemessen sein imposantes Bücherregal, auf dem sich alphabetisch geordnet die Werke seiner Lieblingsdichter bis unter die Decke reihten. Erneut unterhielten die beiden sich über Gott: Es war ein unerschöpfliches Thema. Ein Freigeist sei dieser Gott, betonte Fred vor dem Philosophiebrett: ein Anarchist, ein Kreativer, ein Besessener! Und so großzügig! Davon könnte sich so mancher ein Scheibchen abschneiden, fand er; Gott überlasse dem Menschen die Deutung des Lebens selbst und sei damit so manchem Kollegen an seiner Universität weit voraus. Stattdessen zelebriere er unvollkommene Welten, die sich stets erneuere - Fred redete sich in Schwung - und daher sei die Welt irrwitzig, wahnsinnig und verrückt!
Voller Enthusiasmus begleitete er Katharina nun hoch in seinen Wohnbereich und redete davon, dass es einem Gottesbeweis nahe komme, dass sie beide sich getroffen und sympathisch gefunden hätten. Und als er eine halbe Stunde später auf Katharina auf- und niederflog, rechnete er diesen sexuellen Erfolg seiner geistigen Brillanz und Eloquenz zu.
Dieses Gefühl erwies sich jedoch nicht als dauerhaft, denn Katharina verließ ihn kurze Zeit später ohne jedes Zeichen von Sentimentalität: Was war denn mit dem schönen Abend? Hatte sie denn ihre Vereinigung nicht bemerkt? Den Knall im Bett?
Nein.
In den folgenden Tagen versuchte er vergeblich, seiner Angebeteten habhaft zu werden, aber das erwies sich nicht als einfach. Zwar telefonierten sie ein paar Mal zusammen, aber dann fuhr Katharina in die Schweiz und Fred wartete ungeduldig auf ihre Rückkehr.
Als sie wieder da war, dauerte es weitere zwei Wochen, bis sie endlich sein Manuskript las: Von Wiedersehen war zwischen ihnen zu diesem Zeitpunkt schon lange keine Rede mehr. Und nun neigte sich das Jahr schon langsam seinem Ende zu und Fred lief allmählich die Zeit davon, denn er hatte ja vorgehabt, seine Novelle auf der Buchmesse einschlägigen Verlagen und hochkarätigen Lektoren vorzustellen.
Eines Tages fand er doch einen Brief von ihr im Postkasten. Fred blickte reserviert auf den Brief hinunter: Drei Monate, nachdem er sie um eine Stellungnahme zu seiner Novelle gebeten hatte, bequemte sie sich endlich zu einer Antwort! Eigentlich wollte er den Brief gar nicht mehr lesen, Fred hatte ja auch seinen Stolz. Er sah an die Decke: Was sollte auch groß darin stehen: Neue Erkenntnisse etwa? Ein guter Ratschlag? Von Katharina? Er tippte sich an die Stirn: Nein danke. Er musste sich ja nicht jeden Kommentar, nicht jeden Senf anhören.
Tief versenkte er also den Brief in seiner Manteltasche und befasste sich lieber mit seinem anderen neuesten Projekt, der Sexualforschung der unglücklichen Nachkriegsopfer beziehungsweise ihren Kindern, also sich selbst.
Aber der Brief gab keine Ruhe. Nach einigen Tagen machte Fred ihn entnervt auf, nicht zuletzt, weil noch eine winzige Hoffnung in ihm keimte, dass sich doch noch alles zum Guten wenden könnte. Dass Katharina seine Texte doch gefielen und sie mehr kennen lernen wollte. Und ihn wiedersehen - Fred verdrehte die Augen - das war auch nicht ganz unwichtig.
Doch als er den Brief las, verstand er ihn gar nicht, und nach ein paar Zeilen steckte er ihn enttäuscht wieder weg. Was war das für eine Idee, unverständliche Briefe zu schreiben, fragte er sich. Und mit ihrer aggressiven Sprache konnte er auch nichts anfangen.
Dann lieber gar nicht!
Plötzlich passierte eine Katastrophe für sein Sexualprojekt: Die Universitätsbibliothek in Frankfurt musste wegen eines Wasserrohrbruchs für ein paar Tage geschlossen werden. das war für Fred ein schwerer Schlag, der in seiner geistigen Auseinandersetzung auf den den öffentlichen Raum angewiesen war. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als in die Stadtbücherei von Oberursel auszuweichen. Es war ein Abstieg ohne gleichen.
Auf den wenigen Leseplätzen, die zwischen die einzelnen Regale eingestreut waren - ein grauenhaftes System, dachte Fred gereizt - war nach 10 Uhr morgens kein Sitzplatz mehr zu bekommen. Alle Oberurseler Penner und Junkies reisten hier morgens an, um hier die Zeitung zu lesen und zu frühstücken.
Oft landete Fred zu seinem Entsetzen in der Kinderabteilung zwischen Bilderbüchern und eben Kindern, die ihm pausenlos ihre Körper und Schultaschen um die Ohren schlugen. Zähneknirschend entschloss Fred sich zur Toleranz - was machte es auch für einen Eindruck, wenn er hier durch die Gegend krisch - und lächelte beherrscht und abwehrend den Müttern zu, die sich eifrig bei ihm für das Benehmen ihrer Kinder entschuldigten.
Was ein Jahresanfang! Dabei hatte Fred sich so viel an Silvester gewünscht. Und nun, das. Eine Pennerexistenz in der Stadtbücherei. Achselzuckend sah er vor sich auf das Tischchen, auf dem er die Post und die Prospekte der letzten Tage ausgebreitet hatte. Seit dem Eintreffen von Katharinas Brief hatte er sich um nichts mehr gekümmert. Nun füllte er umständlich eine Abonnement-Bestellung für eine Fernsehzeitschrift aus - ohne weitere Verpflichtungen, dafür mit einer hübschen Armbanduhr - und prüfte die Werbeprospekte. Fred trug sich mit dem Gedanken, einen neuen Staubsauger zu kaufen, da sein alter Teppichkehrer langsam den Geist aufgab. Er hatte extra die neue Abfallbroschüre der Stadt mitgenommen und beachtete artig alle Kriterien, die bei dem Kauf eines neuen Produkts zu beachten waren: Seine Langlebigkeit, seinen Stromverbrauch und den Kundenservice. Nach und nach sortierte er die Staubsauger aus: Mal war der Fachmarkt zu weit, mal hatte das Gerät nur sechs Monate Garantie oder es fehlten Angaben zu seiner Reparaturfähigkeit. Meistens jedoch waren die Angebote zu teuer: 180 Mark für einen Staubsauger war für Fred ein Mondpreis, der noch dazu die Beutel nicht einschloss.
Schließlich kratzte er sich am Kinn und fragte sich, ob er nicht doch noch eine Weile mit dem Teppichkehrer auskommen konnte. Immerhin verbrauchte der weder Beutel noch Strom, und hatte auch keine Wartung oder keine Reparatur nötig, was auch insofern praktisch war, dass es die Firma, die ihn hergestellt hatte, gar nicht mehr gab. Aber der Teppichkehrer nahm auch so gut wie gar keinen Dreck mehr auf, sondern verdichtete ihn nur zu kleinen Haufen, was sein Haus zeitweilig wie eine Sommerwiese mit kleinen Maulwurfshügeln aussehen ließ.
Egal. Seufzend sammelte Fred die Prospekte ein und steckte sie in seinen Aktenkoffer. Er würde morgen noch einmal über die Angelegenheit nachdenken. Eine Weile saß er teilnahmslos im Stuhl, ohne sich aufraffen zu können, heimzugehen. Dauernd hatte er in letzter Zeit mit diesen Konzentrationsschwächen zu kämpfen: Nichts mehr ging ihm so leicht von der Hand wie früher und gute Einfälle - bis vor einigen Wochen kein Problem - flossen nur noch spärlich. Keine gute Voraussetzung, um sein Projekt der gesellschaftliche Sexualverbesserung einigermaßen plausibel nach außen hin zu vertreten. Langsam mussten deutlich logischere Gedankengänge und lückenlosere Argumentationen her. Sein Denken war zerrissen und abgehackt, stellte Fred bekümmert fest: Es hatte keinen Fluss mehr; und das lag nicht zuletzt an dem blöden Brief, den er mit sich in der Manteltasche herumtrug.
Warum bloß brachte er es nicht über sich, ihn wegzuwerfen? Jeder normale Mensch täte es, mit solchen Beleidigungen, solcher Polemik, dachte er und zog widerwillig den Umschlag aus der Tasche. Ärgerlich betrachtete er ihn, konnte aber nicht umhin, Katharinas Schrift zu bewundern. Sie war weich, fließend, harmonisch, die Buchstaben waren schön geschwungen und gerade aufgerichtet, anders als seine. Seine Schrift schien dagegen nervös. Sie konnte die Linie nicht halten und jeder seiner Buchstaben schien sich den eigenen Weg bahnen zu wollen, ohne sich mit dem Nachbarn abzustimmen.
Nun ja, er war Individualist, dachte Fred.
Tief holte er Luft und las erneut Katharinas Brief:
Lieber Fred,
verzeih mir bitte, dass ich mich erst jetzt bei dir melde, aber wie du weißt, war ich ein paar Tage in der Schweiz. Hier also meine Meinung zu deiner Novelle.
Zur Sprache der Novelle: Ich habe alle die Stellen und Worte angestrichen, die meiner Ansicht nach nicht in den Kontext des Textes, der einzelnen Abschnitte oder des unmittelbaren Satzumfelds passen. Neben seiner etwas altertümelnden Sprache besteht sein Problem in den endlosen, zum Teil über eineinhalb Seiten reichenden Sätzen ohne jede Interpunktion, seinen schiefen Metaphern und seiner allgemeinen Ausfaserung zum Ende hin. Wortwiederholungen, Dopplungen und Probleme mit der Orthographie sind nur handwerkliche Fehler, die durch ein wenig Arbeit ausgemerzt werden können. Einige typische Computergeschichten wie "rasch reiste er schnell von der Düne ab" oder "sie brachte seine Gefühle in eine Konzeption gebracht" sind auch dabei. Es müsste also einmal ordentlich Korrektur gelesen werden!
Auch muss nicht jeder Satz mit dem Subjekt beginnen und einige zusätzliche Bindewörter könnten den Text sicherlich insgesamt flüssiger machen.
Der Inhalt ist etwas dürftig: Es gibt keine tragende Idee, die sich über diese Länge halten ließe und die Figuren bleiben blass gezeichnet.
Insgesamt hat der Text zu viele Allgemeinplätze und es entsteht der Verdacht, dass es sich bei den Beschreibungen der mystischen Vereinigung Falks mit der Natur lediglich um die Verarbeitung einer enttäuschten Liebe handelt, da die Novelle zu neunundneunzig Prozent aus einem weinerlichen Monolog besteht.
Sollte es sich dabei um eine selbsttherapeutische Verarbeitung einer unglücklichen Liebesgeschichte handeln, Fred, geht das in Ordnung, ansonsten jedoch reicht er nicht über dein Schlafzimmer hinaus.
Genervt holte Fred die Novelle, die er immer bei sich trug, aus seiner Aktentasche heraus und legte sie neben Katharinas Brief.
Was also hatte sie zu meckern?
Der erste Satz lautete „Eines Tages brach Falk, ein berühmter Naturforscher in die Einöde der schleswig-holsteinischen Heide auf und kehrte von dort selten zurück; seine Familie hatte von dem keinen Begriff und nichts Besonderes von seinen heiklen seelischen Umständen.
Kopfschüttelnd betrachtete Fred das Blatt: Der Satz war schön, herrlich gebaut, und der Leser - vermutete Fred - blätterte neugierig gleich vom ersten bis zum letzten Satz durch, um zu erfahren, ob dieser Falk tatsächlich selten wiederkam oder nicht.
Kein Wort war da zu viel, keins zu wenig, alles war sehr spannend gemacht; der Anfang ging mitten ins Geschehen, der zentrale Konflikt war angedeutet und innerhalb kürzester Zeit - praktisch schon auf der ersten Seite - verdichtete sich die Handlung zu einer ganz eigenwilligen, echt Fred´schen Ballade!
Kein Grund, so auf seinem Manuskript herumzuschmieren. Einen Text zu kritisieren, wie sie es tat, mit dieser Pedanterie (auch sein Kollege Jürgen hatte ja seine Geschichte kommentiert. Sie sei „irgendwie subjektiv“, hatte er gemeint, was natürlich eine beispiellos dämliche Bemerkung war, aber was konnte man von Jürgen auch schon anderes erwarten, jedenfalls wurde er nicht persönlich), mit dieser Pedanterie also argumentierte Katharina, als sei sie die bestellte und bezahlte Kritikerin der FAZ.
Fred lachte. Da hatte sie etwas falsch verstanden, die eifrige Katharina. Er, Fred, konnte sich gar nicht erinnern, irgendetwas bestellt zu haben: Er hatte nichts bestellt und nichts bezahlt. Sie hatte nur einen spontanen Eindruck seines Textes kommunizieren sollen, mehr nicht, keine langatmigen Ausführungen oder angestrichenen Stellen im Text - wer hatte denn darum gebeten? - solche, die ihr nicht gefielen, oder die ihrer Meinung nach nicht in den Gesamtkontext passten. Sein Text schrecke vom Lesen ab - danke auch! - und er wirke ermüdend.
Fred gähnte und sah sein Manuskript an. Wie sie es zugerichtet hatte! Kein Satz stand da mehr auf dem anderen, alles war rot angestrichen - er stöhnte: gab es keine andere Farbe bei ihr zu Hause? - pedantisch hatte sie jedes wurde, jedes dann, jedes sowohl als auch mit ihrem Stift eingekreist und "Wiederholung" an den Rand geschrieben. Im Zick-Zack mit dem Zeigefinger über das Blatt jagend zählte Fred neun Mal - ja wie denn, was denn, war er hier in der SCHULE, war denn seine Geschichte ein PENNÄLERAUFSATZ?!?
Er ratschte die Seite um. Überall stand "A" für Ausdruck. Zum Beispiel gäbe es den Begriff "Falk pfiff auf Annikas Meisenhirn" nicht, behauptete Katharina, das Bild sei schief, er meine "Spatzenhirn". Irrtum, Irrtum, Katharina: Er, Fred, meinte nicht Spatzenhirn, sondern sehr wohl Meisenhirn: „Meisenhirn“ war viel besser, viel treffender, es war nicht so abgegriffen wie Spatzenhirn, ALLE schrieben „Spatzenhirn“, Hinz und Kunz, kein Sinn für Innovationen, für freien Sprachgebrauch, es war ja auch viel komischer und lustiger, und passte viel besser zu den Charakteren und der landschaftlichen Stimmung in seiner Novelle, es passte viel besser zur Holsteinischen Schweiz!
Aber das bemerkte Katharina natürlich nicht, dazu hing sie zu sehr in Konventionen und in der Traditionen fest, Gott, war das langweilig! Außerdem: Bloß, weil sie den Ausdruck nicht kannte, bedeutete das ja nicht, dass er nicht existierte; wenn er, der Autor Fred Strubel, der Auffassung war, dass er juckte die Hände origineller war als er kratzte die Hände oder, wie Katharina vorschlug, das fade er rieb sich die Hände: Nun, dann diskutierte sie nicht nur das souveräne Verfügungsrecht eines Dichters über seinen Text, sondern die Freiheit der Kunst überhaupt. Katharina mochte das Manuskript zur Seite legen, bitte, Fred hatte damit kein Problem - nicht jeder musste seine Texte lieben - aber beanstanden durften sie nicht. Und wenn sie doch beanstandete, dann musste sie mit Gegenwehr rechnen.
Er las weiter. Über den Text waren Bemerkungen verstreut wie zu eitel, zu vage, zu aufzählend oder bitte spezifizieren und kürzer, an manchen Stellen sogar streichen. Auf der letzten Seite hatte Katharina Thema unklar notiert und das riss Fred nun wirklich aus seinem Stuhl hoch. Wenn Katharina auf der letzten Seite das Thema noch nicht verstanden hatte, ja wann denn dann noch? DANACH war der Text zu Ende, danach war kein Verstehen mehr möglich!
Die Hand an der Stirn fing er an, zwischen den Bücherregalen der Bibliothek hin und herzulaufen. Diese Frau, der er nach dem Gespräch im Literaturhaus so viel zugetraut hatte, hatte die Aufgabenstellung komplett missinterpretiert: Er, Fred, hatte etwas über die Atmosphäre, den Geist, die Idee des Textes hören wollen - aber das passte ihr alles auch nicht! Zu dünn, zu durchsichtig schrieb sie an den Rand und ganze Absätze - vornehmlich jene, in denen von Falks intelligibler Empfindlichkeit die Rede war - hatte sie mit dem Deliatur-Zeichen versehen. Sein in Fußnoten gefasster metaphysischer Off-Kommentar über die grundsätzliche Fremdheit zwischen Mann und Frau wies ein völlig überdimensioniertes Fragezeichen auf - mit einem Edding-Stift: musste sie denn so dick auftragen? - und war mit der Anmerkung "wird durch nichts im Text gewichtet" versehen.
Wurde durch nichts gewichtet? Fred schnappte nach Luft. Diese Frau war hoffnungslos provinziell. Aus welchem Kaff im Rhein-Main-Gebiet kam sie eigentlich herausgekrochen, aus der Wetterau, aus dem Ried? Darmstadt vielleicht? War sie blind oder taub, oder beides? Was war sein Text denn anderes als die Erfahrung der Einsamkeit nach der Trennung von einer Frau und der Unmöglichkeit, sich ihr überhaupt verständlich zu machen? Ganz doch so wie er jetzt Katharina: Er widerlegte doch in diesem Moment ihre These. Ihr heftiges Nichtbegreifen war der beste Beweis für ihre Richtigkeit!
Erschöpft sank er hinter dem Computerdesk einer Bibliotheksangestellten nieder. Warum? Warum hatte es Katharina nicht genügt, sich unter einem Vorwand höflich aus ihrer Bekanntschaft zu verabschieden, so wie das alle normale Menschen taten. Wo wäre das Drama gewesen?. Stattdessen wollte sie ihn kränken, wurde aggressiv und pöbelte herum. Warum also? Weil es ihr im Bett gefallen hatte vielleicht? Weil sich ein Mann als überraschend qualifiziert herausgestellt hatte
Fred stampfte zu seinem Tisch zurück. Und er nahm es noch ernst, was sie geschrieben hatte - Fred schlug sich aufgebracht gegen die Stirn - er widersprach, hielt gegen! Es ging Katharina überhaupt nicht um die Novelle, nicht um seinen Protagonisten Falk - Gott sei Dank! sein Held war ihm schließlich ans Herz gewachsen - es ging nicht um Satzzeichen oder um Orthographie oder grammatische Zeiten: Es ging um sie selbst, um Katharina Anders! Um ihr winziges Ego, hier was schrieb sie, kleinkariert, spießig?
"Was uns beide betrifft, lieber Fred, so glaube ich nicht, dass wir eine gemeinsame Zukunft haben ... wir sind zu verschieden ... Du brauchst dauernde Aufmerksamkeit und Ansprache ... wie es mit einem gemeinsamen Urlaub aussähe, wolltest du in deinen Briefen wissen ... wie mir dein Haus gefalle .... du lebst in kindlicher Ichbezogenheit ... mit einer verkrampften Gier nach Nähe ... also verbleibe ich lieber ... mit freundlichen Grüßen, Katharina Anders.“
Zornig schmiss Fred seine Unterlagen in seine Aktentasche und verabschiedete sich nickend von den Müttern, die ihm mitleidig nachschauten. Gereizt betrachtete er die Auslagen in einer Konditorei. Etwas Süßes wäre jetzt gut, aber leider hatte er kein Geld dabei. Plötzlich fiel ihm ein Bericht in der Zeitung von diesem Morgen, in dem von einer besonderen Lichtmangelkrankheit im Winter die Rede war, die Depressionen bei empfindlichen Menschen verursachte. Nächste Woche wollte er mit seinem Therapeuten einmal diese Frage diskutieren, ob das unter Umständen auch auf ihn zuträfe. Das wäre ja ein Ding, wenn sich herausstellte, dass all die bösen Sorgen durch einen eventuellen Umzug in den Süden zu lösen seien.
Ein Häuschen in der Provence, einige Hühner, etwas Wein, Käse und eine Pinie, unter der es sich sitzen und in die Ferne schauen ließ: Was brauchte Fred mehr zum Leben? Er könnte südländisch kochen und alle neuen Freunde und Nachbarn dazu einladen. Sie würden ihn als Koch und auch als Dichter zu schätzen wissen und am Wochenende würde er allen auf dem kleinen Marktplatz seine aktuellen, unter dieser Pinie erarbeiteten Texte vortragen.
Er spannte seinen Regenschirm auf und stapfte im Nieselregen nach Hause. Der Plan war gut. Wie sich alle ärgern würden, wenn er die Winter zukünftig in Südfrankreich verbrachte. Leisten konnte er es sich ja, also was sollte der Geiz? Er würde forschen, souverän, glücklich und frei! Also angepackt! Gleich morgen würde er sich nach einem der Französisch-Sprachkurse erkundigen, die ihm Jürgen immer empfahl. Vielleicht gab es da ja auch eine nette Lehrerin, oder hübsche, zugängliche Mitschülerinnen: Hübscher und zugänglicher als diese Katharina jedenfalls. Er zog eine Grimasse, als er seine Haustür aufschloss: Viel gehörte ja nicht dazu!
Und was Katharina selbst betraf: Nächste Woche, wenn die Universitätsbibliothek wieder öffnete, wollte er sich einmal (nur so) auf die Recherche nach einiger ihrer paar Artikel machen. Etwas davon müsste ja in den Zeitungen zu finden sein. Und er, Fred, würde mal schauen, wie sich ihre Sachen denn so anlasen.
Lasen sie sich gut an: Dann Schwamm drüber. Au revoir Katharina, dann war er über kurz oder lang auf dem Weg in die Provence.
Lasen sie sich nicht gut an - Fred lächelte - dann würde es Ärger geben. Das könnte interessant werden, für Katharina und für ihn. Die Kriterien hatte sie ja genau aufgelistet und es würde ihm eine Ehre sein - Fred verbeugte sich in alle Richtungen, als er die Stahltreppe zu seinem Arbeitsstudio erklomm - sie auf sie selbst anzuwenden. Zu eitel, zu vage, bitte spezifizieren und bitte kürzer - bitte sehr, bitte gleich, Frau Anders! Zu dünn, zu dick, zu nichts sagend:
Kein Problem! Keine Atmosphäre, kein Geist, keine Idee: Willkommen im Club!
Zufrieden legte Fred seine Stifte auf dem Arbeitstisch bereit und dachte, dass sich Katharina all das früher hätte überlegen müssen, als sie diese Rallye mit ihm startete. Er war kein Amateur, kein debiler Idiot. Wie es in den Wald hineinscholl, so scholl es auch wieder heraus. Er, Fred, hatte versucht, sie zu warnen, Grenzen aufzuzeigen. Sie hatte sie unbedingt ignorieren müssen.
Sie musste sich in Zukunft warm anziehen.