Auf der Klippe
Stundenlang saß er dort oben, auf der steinigen Klippe, knapp 10 Meter über der Meeresoberfläche.
Ich kannte seinen Namen nicht.
Der Wind zerzauste seine Haare und immer wieder wehten ihm seine Strähnen in sein Gesicht. Er war ein hagerer Junge, wahrscheinlich knapp im Erwachsenenalter, hochgewachsen mit markanten Wangenknochen und langen, hellbraunen Haaren. Die Möwen selber schienen nach einiger Zeit zu denken, er sei zu Stein erstarrt und kreisten kreischend wenige Meter über seinem Kopf. Doch das ließ den Jungen völlig unbeeindruckt. Er schien nur wie hypnotisiert und mit einer fast schon kindlichen Faszination die Wellen zu beobachten, die unter ihm unaufhörlich an den Felsen zerschellten.
Als er endlich seinen Blick löste und zum Strand hinunter kletterte, berührte die tiefstehende Sonne bereits das Meer und die mittags noch angenehme Brise hatte sich in einen kalten, zugigen Wind, der einem die salzige Gischt ins Gesicht blies, gewandelt.
Er ging den Strand entlang in Richtung einer Jugendgruppe, die mit Bierflaschen und Zigaretten in den Abend feierte.
Kurz bevor er an dem Platz angekommen war, höhnte ihm ein muskulöser Junge, der noch größer und gut doppelt so breit wie er war, entgegen:
"Und hast du 'ne Erkenntnisse gewonnen?
Wird's heute Abend gewittern?
Oder werden wir von 'nem Tsunami überrascht?
Oder hast du den nackten Meerjungfrauen beim schwimmen zugesehen?"
Einige Mädchen kicherten angeheitert.
"Ich habe nur versucht zu verstehen, warum keine Welle einer anderen gleicht, wieso sich der Ozean nicht in ein Gleichgewicht mit monotonen Wellen einpendelt" antwortete der Junge etwas ängstlich.
"Und zu welchem Entschluss bist du gekommen, Einstein?" schnaubte der Muskulöse.
"Ich bezweifle, dass du meine Theorie verstehen würdest".
Er lächelte kurz.
"Und ich bezweifle, dass ich deine Scheißtheorie hören will, Freak."
Die Jugendlichen um ihn lachten.
"Komm, nimm en Schluck"
forderte der gut gebaute ihn auf und hielt ihm eine Flasche Wodka an die Brust.
Der Hagere schüttelte den Kopf und senkte den Blick.
"Hab ich's doch gewusst, unser Schlaumeier trinkt nichts" rief er triumphierten in die Runde.
"Nicht mit euch" kam leise als gemurmelte Antwort, doch die angetrunkenen Jugendlichen hörten ihn nicht.
Ich war nur ein paar Schritte von den Jugendlichen entfernt und wäre am liebsten aufgesprungen um den Jungen zu verteidigen, doch mir fehlte der Mut und so tat ich weiterhin, als ob ich mein Buch lesen würde. Vermutlich war die Gruppe von dem alljährlichen Freizeitcamp, dass wie jeden Sommer in Zelten eine Woche hier am Meer verbrachte. Mittlerweile wäre der Name Saufcamp wohl passender, es wurden von Mal zu Mal mehr Leute, die nur zum trinken und feiern kamen und dabei die Strände und das Meer mit ihrem Unrat zu kleisterten.
Ich konnte die Leute nicht leiden die nur zum feiern herkamen. Doch der dünne Junge, er hatte sich mittlerweile an den Rand der Gruppe gesetzt, war mir irgendwie sympathisch.
Inzwischen fing ich an mir selber Gedanken zu machen was seine Theorie wohl war. Wahrscheinlich, dass die Wellen unter vielen verschiedenen, sich ständig änderten, Einflüssen stehen. Der Wind, der sich dreht, stärker oder schwächer wehen kann, die verschiedenen Wasser und Lufttemperaturen, die Gravitation des Mondes, der sandige Meeresgrund, der immer in Bewegung ist.
Vielleicht, dachte ich, war es auch nur eine Ausrede und er wollte dort oben nur Abstand von dem Rest der Gruppe haben.
Während ich so nachdachte, bemerkte ich plötzlich wie die Gruppe, der es langsam kalt wurde, zusammenpackte und lauthals grölend zu ihrem Lager wankte. Auch der hagere Junge trottete mit trübem Blick hinter ihnen her.
Am liebsten wäre ich zu ihm gegangen und hätte ihn beiseite gezogen, der Gruppe wäre es sicher nicht aufgefallen, doch ich wusste nicht was ich zu dem fremden Jungen sagen sollte und mir fehlte abermals der Mut.
Traurig blickte ich ihm hinterher.
Es vergingen noch einige Minuten, nachdem sie weg waren, als mich plötzlich die Idee übermannte selbst einmal auf die Klippe zu klettern. Wie wahnwitzig die Idee war im Abendgrauen barfuß auf eine ca. 10 Meter hohe Klippe zu steigen, war mir in diesem Moment nicht bewusst und so packte ich mein Handtuch und Buch in meine Tasche, stellte sie an den Fuß der Klippe und begann zu klettern.
Es war ein mühseliger Weg, doch nach einiger Zeit und einem blutigen Zeh später, kam ich atemlos oben an.
Der Blick war atemberaubend. Die Sonne war zwar mittlerweile komplett untergegangen doch der Horizont glänzte noch rubinrot. Etwas höher färbte sich der Himmel zu einem kräftigen Lila und noch weiter oben waren auf tintenblauem Hintergrund schon die ersten Sterne zu sehen. Das unendlich weit wirkende Meer spiegelte das Farbenspiel. Manche Wellen waren so hoch, dass die Wassertropfen von den unten brechenden Wellen mir noch an den Füßen kitzelnden. Aus einer kleinen Grotte echote jedes Glucksen und Rauschen der Wellen tausend Mal nach. Um mich herum kreischten Möwen und nur wenige Meter von mir entfernt lugten winzige Möwenköpfe aus einem Nest und hielten nach ihrer Mutter Ausschau.
Wie betäubt saß ich am Rand der Klippen und entdeckte immer wieder Neues: Ein kleiner knorriger Baum, der sich an einem Vorsprung festkrallte, Krebse, die die Steine entlang krabbelten, und ein paar Robben auf einer etwas weiter entfernten Sandinsel im Meer.
Eine Ewigkeit, mir kam es nur wie wenige Minuten vor, lauschte ich der Musik des Meeres.
Dann, ganz langsam, dachte ich mir, dass es wohl das sei, wofür der hagere Junge hier oben war. Er hatte das Wunder der Natur entdeckt, dass allen andren dort unten verborgen blieb.
Als ich diesen Entschluss gefasst hatte, hörte ich plötzlich eine vertraute Stimme hinter mir: "Schön, nicht?"