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Auf der Insel
Marina Jarra
Auf der Insel
Die Höhle wird nur von einer Fackel erhellt. Auf der Seemannskiste sitzt ein Papagei. An den Wänden hängen eine Axt, ein Seil, ein Fischspeer und eine Machete. Auf dem Boden steht ein eiserner Topf auf drei Steinen. Robinson ist gerade draußen um weitere Schätze aus dem Schiffswrack zu bergen. Der Papagei sieht Florian mit einem Auge an.
Der Junge liegt auf dem Bauch unter seinem Schreibtisch, den er mit Decke und Bettlaken zugehängt hat. Er hält eine Taschenlampe auf die Buchseite gerichtet, der Lichtkreis zeigt einen kolorierten Kupferstich. Robinsons Behausung ist in allen Einzelheiten dargestellt , der Papagei grün mit roten Schwanzfedern, hinter einer fensterartigen Öffnung sieht man einen Palisadenzaun und großblättrige Pflanzen.
Es ist stickig-schwül in der Höhle. Florian schiebt die Decke etwas beiseite. Er wartet. „Mach endlich das Licht aus!“ soll die Mutter sagen und noch einmal in sein Zimmer kommen und „Was soll denn das schon wieder sein?“ schimpfen und Decke und Laken wieder in ein Bett verwandeln. Aber auf dem Flur bleibt alles still. Florian blättert im Buch.
Unter mächtigen Zyklonwolken kniet Robinson am Strand und umklammert eine Palme, die sich zu Boden biegt. Sein verfilzter Bart und seine Haarmähne wehen im Sturm wie die Palmwedel. Er blickt zum Himmel. Unter dem Bild steht: Robinson fleht zu Gott, dass er ihn aus seinem Elend erlöse.
Im Wohnzimmer klingelt das Telefon. Acht mal. Der Anrufbeantworter ist ausgeschaltet. Beim Abendessen hat die Mutter gesagt: „ Geh heute am besten nicht mehr ans Telefon. Morgen auch nicht.“
„Warum nicht?“
„Ich will heute keinen mehr sehen und hören, darum nicht.“
„Aber wenn Markus anruft wegen Angeln gehen oder Papa?“
„Papa meldet sich frühestens am Wochenende und Markus kannst du selbst anrufen.“
„Du willst bloß nicht mit Daniel reden, stimmts?“
„Das ist meine Sache, Flo.“
„Kommt Daniel nicht mehr?“
„Nein.“
Daniel ist ein Riese vom Stamm der Menschenfresser. Mit seinen Riesenfüßen tappt er auf ihrer Insel herum und hinterlässt Spuren auf dem gelben Teppichboden. Mit seiner Riesenhand schlägt er Florian auf die Schulter. Beim Fernsehen drückt er den Kopf der Mutter an seine Riesenschulter. Bevor er morgens im Bad die Zähne fletscht, joggt er eine Runde ums Karree und brüllt mit seiner Riesenstimme zu Florian hinauf: „Hey, komm runter! Los, eine Runde! Wer als erster oben ist, ich geb dir Vorsprung!“ Robinson joggt nicht. Er hat wichtigere Dinge zu tun. Er beobachtet den Riesen genau, denn der hat vor, die Insel in seine Gewalt zu bringen.
Aber es gelingt ihm nicht. Er ist weg. Die Mutter hat gesagt, er kommt nicht mehr. Gut. Gut.
Robinson kehrt von seiner Expedition an die entfernteren Strände der Insel in seine Höhle zurück. Gott hat sein Flehen erhört und ihm einen Gefährten geschickt. Er ist nicht mehr allein. Auf dem Bild hat Freitag lange schwarze Haare und eine zarte Gestalt. Er kniet vor Robinson, aber der reicht ihm die Hand, damit er aufsteht. Draußen vor der Höhle lärmt die Tropennacht. Es fiept, kreischt, zirpt , zischelt faucht. Erschrocken versteckt sich Freitag hinter Robinson, als die gelb-rot gestreifte Raubkatze in die Höhle springt. „Keine Angst, Freitag, das ist Leo“, sagt Robinson und krault den jungen Panther zwischen den Ohren. Dann schließt er den Höhleneingang, bereitet Freitag ein einfaches Lager aus Fellen, löscht die Fackel und beide legen sich zur Ruhe.
In der Nacht wacht Florian auf dem harten Boden auf. Kater Leo schläft in seine Kniekehlen gekuschelt. Die Mutter ist also nicht mehr ins Zimmer gekommen, sonst hätte sie ihn ins Bett gescheucht. Er kriecht unter dem Tisch hervor, zieht die Decke hinter sich her und will ins Bett. Der Kater streicht an ihm vorbei, bleibt an der offenen Zimmertür stehen und sieht in den dunklen Flur. Florian leuchtet mit der Taschenlampe in die Richtung.
Spuren im Sand. Freitags Lager ist leer. Große, feuchte Fußspuren führen in Richtung Meer. Am Horizont schimmert ein Lichtstreifen. Robinson gürtet sich mit dem Seil, steckt das Beil hinein, setzt die Fellmütze auf und zündet die Fackel an. „Komm, Leo!“ flüstert er dem Panther zu. Der Papagei wacht auf und flattert auf seine Schulter. Entschlossen folgt Robinson den Fußspuren. Brennt dort hinter den Dünen nicht ein Lagerfeuer? Er hört Stimmen. Der Menschenfresser ist zurück. Und er hat Freitag in seiner Gewalt!
Vorsichtig drückt Florian die Klinke der Schlafzimmertür herunter. Abgeschlossen. Das Schlüsselloch ist dunkel, der Schlüssel steckt von innen.
„Mama?“
ES rummst im Zimmer, etwas Schweres fällt herunter, ein halblauter Fluch folgt.
„Mama? Mama!“
Der Papagei schägt mit den Flügeln und kreischt, der Panther faucht, die Schiffsaxt kracht gegen die Tür.
Jetzt dreht sich der Schlüssel von innen, die Tür öffnet sich einen Spalt. Die Mutter steht da in ein Bettlaken gehüllt, mit wirren Haaren und heißem Gesicht. Ihr Körper verdeckt die Sicht auf das Zimmer.
„Was machst du denn?“ flüstert sie und blickt auf die Spielzeugaxt in Florians Händen.
Er steht stumm da. Sie hat gelogen. Er ist wieder da. Gleich lügt sie wieder, denkt er.
Die Mutter sagt: Es ist alles in Ordnung. Geh ins Bett! Morgen erklär ich dir alles, Großer.“ Sie stupst ihn an die Brust und schließt die Tür.
Robinson kehrt in die Einsamkeit seiner Höhle zurück. Freitag ist verloren. Im ersten Morgengrauen öffnet er die Tür des Palisadenzauns und entlässt den Panther in die Freiheit. Das Tier schleicht sich ins Unterholz. Zurück in der Höhle nimmt Robinson das alte Buch und reißt die Seite mit Freitags Bild heraus. Dann holt er eine Schachtel Streichhölzer aus der Seemannskiste, zündet das Bild über dem eisernen Topf an und wartet, bis die Asche im Topf verglüht ist. Er packt etwas Schiffszwieback und einen Schlauch Frischwasser in seinen Fellbeutel und hängt sich den Speer um. Der Papagei setzt sich auf seine Schulter. Es ist Zeit zu gehen.
Robinson verlässt die Festung und verschwindet im Dämmerlicht des Regenwaldes. Am Strand wird er seine Barke besteigen und die Fahrt zu neuen Ufern wagen.