Auf der Flucht
Auf der Flucht
„Erinnerst du dich noch daran, als du vierzehn warst?“ fragte ich meinen Freund, der neben mir saß. Ich schlug die Beine übereinander. Dabei rutschte der Rock hoch. Ich bemerkte es wohl, tat jedoch nichts dagegen.
Der Mann überlegte kurz, dann nickte er: „Ja.“
„Wovon hast du damals geträumt, Johnny?“
„Ist schon eine Weile her“, bemerkte er nachdenklich.
„Raus mit der Sprache“, forderte ich ihn auf.
„Als ich noch zur Schule ging, träumte ich davon, unsichtbar zu werden, wann immer ich es wollte.“
„Und was noch?“
Ein geheimnisvolles Grinsen umschmeichelte seinen Mund.
„Na los, erzähl mir von deinen Jugendträumen!“ drängte ich.
Johnny senkte für einen Moment den Blick. „Ich träumte davon Revolvermann zu werden, so nach Art von John Wayne. Ich wollte alle gefährlichen Revolverschwinger fangen und sie hinter Schloss und Riegel bringen.“
Ich lachte lauthals und nach einigen Sekunden stimmte Johnny in mein Lachen ein.
„Ich finde“, begann ich, „für John Wayne ist dein Bauchumfang etwas zu gering. Es fehlen dir ein paar Pfunde. Johnny, der große Revolverheld, das ist wirklich komisch. Hast du denn schon einmal einen Revolver in der Hand gehabt?“
„Habe ich“, antwortete Johnny und beobachtete mich dabei mit Argusaugen. „Es war als ich nach getaner Arbeit nach Hause kam. Da fand ich einen Revolver im Schrank meines Sohnes. Es ist sonst nicht meine Art, Burts Sachen zu durchsuchen. Jedenfalls als mein Sohn in sein Zimmer kam, richtete ich den Revolver auf ihn.“
Ich schluckte hörbar. „Du hast was?“
Wieder dieses geheimnisvolle Grinsen.
„Das finde ich nicht komisch!“
„Es war ein Spielzeugrevolver“, entgegnete Johnny amüsiert.
Johnny hatte mich in einer Bar kennen gelernt. Ich hatte ihm auf Anhieb gefallen, obwohl ich betrunken war. Und er schaffte es, sich trotz seiner rudimentären Gewohnheiten für mich interessant zu machen. Der Mann mit den breiten Schultern und den unschuldigen Augen zog mich in seinen Bann. Später stellte sich dann heraus, dass er gar nicht so unschuldig war.
„Nein, ich meine... ach, du weißt schon, was ich meine.“
„Habe ich nicht.“
„Klingt ziemlich ungewöhnlich für einen Mann, der seine Finger im Drogengeschäft hat“, bemerkte ich.
„Ich weiß, wenn du den Dreh raus hast, dann hast du es nicht nötig. Vorsicht ist oberstes Gebot. Solltest du auch nur einmal darauf vergessen und sich irgendwer verscheißert fühlen, kannst du deinen Arsch im Rinnstein aufsammeln.“
Johnny vertrat die Meinung, dass er nicht dazu tauge, sein Geld mit ehrlicher Arbeit zu verdienen. Das erschien ihm zu schweißtreibend. Aus diesem Grund war er ins Drogengeschäft eingestiegen. Er war stets vorsichtig gewesen und er würde es auch weiter sein.
Es war mir einerlei, dass Johnny ein Dealer war, im Gegenteil, es machte mich an. Er war ein Mann, der es peinlich vermied, über seine Geschäfte zu sprechen, er erzählte ausschließlich von seinem Privatleben, von seinen Frauenbekanntschaften, von denen er die meisten nur als „Gebrauchsgegenstände“ bezeichnete. Das war für mich ein Schreck gewesen und ich dachte: Hoffentlich sieht er mich nicht als eine Art Regenschirm. Dieser Anflug von Humor ließ mich sogar schmunzeln. Als er fünfzehn Jahre alt war, hatte er seinen um neun Jahre jüngeren Bruder erschlagen, als dieser ihm seine neuen Jeans mit Erdbeermarmelade bekleckerte. Daraufhin wurde er in eine Strafanstalt für Minderjährige eingeliefert. Nach einem Jahr gelang ihm die Flucht, er beschaffte sich falsche Papiere und setzte sich nach Südamerika ab, um acht Jahre später wieder zurückzukommen. Johnny war hier in Hunton Hill, Texas, geboren, nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt. Er war nicht aus sentimentalen Gründen zurückgekehrt, es hatte sich einfach so ergeben. Kriminelle Elemente dürfen nicht zur Sensibilität neigen, wie er meinte, das ist der sichere Tod.
Ich glaubte zu verstehen.
„Wenn es so gefährlich ist, warum steigst du dann nicht aus dem Geschäft aus?“ erkundigte ich mich und griff nach meinem Glas.
Er sah mich erstaunt an. „Wie stellst du dir das vor?“ fragte er. „So einfach ist das nicht. Ich kann nicht einfach kündigen. Die Brüder würden mich sofort über den Jordan schicken; sie besorgen mir Pantoffel aus massivem Beton und lassen mich auf dem Grund des Mississippi spazieren gehen. Solche Liebenswürdigkeiten haben diese Kerle für Aussteiger parat. Sie haben Angst, jemand könnte singen wie ein Kanarienvogel.“
Er wollte kein toter Aussteiger sein, er wollte weiter sein beschissenes Leben genießen, aus diesem Grund dealte er weiter.
Männer wie er sind keine Aussteiger, sie bleiben, was sie sind bis zu ihrem Tod. Männer wie er vertrauen nur sich selbst. Ja auch er selbst irrte, wenn er manchmal daran dachte, ein neues Leben anzufangen.
„Ich verstehe“, sagte ich und hatte plötzlich eine Idee. Noch wagte ich nicht, davon zu sprechen und drehte unentschlossen das Weinglas zwischen den Fingern.
„Für heute möchte ich nichts mehr davon hören“, sagte Johnny entschieden. „Reden wir über dich.“
Ich schwieg einen Augenblick nachdenklich, dann beschloss ich, nicht darauf einzugehen.
„Würdest du mir einen Gefallen tun?“ Ich sah Johnny fast flehend an.
Er nickte. „Was soll ich für dich tun?“
Jetzt hatte ich den ersten Schritt getan. Ich atmete einmal tief durch und stieß die Luft hörbar aus.
„Was ist los?“ wollte Johnny wissen und legte beruhigend seinen Arm um meine Schultern.
„Ich habe dir doch erzählt, dass Larry und ich nur eine Scheinehe führen und dass... (bla – bla – bla...)“ Ich redete und redete. Johnny hörte geduldig zu.
„Die Geschichte kenne ich schon“, sagte er. „Aber ich verstehe nicht, wie ich dir helfen kann.“
„Kannst du dir das nicht denken?“
„Nein.“ Er zeigte ein ratloses Gesicht.
Ein Blick in seine Augen verriet mir, dass er wahrhaftig keine Ahnung hatte und schließlich sagte ich: „Ich möchte, dass du für mich einen Killer findest. Ich will Larry loswerden!“
„Du willst ihn abmurksen lassen?“
„Ja, verdammt noch mal!“
Wir schwiegen eine Weile. Er wusste, dass meine Ehe nur auf dem Papier bestand. Die Partner dieser Ehe glichen zwei ermüdeten Zugpferden, ermüdet von jahrelangen Ziehen einer schweren Kutsche, jeden Tag im selben Geschirr.
Ich brach das Schweigen. „Ich warte auf eine Antwort.“
„Nun, ich denke, es ist zu machen“, erwiderte er. „Ich werde einen Kerl finden, der keine Fragen stellt. Das ganze ist allerdings eine Kostenfrage.“
„Das sollte kein Problem sein. Wenn Larry stirbt, fallen alle seine Besitztümer automatisch an mich. Seine Eltern sind tot, wir haben keine Kinder und es gibt keine Anverwandten, die Erbansprüche stellen könnten. Mein Mann ist reich, auf seinen Konten ist mehr Geld, als ich jemals ausgeben kann.“
Johnnys Miene wurde nachdenklich. „Ich glaube kaum, dass jemand auf Kredit mordet.“
„Ich habe etwas Geld. Ich denke, es wird reichen“, warf ich ein.
„Ich gebe dir Bescheid, sobald ich jemand gefunden habe.“
Ich war zufrieden. Ich konnte es nicht fassen, es hatte eine Zeit gegeben, in der ich Larry geliebt hatte.
Johnny drückte mich sanft an sich.
„Ich muss mal für kleine Mädchen“, flüsterte ich und streifte seine Hand ab. Ich erhob mich und ging durch die Diele auf die Toilette.
Die Tür ließ ich einen Spalt offen, dadurch konnte ich Johnny beobachten. Ich sah, wie er sich eine Chesterfield anzündete und aus seinem Glas trank. Ich hätte gern seine geheimsten Gedanken gekannt. Dann konnte ich sehen, wie er zum Fenster ging und in die sternenklare Nacht hinaussah. So stand er einige Minuten. Dann hastete er zur Kommode und durchwühlte lautstark seine Sachen. Panische Angst schien ihn ergriffen zu haben.
„Johnny, weshalb machst du solchen Lärm?“ rief ich laut genug, dass er mich hören konnte. „Was ist denn los?“
Johnny reagierte nicht. Er schien nach etwas zu suchen. Ich war verwirrt.
„Wo habe ich nur das verdammte Ding?“ hörte ich seine Stimme.
Ich vernahm schlurfende Schritte im Treppenhaus, oder bildete ich mir das nur ein? Der Verstand konnte mir einiges vorgaukeln, gerade in diesem Augenblick.
„Mit wem sprichst du?“ fragte ich.
Johnny reagierte nicht. Je mehr Zeit verstrich, um so mehr steigerte sich die Panik und in seinem Wahn begann er zu winseln wie ein ängstliches Kind. Ich hatte ihn immer für kaltblütig gehalten. Wer oder was versetzte ihn in solche Angst? Was hatte er draußen gesehen?
Eine Schublade polterte zu Boden und der Inhalt vermischte sich mit den Sachen, die er aus der Kommode gerissen hatte, zu einem heillosen Durcheinander. Er hastete zum Schrank, ein eingerahmtes Bild zerbrach dabei unter seinen Füßen.
Kratzende Geräusche an der Tür.
Jetzt bekam auch ich es mit der Angst zu tun. Johnny riss die Schranktür auf, Das war der Moment, in dem ich die Toilette verließ und nach ein paar Schritten in der Diele stehen blieb. Ich stand Johnny im Weg, er stieß mich brutal zur Seite. Mit einem Aufschrei wich ich zurück.
„He, was soll das?“
Keine Antwort.
Ich kochte vor Wut. Man ignorierte Sarah Winslow nicht einfach. „Würdest du mir verraten, was hier gespielt wird?“
„Verschwinde!“ zischte er.
Ich starrte ihn ungläubig an. Wie konnte er es wagen! Das war unglaublich. „Was?“
„Verdammt noch mal, verschwinde!“
Ich stemmte die Arme in die Hüften. „Was ist in dich gefahren? Vielleicht erklärst du mir mal...“
Johnny sah mich an und ich bemerkte die panische Angst in seinen Augen. „Hast du mich nicht verstanden? Du sollst verschwinden, ehe es zu spät ist. Als ich eben aus dem Fenster sah, habe ich den Mann in Schwarz gesehen. Er hat mich angestarrt, als wäre ich so gut wie tot. Er steht nicht mehr unten und ich verwette meinen Arsch, dass er jeden Moment hier auftauchen wird.“
„Du bist verrückt“, rief ich. „Der Mann in Schwarz ist ein Hirngespinst, jemand erlaubt sich einen geschmacklosen Scherz.“
„Bis vor wenigen Minuten dachte ich auch so. Aber es gibt ihn – und er erlaubt sich keinen Spaß. Der Mann in Schwarz will uns töten!“
Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte, ich wusste nur, dass ich Angst hatte.
Johnny widmete sich nun wieder dem Schrank. Nur wenige Sekunden später krachte in seinem Rücken eine Tür gegen die Wand. Glas zersprang in tausend Stücke. Wie vom Blitz getroffen, wirbelte ich herum.
Siedendheiß durchfuhr es mich. Der Mann in Schwarz war in die Wohnung eingedrungen – über den Balkon! Meine Augen wurden groß. Ich starrte den ihn an und mein Gesicht wurde zur Maske des Grauens.
Er sah furchterregend aus.
Ich sah nur noch ihn. Ich musste fliehen, sonst würde er mich in Stücke reißen, doch meine Beine wollten mir nicht gehorchen.
Lauf! befahl ich mir. Aber ich konnte mich nicht bewegen.
Ich stierte weiter auf den Mann in Schwarz. Langsam begann ich mich rückwärts zu bewegen. Es war wichtig, Ruhe zu bewahren, nur keine hastige Bewegung, dann könnte er auf mich aufmerksam werden. Ich blickte über die Schulter. Die Wohnungstür schien Lichtjahre weit entfernt zu sein.
Der Mann in Schwarz war aus meinem Blickfeld verschwunden. Von der Tür trennten mich noch vier, fünf Schritte – eine große Distanz. Ich war überrascht, dass meine Nerven standhielten, wo doch mein Leben auf dem Spiel stand. Nur mit unmenschlicher Anstrengung gelang es mir, nicht Hals über Kopf davon zu stürzen. Meine Nerven waren angespannt. Nach endlos erscheinenden Sekunden spürte ich die Tür im Rücken. Ich wagte immer noch nicht mich umzudrehen. Ich konnte den Mann in Schwarz nicht mehr sehen. Das erfüllte mich mit einer lächerlichen Erleichterung, so als wäre die Gefahr in ein unbekanntes Universum verbannt.
Johnny stand wie versteinert. Er schien dem Tod geweiht. Ich tastete nach dem Türknauf, wenig später hörte ich ein Knacken im Schloss. Ich machte einen Schritt zur Seite und die Tür schwang auf. Endlich konnte ich wieder Freiheit und Hoffnung einatmen.
Ich wirbelte herum und floh über die Treppe. Laut hallten meine Schritte. Die Sekunden verstrichen viel zu schnell, viel zu langsam kam ich voran, obwohl ich rannte, wie ich noch zuvor gerannt war.
Ich tauchte in die Nacht hinein. Doch diesmal weigerte sich die Dunkelheit, mich zu verstecken. Die Nacht war kühl. Ich wandte mich nach links, erreichte meinen Wagen, als mir einfiel, dass sich der Schlüssel in meiner Handtasche befand und die wiederum hatte ich in Johnnys Wohnung zurückgelassen.
Nicht die Nerven verlieren, dachte ich.
Jetzt hatte ich keine Wahl mehr, ich musste laufen. Vielleicht hatte ich Glück und es kam ein Nachtschwärmer mit seinem Wagen vorbei, der mich auflesen konnte. Aber ich hegte nicht viel Hoffnung, denn zu dieser Stunde war die Stadt wie ausgestorben. Ich lief die Straße entlang, die aus der Stadt führte. Die Gebäude am Straßenrand wirkten leer und tot. Wind kam auf. Meine Entschlossenheit weiterzuleben peitschte mich voran. Der Verstand versorgte den Körper mit zusätzlicher Kraft. Mit den hochhackigen Schuhen vermochte ich kaum zu laufen und so dauerte es nicht lange, ehe ich umknickte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht blieb ich kurz stehen, um die Schuhe abzustreifen.
Hatte ich eben nicht eilende Schritte gehört?
Ich lauschte. Mein Herz schlug so laut, dass ich mir nicht sicher war. Ängstlich blickte ich zurück – außer den parkenden Autos und den dunklen Baumkronen konnte ich nichts erkennen. Aber war da nicht eine mannshohe Silhouette in der Dunkelheit gewesen? Der Mann in Schwarz! Wo hatte er sich versteckt?
Da bewegte sich ein Schatten. Kein Zweifel. Meine Furcht wuchs. Der Schatten kam näher, aber er war zu klein für den riesenhaften Mann und er bewegte sich zu leise. Es war ein Schäferhund, ein streunender Straßenköter, der dort und da auftauchte, gefüttert wurde und wieder verschwand.
Der Hund beschnupperte mich, als wollte er feststellen, mit wem er es zu tun hatte.
„Ich habe jetzt keine Zeit für dich“, flüsterte ich, warf ihm ein Stück Zucker zu, das ich in der Seitentasche fand und lief weiter.
Der Schäferhund lief eine Weile neben mir her und war plötzlich verschwunden. Allmählich wurden die Häuser spärlicher. Ich erreichte den Stadtrand. Noch etwa hundert Meter, dann hatte ich Hunton Hill hinter mich gebracht. Keine Häuser, keine Menschen, das bedeutete keine Aussicht auf Hilfe. Ich war auf mich allein gestellt, es blieb nur noch die vage Hoffnung eines vorbeifahrenden Wagens.
Ich lief einen Hügel hinauf. Meine Schritte wurden kürzer. Langsam ging die Kraft zur Neige. Ich sah den nahen Wald vor mir. Der Wald bot vielleicht noch eine Chance – so nah und doch so fern. Mein Atem ging rasselnd und die Füße waren kalt, sie schienen tot zu sein und dennoch begannen sie zu bluten. Die tausend Stimmen der Nacht erhoben sich. Ich erschauderte. Rasende Furcht gab mir eine Ausdauer, wie ich sie nie zuvor gekannt hatte. Ich hörte die Schritte hinter mir. Die Angst steigerte sich in Entsetzen. Während ich weiterlief, blickte ich über die Schulter. Ich glaubte den Mann in Schwarz zu sehen. Seine grausamen Augen tauchten quälend in meinem Verstand auf. Die Schritte klangen näher, wurden lauter. Eine Stimme sagte mir, dass alles umsonst sei, aber mein Verstand hämmerte mir ein, weiterzulaufen.
Ich verließ die Straße, lief über grasbewachsenen Boden. Wiederholt peilte ich über die Schulter, während ich mich fragte, wie lange ich noch würde weiterlaufen können. Der Mann in Schwarz war merklich nähergekommen, schon erkannte ich deutlich seinen Schatten.
Vor mir tauchte ein Buschgürtel auf.
Ich erreichte den Buschgürtel, schlug einen Haken nach links. Der Mann in Schwarz konnte mich jetzt nicht ausmachen. Hätte ich die abrupte Richtungsänderung nicht vollzogen, wäre ich unweigerlich in den Graben gestürzt, der sich zu meiner Rechten auftat. Ich behielt die Richtung bei und rannte auf den Bahndamm zu. Wieder ein gehetzter Blick über die Schulter. Der Mann in Schwarz war noch nicht zu sehen.
Ich sprang in den Graben. Er war gut zwei Meter tief.
Weiter!
Plötzlich erschrak ich durch ein lautes, schrilles Fiepen, das schnell wieder verstummte, als das Rückgrat der Ratte brach, der pelzige kleine Körper aufbrach und sich die Gedärme über den trockenen Boden des Grabens verteilten. Ich registrierte nur en passent, dass ich in vollem Lauf auf den Nager getreten war und nun klebriges Blut an meinen Beinen und zwischen den Zehen haftete.
Ich lief durch eine Biegung des Grabens, stolperte und schlug hart auf, schürfte mir dabei Knie und Hände auf. Der Schmerz war brennend, doch ich bemühte mich, ihn zu ignorieren, und rappelte mich sofort wieder hoch. Mit zentnerschweren Beinen lief ich weiter. Ich war beinahe am Ende.
Meine Schritte wurden zu einer unmenschlichen Anstrengung. Die keuchenden Atemzüge hörten sich an wie das Rattern einer alten Dampfmaschine.
Völlig ausgelaugt geriet ich ins Wanken. Ich hörte dicht hinter mir die eilenden Schritte des Mannes in Schwarz. Am Rand der Grube tauchte eine riesige Trauerweide auf, deren weitausladende Äste den Boden streiften.
Ich hatte das Ende des Grabens erreicht.
Ich musste hier raus, doch die Wände des Grabens waren hoch, zu hoch, um sie erklettern zu können. In meiner Panik grub ich die Finger in das Erdreich, versuchte mich hochzuziehen, einmal... ein zweites Mal, doch ich rutschte immer wieder ab. Langsam dämmerte mir, dass ich in der Falle saß.
Erschöpft kauerte ich mich nieder. Schon nach wenigen Augenblicken kühlte sich mein erhitzter Körper ab und ich begann zu frösteln. Ich fuhr mir mit den Fingern durch das zerzauste Haar und weinte bitterlich. Ganz in meiner Nähe hörte ich, wie Stein auf Stein schlug – in rascher Folge – näherkommend. Ich betete um ein Wunder, an das ich nicht mehr zu hoffen wagte. Dann verengte ich die Augen zu Schlitzen. Ich glaubte vor mir eine Schwärze zu sehen, die noch dunkler war, als es das Erdreich sein durfte. Sofort erhob ich mich und ging darauf zu. Die Stelle kam mir gähnend vor. Möglicherweise ein Kanal. Mein Herz jubelte vor Freude, als sich herausstellte, dass ein meterhohes Rohr weiterführte.
Ich duckte mich, tauchte in das Rohr ein und konnte meine Flucht fortsetzen. Schon nach wenigen Metern empfing mich süßlicher, übelkeitserregender Verwesungsgeruch. Bald drehte sich mir der Magen um und ich musste kotzen. Der Gestank nach Tod wurde mit jedem Schritt, den ich zurücklegte, intensiver und wenig später trat ich in etwas weiches – es war der verfaulende Kadaver eines Tieres. Meine nackten Füße sanken tief in das Weich und ich kotzte erneut.
Mit einem schmatzenden Geräusch zog ich den Fuß aus dem Kadaver. Gebückt ging ich weiter. All die Gedanken an Geld und überschwänglichen Luxus waren verschwunden. Urplötzlich verhielt ich meine Schritte. Ich überlegte, ob dieser Kanal nicht ein geeignetes Versteck abgab, da ich kaum eine Chance sah, den Wald jemals zu erreichen. Ich hatte Zweifel am Sinn meines Tuns. Es war doch hoffnungslos. Ich war zum Sterben verdammt.
Stille umgab mich. Alles wirkte friedlich.
Ich hatte kein Geräusch gehört, doch fühlte ich, dass ich nicht mehr allein war. Ich blickte auf. Erdrückende Dunkelheit umgab mich. Das Atmen fiel mir plötzlich schwer.
Eine Gänsehaut überzog meinen Körper, aber das klaustrophobische Gefühl war wie weggefegt.
Der Mann in Schwarz war hier. Aber wo genau befand er sich? Sollte ich meine Hände ausstrecken, um meine nächste Umgebung abzutasten, würde ich ihn berühren? Doch konnte er denn hier sein, er vermochte sich doch nicht vollkommen lautlos zu bewegen. Oder doch? Ich hatte mich eine Weile von meinen Gedanken treiben lassen, da wäre es doch denkbar, dass ich sein Herannahen überhört hatte. Ein Gefühl, das ich vor vielen Jahren schon für Tod erklärt hatte, kehrte urplötzlich zurück: Platzangst! Ich fühlte mich, als läge ich in einem, mit roten Samtkissen ausgelegten Sarg und hatte eben festgestellt, dass ich den Deckel nicht hochstemmen konnte, er saß bombenfest.
Ich war lebendig begraben.
Dieser Gedanke ließ mir die Haare zu Berge stehen, hinzu kam noch die nicht wegzudenkende Präsenz des Mannes in Schwarz. Und dies waren keine Hirngespinste, es waren Fakten.
Ich war wieder allein, selbst mein Verstand ließ mich in Nichts ersticken. Das war der Augenblick in dem stinkender Atem mein Gesicht streifte und ein bedrohlich funkelndes Augenpaar auftauchte.
Bitte mach schnell! Bring’s hinter dich!
Ich war wie gelähmt vor Angst und schloß die Augen und meine Lippen formten ein stummes Gebet.
Da hörte ich plötzlich ein wütendes Knurren. Dann einen Schrei der Überraschung. Das Knurren vermischte sich mit dem Geschrei des Mannes in Schwarz. Ich öffnete die Augen und erkannte den Hund sofort wieder.
Ein heftiger Kampf tobte. Der Mann schlug nach seinem vierbeinigen Gegner. Doch das Tier wich blitzschnell zur Seite. Ich erkannte meine Chance, setzte meine Flucht fort und dankte Gott für das Stück Zucker.