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Auf der Blumenwiese
»Wie gut, dass die Sonne heute scheint«, sagte die Mohnblume, »meine Farbe soll schließlich gebührend zur Geltung kommen.« Während sie sprach, reckte sie ihren leuchtend roten Kopf so weit sie konnte gen Himmel.
»Wer will denn schon dein aggressives Rot?«, erwiderte die Narzisse herablassend. »Ich finde, an solchen Sommertagen sieht mein Gelb viel schöner aus.«
Das Veilchen, das die beiden belauscht hatte, kicherte. »Was habt ihr beiden immer nur mit euren Farben«, mischte es sich ein, »es ist die Form, auf die es ankommt. Seht nur her«, sagte es, und drehte kokett seine fünfblättrige Blüte, »ich habe vielleicht keine besondere Farbe, aber mich kann man trotzdem nicht übersehen!«
Die Rose hatte das Gespräch der Blumendamen schweigend mitangehört. Als sie nun sah, wie sich das Veilchen vor den beiden anderen hin und her drehte und seine Blütenform anpries, räusperte sie sich. Sofort hielt das Veilchen inne und alle drei Blumen guckten zur Rose. Diese lächelte spöttisch. »Ihr mit euren Farben und Formen, glaubt ihr wirklich, jemand würde euch beachten, wenn ich hier neben euch stehe?«
Das Veilchen, die Mohnblume und die Narzisse warfen sich einen Blick zu.
»Lasst euch gesagt sein«, fuhr die Rose fort, »dass keine Blume auf dieser Wiese von solcher Einzigartigkeit ist wie ich.«
»Mag sein«, bemerkte das Veilchen spitz, »schließlich hat keine von uns so pieksige Dornen wie du.«
Die Rose verfärbte sich vor Wut fast violett und giftete zum Veilchen zurück, während der Mohn und die Narzisse wieder in ein Streitgespräch über ihre Farben vefielen.
Neben dem Veilchen stand ein Gänseblümchen, das die ganze Zeit über stumm geblieben war. Als die Rose für einen Moment Luft holen musste, entdeckte das Veilchen den Lauscher neben sich. »Und was ist mit dir?, fragte es, »glaubst du nicht auch, dass du es mit unserer Rose aufnehmen kannst?« Dabei versetzte das Veilchen dem Gänseblümchen einen Stoß in die Seite, dass das kleine Ding um ein Haar umgeknickt wäre.
»Aber nein«, stammelte es, »niemals würde ich so etwas sagen.«
Jetzt schwiegen auch der Mohn und die Narzisse und wandten sich ihm zu. Das Gänseblümchen errötete unter der ungewohnten Aufmerksamkeit.
»Nunja«, sagte die Mohnblume schließlich, »besonders groß bist du ja nun wirklich nicht.«
»Und deine weißen Blätter sind auch nicht gerade auffallend«, ergänzte die Narzisse mit kritischem Blick.
»Vielleicht könntest du etwas mehr aus dir machen«, meinte die Mohnblume wieder. Das Gänseblümchen brachte vor Scham kein Wort heraus.
Die Rose gab einen verächtlichen Laut von sich. »Kindchen«, sagte sie, während sie sich zu ihrer vollen Größe aufrichtete, »du tust gut daran, nicht auf das Geschwätz des Veilchens und der anderen zu hören. So kleine Blümchen wie du sollten sowieso nicht den Mund aufmachen, wenn Erwachsene miteinander reden.«
Sie lachte laut und war so sehr damit beschäftigt sich emporzurecken, dass sie den kleinen Jungen nicht hörte, der den Weg entlangkam und die Blumen entdeckte. Ritsch-ratsch machte es und schon hatte er die Rose in der Hand.
»Mama wird sich freuen«, jubelte er und hüpfte den Weg zurück. Das Gänseblümchen sah ihm wie betäubt hinterher. Das Veilchen gab ihm einen erneuten Stoß.
»Kein Grund so traurig zu gucken«, meinte es. »Wenn du mich fragst, dann hat sie jetzt endlich die Aufmerksamkeit, die sie immer wollte.«