Auf der anderen Seite des Lichts
8:00 Uhr morgens. Die Dämmerung versucht die Dunkelheit der Nacht langsam aus dem Wohnzimmer zu vertreiben. Noch gelingt es ihr nicht ganz. Ich öffne die Augen, schließe sie gleich wieder. Es ist noch zu dunkel im Raum. Und still. Vor 3 Monaten war hier noch Leben. Nun hallt von den Wänden kein Echo von Stimmen zurück. Nur kalte, trübe Stille. Totenstille.
Der Hund gähnt. Er hat gemerkt, dass ich wach bin. Er kommt zu mir und stupst mich mit seiner kalten, feuchten Schnauze an und beginnt, mir die Hände abzulecken. Mein Hund. Unser Hund. „Du bist wie ich“ denke ich und schau in seine treuen, fragenden Augen. „Du wirst von mir weggestoßen, angeschrieen, nicht beachtet, und trotzdem liebst du mich, freust dich, wenn du mich siehst, bist mir treu. So wie ich. Du dummer Hund, ich dummer Mensch“. Was hat er wohl in den letzten 3 Monate gedacht? Ich habe ihm zwar Futter und Wasser gegeben, aber die Zuwendung, die er gewöhnt war, konnte ich ihm nicht mehr geben. Statt dessen musste er mit meiner oberflächlichen Nichtbeachtung fertig werden. Mit einem mechanischen Streicheln über den Kopf, mit viel zu vielen Leckereien, damit er bloß Ruhe gibt. Und trotzdem liebt er mich.
Der Morgen hat sich nun durchgesetzt und vertreibt die Schatten der Nacht. Aber nicht den Schatten auf meinem Gesicht. Er ist immer da. Der Schatten der Verzweiflung, der Einsamkeit, der Hoffnungslosigkeit, der Hilflosigkeit. Der Schatten, der die Begeisterungsfähigkeit aus meinen Augen verdrängt hat. Das Funkeln, welches früher alles Neue begrüßte. Wer bin ich? Was bin ich? Bin ich überhaupt?
Auf der Straße beginnt das vorweihnachtliche Leben zu erwachen. Autos zischen hin und her. Ich höre Stimmen, die sich lautstark unterhalten, lachen. Ich nehme dies alles wahr, aber es ist so weit weg. Ich sitze immer noch regungslos auf meinem Sofa, meinem Schlaflager seit 3 Monaten. Ich kann das Schlafzimmer seitdem nicht mehr für das nutzen, wozu es eigentlich gedacht ist. Schlafen. Es geht nicht.
Langsam erhebe ich mich. Meine Waden schmerzen. Wahrscheinlich die ersten Anzeichen von monatelanger Mangelernährung. Ich koche mir einen Kaffee, zwinge mich, etwas zu essen, damit der Kreislauf halbwegs stabil bleibt. Ich starre ins Leere. Das Zimmer scheint mich auszulachen mit seinen vielen Bildern, den vielen Erinnerungen. Sie starren mich mit ihren Grimassen von kalten Wänden an. Ich halte meine Ohren zu. Kann das schallende Gelächter nicht mehr ertragen. Kann die laute Stille nicht mehr hören.
Von dem anstehenden Weihnachtsfest ist hier nichts zu erahnen. Keine Weihnachtsdekoration, keine Kerzen, keine bereits gekauften und verpackten Geschenke, die nur darauf warten, am Heiligabend voller Freude an den neuen Besitzer überreicht zu werden. Weihnachten, das Fest der Liebe, der Nächstenliebe, der Freude, das Fest der vielen Lichter. Ich sehe sie nicht mehr, die Lichter. Ich stehe nun auf der anderen Seite. Auf der dunklen Seite. Da, wo keine Lichter brennen. „An Weihnachten sollte kein Mensch einsam sein.“ Sollte.
12:00 Uhr mittags. Zeit zum Essen. Ich öffne den Kühlschrank. Leer. Ein paar alte Scheiben Käse, die selbst der Hund nicht mehr mag. Sonst gähnt mich nur ein beleuchtetes, leeres Loch an. „Dann essen wir ein paar Spekulatius. Schließlich ist bald Weihnachten“. Der Hund schaut mich voller Vorfreude an. Er mag keine Spekulatius. Und ich eigentlich auch nicht mehr, da ich sie schon seit Tagen esse.
Ich setze mich wieder ans Fenster. Dort wo ich schon seit 3 Monaten Tag für Tag sitze und hinausstarre, als würde draußen auf der Strasse etwas Spannendes passieren. Jeden Tag rollen die gleichen Autos vorbei, gehen die gleichen Menschen vorbei, die gleichen Hunde. Ich kenne sie schon alle und könnte ihnen Namen geben. Aber selbst das ist mir zu anstrengend. Nachdenken. Kann ich nicht mehr. Mein nur noch mit Spekulatius unterversorgtes Gehirn verweigert langsam seinen Dienst.
Draußen gehen die Lichter an. Die Zeit ist wieder zerronnen. Durch meine Hände hindurchgesickert. Ich habe es gar nicht mitbekommen. Der Tag will schon wieder der Nacht Platz machen. Die Weihnachtsbeleuchtungen erstrahlen nach und nach in jedem Fenster der Häuser, die meine Straße umsäumen. Helle Sterne, Nikoläuse, die stromversorgt erstrahlen, Lichter, Lichter, Lichter. Auf der anderen Seite ist es hell. Ich befinde mich auf der falschen Seite. Aber alleine komme ich nicht über die Straße….
Ich zünde mir ein Teelicht an. Schließlich ist bald Weihnachten.