Auf dem Jahrmarkt
Auf dem Jahrmarkt
Seit Wochen freut sie sich auf den Jahrmarkt. Er ist zwar eigentlich nicht viel mehr als eine Fressmeile rund um unseren kleinen See, mit ein paar Geschenkebuden zwischendrin und ab und an einer Losbude, aber für sie bedeutet er viel mehr.
Er bedeutet Abwechslung. Ein Lichtblick im tristen Leben zwischen Angst und Hoffnung, Operationen und Chemotherapie. Für ein paar Stunden kann sie dieses böse Ungeheuer mit Namen Krebs vergessen.
Und ich vielleicht auch.
Um drei Uhr fahren wir los. Wir haben Glück, in einer Seitenstraße, nicht weit vom See entfernt, ist noch ein Parkplatz frei. Die Nähe zum See ist wichtig, denn sie kann nicht so lange laufen. Ich hoffe nur, dass dieser Jahrmarktbesuch sie nicht zu sehr anstrengt.
Jetzt sind wir endlich angekommen, der Eingang zur Budenstraße liegt vor uns. Und schon taucht das erste Problem auf: Sie muss auf's Klo.
Zum Glück steht hier ein Toilettenwagen.
"Schaffst du es alleine?" Sie guckt mich strafend an. Natürlich schafft sie es alleine, das tut sie immer, schließlich gibt es ja Windeln, die man einfach hochziehen kann.
Also drücke ich ihr eine Windel in die Hand, verkneife mir gerade noch ein mahnendes: "Wenn was ist, rufst du, ja?" (als ob sie das nicht ganz von selber tun würde!), und bleibe draußen vor dem Wagen stehen.
Nach fünf Minuten werde ich leicht unruhig und rufe in den Wagen, ob alles okay sei. Sie antwortet etwas ge-nervt mit ja, und ich fange an auf und ab zu gehen. Nach zehn weiteren Minuten und zwei Nachfragen meiner-seits ist sie fertig.
Alles wieder in Ordnung, Windel ausgetauscht, jetzt kann es losgehen!
Nach einer Zuckerbude und einer Torwand, die wir problemlos passieren, kommen wir an einen Stand mit über-backenen Champignons und frittierten Käsespießen. Essen ist immer interessant, also bleiben wir stehen. Ich erkläre ihr genau, was es gibt, doch an ihrem verwirrten Gesichtsausdruck sehe ich, dass sie mich nicht wirklich versteht.
Nach mehrmaligem Erklären, und unter den irritierten Blicken der Verkäuferinnen entscheidet sie sich am Ende für einen Käse-Champignon Spieß. Ich bin nicht ganz sicher ob sie das mag, aber wenn sie sich erstmal festgelegt hat, gibt es nichts, was sie noch umstimmen könnte.
Die Sauce ist die nächste Schwierigkeit. Es gibt Kräuter- Knoblauch- und Cocktailsauce. Wieder versteht sie nicht richtig, der Lärm um uns herum ist zu groß, das Gewühl zu dicht.
Sie wird immer nervöser, blickt mich hilflos an. Ich wünschte, ich könnte ihr helfen, doch ich kann nicht mehr tun, als es ihr immer wieder zu erklären, und dabei möglichst beruhigend zu klingen.
Inzwischen ist auch die Chefin des Standes auf uns aufmerksam geworden, sie wiederholt noch einmal alle Saucenvarianten. Das ist zwar im Grunde eine nette Geste, doch je mehr Leute auf sie einreden, desto verwirrter wird sie. Also bestelle ich schließlich Knoblauchsauce, und auch wenn sie das normalerweise lieber selber macht, spüre ich, dass sie mir dafür dankbar ist, sie erlöst zu haben.
Wir setzen uns an einen Tisch und essen den Spieß, der ihr leider doch nicht ganz so gut schmeckt, weshalb ich die Hälfte essen muss. Damit hatte ich ja allerdings schon gerechnet, ich weiß schließlich, was ihr schmeckt und was nicht. Das Problem ist nur, sie weiß es nicht mehr.
Nachdem wir mit dem Essen fertig sind, gehen wir weiter.
An fast jedem Stand halten wir an, seien es Spielzeuge, Süßigkeiten, oder Wasserbetten, alles interessiert sie, alles sieht sie sich an. Beim Dosenwerfen gewinnt sie eine Rose, auch wenn die ersten zwei Bälle danebengehen und beim dritten die Standbetreuerin nachhelfen muss, damit sie überhaupt eine Dose trifft.
Trotzdem, als ich ihr die Rose ins Knopfloch ihrer Weste stecke, strahlt sie mich an. Beinahe steigen mir die Tränen in die Augen, so glücklich habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen.
Langsam wird sie müde, also suchen wir eine Bank zum hinsetzen. Am Ufer des Sees finden wir schließlich eine, und nachdem wir ein wenig die Sonne genossen und uns ausgeruht haben geht es weiter zur Anlegestelle der Tretboote.
Sie liebt Boote, das hat sie schon immer getan, also mieten wir uns einen Zweisitzer und fahren auf den See hinaus. Hier ist es ein wenig ruhiger als an Land und wir genießen die Stille, während wir uns einfach treiben lassen.
Kurz bevor unsere Zeit um ist, springt ein todesmutiger junger Mann vom Bungeekran, der am Ufer steht.
Sie ist völlig hingerissen, hängt mit den Augen an dem Mann und blickt nicht eher weg, bis er wieder heil am Boden gelandet ist. Aber schließlich sieht man ja auch nicht alle Tage einen Mann der kopfüber an einem Seil hängend von einem 60 Meter hohen Kran springt.
Nach der Bootsfahrt ist unser Jahrmarktbesuch fast beendet, wir kaufen uns noch eine Portion chinesische Nudeln mit Gemüse und setzen uns zum Essen an einen der Klapptische.
Als wir zurück zum Auto gehen, ist sie erschöpft, aber glücklich.
Wieder zu Hause beginnen wir unser allabendliches Ritual und spielen ein paar Runden Rummy. Wie immer lasse ich sie gewinnen, auch wenn mir das heute nicht so leicht fällt, da sie doch ziemlich müde ist. Außerdem ist sie mit den Gedanken noch bei dem heute Erlebten und kann sich nicht so gut konzentrieren. Daher hören wir nach der zweiten Runde auf, und sie macht sich bettfertig.
Ich suche inzwischen eine Geschichte für heute raus und stelle die Kopflehne meines Bettes hoch.
Wir setzen uns immer in mein Bett, weil es breiter ist als ihres und wir beide hineinpassen.
Nachdem sie fertig ist, kommt sie ins Bett und ich fange an zu lesen. Ich komme nicht sehr weit, immer wieder unterbricht sie mich. Zu präsent sind die Ereignisse des Tages noch, zu wichtig ist es, darüber zu reden. Es macht mir nichts aus, ich rede gerne mit ihr. Ganz besonders die Bootsfahrt fand sie toll, das sagt sie immer wieder.
Für mich ist es wundervoll, sie so glücklich zu sehen, damit hat sich der Jahrmarktbesuch eindeutig gelohnt.
Als ihr die Augen bereits zufallen, kuscheln wir noch ein bisschen, sie bekommt einen Gutenachtkuss, dann geht sie in ihr Bett.
An der Tür dreht sie sich noch einmal um. "Ich hab dich lieb, mein Schatz!" sagt sie. Ich lächle.
"Ich hab dich auch lieb, Mama!"