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Auf dem Gummiplatz

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23.08.2013
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Auf dem Gummiplatz

Alle Häuser bei uns in der Siedlung sind abgefuckt, das kann man gar nicht anders sagen. Als hätte jemand die Stufen eines Kellerlochs aus Versehen über der Erde gebaut. Missgelaunt ragen diese aneinandergereihten Klötze vom ersten bis zum siebzehnten Stock in den Himmel und die Sonne fragt sich bestimmt, „Muss ich wirklich darauf scheinen?“
In der Mitte unserer Siedlung gibt es einen Gummiplatz. Das Gummi darauf ist lachsfarben und abgewetzt, es bröselt nur so in den Händen, wenn man daran zupft. Hier und da ist es aufgerissen, so dass man die Teerflecken darunter sehen kann. An den Enden zwei Tore, zwei Basketballkörbe auch. Und überall drumherum Bänke.
Bis vor kurzem waren das noch die guten aus Holz, solche, in die du noch was reinritzen konntest, du seist der Boss zum Beispiel, wessen Mütter du alles gefickt hast oder auch Liebeszeugs.
Nach und nach hat die Hausverwaltung diese Bänke durch Sitzgelegenheiten aus Metall ersetzt. Die halten länger und da kann niemand was reinschreiben. „Voll der Scheiß“, sagen alle. Die Dinger haben noch nicht einmal eine Rückenlehne.
Wenn du jung bist, findet dein Leben auf dem Gummiplatz statt. Wenn du Dope kaufen willst, gehst du auf den Gummiplatz, wenn du Basketball zocken willst, machst du es auch. Wenn du zum Essen kommen sollst, sucht dich deine Mutter auf dem Gummiplatz. Und die Mädchen triffst du auch hier. Sie sitzen auf den Bänken und wissen Bescheid. Ob der Hakan nun die Sandra gefickt hat oder nicht, das können dir die Mädchen vom Gummiplatz sagen. Oder du fragst Hakan, aber er könnte lügen.

Wenn du älter wirst, dann hockst du auch auf dem Gummiplatz, alle anderen sind ja auch noch da. Nur den ganzen Scheiß um dich herum siehst du ein bisschen besser.

In unseren Häusern leben ganz seltsame Typen. Da ist der Sülo aus meinem Haus Nr. 2, 12ter Stock, ein durchgeknallter Afghane mit Diabetes, der sich mal alleine gegen acht Russkis geprügelt und nicht verloren hat. Der sagt, wenn du willst, dass die anderen dich respektieren, musst du einfach der verrückteste sein.
Und in der Nr. 6, 8ter Stock, dort wo es im Treppenhaus immer nach Pisse und Türkenessen riecht, lebt Herr Colchesky mit seiner kranken Frau. Sie liegt den ganzen Tag im Bett und da ihn das langweilt, hat er sich ein Fernrohr angeschafft. Seitdem stalkt er alle Mädels in der Nachbarschaft. Sagt, er könne mal vorbeikommen, wenn sie wollen, er wisse ja, wo sie wohnen. Niemand will mit Herr Colchesky zusammen im Aufzug fahren.
Und dann war da einer in der Nr. 14, 5ter Stock unterm Dach; Ingo hieß er, dem war sein Gesicht verbrannt. So ein bulliger Kerl war das, untersetzt, sah aus wie der alte Kühlschrank im Schaufenster von Emre´s Laden für Gebrauchtelektronik in der Nr. 26, Erdgeschoss. Da kostet das braune Ding heute noch 68,43, weil Emre glaubt, er hätte einen tollen psychologischen Kniff für die Preisgestaltung gefunden. Dort steht der Kühlschrank schon seit vielen Jahren. Vorher hat er mal 77,32 und 72,19 gekostet.
Die Leute erzählten, Ingo sei ein Held. Er hätte zwei kleine Brüder von sich aus einem brennenden Haus herausgeholt. Hätte zwar nichts genutzt, denn die beiden waren schon erstickt, dafür wurde er selbst arg verbrannt und ein Held geworden.
Die Leute erzählten, dass er seitdem ein bisschen komisch war. Weiß nicht, ob das stimmt, aber wenn du ihn was fragtest, dann muhte er nur und schlug sich gegen den Kopf. Richtig sprechen konnte er nicht mehr.

Manchmal kam Ingo auch auf den Gummiplatz, wollte dann immer mit den anderen ein paar Körbe werfen. Die Kleinen hatten Angst vor ihm, die Halbstarken lachten über ihn, wofür sie von den Älteren jedes mal Backpfeifen kassierten.
„Den Ingo lässt du in Ruhe“, sagten die Älteren jedes Mal und packten die Jungs am Hinterkopf, „der Ingo ist in Ordnung.“ Und wenn die Halbstarken ein bisschen älter wurden, dann sagten sie den neuen Jungs das Gleiche. Und Ingo muhte und hampelte durch den Platz, nur den Korb traff er nie.
Der Typ war der einzige Held, den ich in meinem Leben getroffen habe.

Einmal, da hat Ingo sich verliebt. Irgendwann im frühen Herbst war das, als es mit den warmen Abenden langsam zu Ende ging, aber die Bäume in unseren Straßen immer noch ganz grün waren.
In unsere Siedlung zog damals eine junge Frau, ein Mädchen eigentlich noch, aber schon mit einer kleinen Tochter, dafür ohne Mann. Irgendwo war sie rausgeflogen, das wusste man nicht so genau und einen Job hatte sie auch nicht gehabt. Mit einem Job wäre sie auch kaum in diesen Häusern gelandet. Das Jugendamt hatte sie hierhin vermittelt.
Sie war ganz schmal gewesen, keine Titten, kein Arsch, gar nichts. Dazu trug sie immer weite Pullis mit Rollkragen und ohne, die ihr fast bis zu den Knien reichten. Sah scheiße aus. Ihre Haare hatte sie ganz dunkel gefärbt und geschminkt hat sie sich überhaupt nicht. Wenn du ihr im Hausflur begegnet bist, flüsterte sie dir immer ein kleines Hallo zu und lachte leise auf, als würde sie sich für ihre Freundlichkeit entschuldigen müssen. Und immer huschte sie überall hin, nie ging sie, wie normale Menschen das taten. Immer huschte sie wie ein Mäuschen die Wände entlang. Janine hieß dieses Mädchen.
Die Mädchen vom Gummiplatz mochten Janine. Von alleine wäre sie da nie hingegangen, aber jemand muss sie wohl im Hausflur erwischt und zu dem Platz gezerrt haben. Jedes unserer Mädels fühlte sich neben der Neuen wie zum Schutz abgestellt. Selbst die fünfzehnjährigen Türkenmädchen mit ihren dicken Hintern und Armen, die so haarig waren, wie die von meinem Alten, selbst die sahen neben Janine wie Türsteher aus.
Mit Janine konnten die Gummiplatzmädchen über alles sprechen. Sie sprachen und sprachen und die Neue hörte ihnen aufmerksam zu, die Augen auf den Boden geheftet. Und immer lächelte sie dabei. Janine selbst sagte kaum ein Wort, weswegen die anderen Mädchen bei ihr ungestört ihren ganzen Quatsch auskippen konnten. Vor der kleinen musste sich niemand schämen, so unbedeutend wirkte sie.

Als Ingo sie eines Tages auf einer Bank am Rand sitzen sah, in ihren klobigen Schuhen, den Griff des Kinderwagens in der Hand, hat er von einer Sekunde auf die andere angefangen, noch beschissener als sonst zu spielen. Konnte mit dem Ball gar nichts anfangen. Blickte sich immer um nach Janine. Verstohlen zuerst, aber als er merkte, dass das Mädchen ihre Augen gar nicht vom Boden abwandte, schaute er immer direkter hin. Ganz still ist er dabei gewesen, du konntest ihm ansehen, dass er sich bemühte, nicht zu muhen. Und wenn ihm dann doch eine seiner Unverständlichkeiten herausrutsche, packte er sich sofort an den Mund, als würde er darin eine Fliege gefangen halten.
Es war schwer, etwas in Ingos Gesicht zu erkennen. Seine Züge hatte das Feuer zerknittert, die Narben am Hals zogen die gesamte Haut nach unten. Du hast das Gefühl gehabt, dass es an manchen Stellen viel zu viel davon gab und an anderen Stellen doch wieder viel zu wenig. Dadurch wirkte alles in Ingos Mimik verschoben. Und wie solltest du dir einen Reim auf den Menschen machen, wenn sich sein Mund dort befand, wo normalerweise ein Kinn sein soll und dich anstelle einer Nase eine verschrumpelte Kartoffel anschaute. Da Ingos Wangen auch nach unten verrutscht waren, konntest du immer das Blut unter seinen Lidern sehen und die Augen selbst sind klein und rund gewesen, wie bei einem Schwein. An die Farbe kann ich mich gar nicht erinnern. Nein, Ingo sah wirklich grässlich aus. Er hatte ein Gesicht, das nicht einmal eine Mutter hätte lieben können.
„Na, mein Freund, findest die Kleine scharf, was?“, Ayhan sprach Ingo als erster auf Janine an. Nach dem Spiel saßen wir noch ein Stündchen unter dem Korb und kifften uns einen.
Ingo sagte nichts, er wusste ja, dass niemand ihn verstand. Nur ein leises Röcheln verließ seinen Hals und die kleinen Schweineaugen blickten verschämt.
„Ja, wat machste jetzt nur?“, fuhr Ayhan fort. Sein Musterbärtchen verzog sich zu einem dünnen Lächeln. „Meinste, kannst sie ficken?“ Das war natürlich Unsinn. Niemand dachte, dass Ingo Janine jemals hätte ficken können, einen Verbrannten wie ihn, würde sogar eine Nutte abweisen.
Ingo schwieg. Wir haben das zunächst alle für Verlegenheit gehalten, aber dann sahen wir, dass er Ayhan fixierte und immer schwerer atmete. Nur Ayhan bemerkte nichts.
Noch ein paar Sprüche machte der Türke, von wegen, Janine hätte einen Arsch, wie sein kleiner Bruder und genau solche Titten. Wie sie überhaupt das Kind herausgepresst habe, aus einem solchen Kleinerjungekörper und wer sie wohl geschwängert hätte. Es ging ihm gar nicht um Ingo, er hatte ihn schon fast vergessen. Der wollte nur über das Mädel herziehen, wie er das über jede Frau in der Siedlung tat.
Und als er dann ausholte und meinte, dass ein richtig großer Schwanz, wie seiner halt, die Kleine aufspießen würde, wie ein Grillhühnchen, da saß der Ingo schon auf ihm drauf und prügelte mit seinen riesigen, verbrannten Pranken auf den feinen Türkenkopf ein. Gemuht hat er dabei wie eine geschächtete Kuh und von seinem Kinn ist Sabber runtergetropft.
Als wir die beiden auseinander gezogen hatten, war Ingo niemand böse. Nur Ayhan ein wenig. Aber im Grunde war man einem Krüppel nie wirklich böse, so einer drehte schon mal durch. Und jetzt hat er sich auch noch verliebt.
Nur Ingo war böse. Auf jeden von uns. Weil wir keine Krüppel waren wahrscheinlich. Und er schon.
Zwei Tage später saß ich mit ein paar Jungs auf einer Bank neben dem Gummiplatz, als Janine mit ihrem Kinderwagen erschien. Ingo lief neben ihr her und fuchtelte wild mit den Armen. Keine Ahnung was er ihr erzählte und wie er das tat, aber Janine sah ihn an und lächelte. Sie sah nicht zu Boden, sondern mitten in Ingos Fratze. Und trotzdem lächelte sie. Du konntest endlich ihre Augen sehen. Sie waren grün und sehr groß. Zu groß für ihren Kopf eigentlich. Wie bei einem Affenbaby. Auch so nass.
Die zwei gaben ein seltsames Paar ab. Ingo war drei Mal so breit wie Janine und auch ein gutes Stück größer. In seinen Armen hätte er sie erdrücken können, ganz ohne Mühe. Wie eine Salzstange würde dieses Mädchen zerbröseln und nur Staub hinterlassen.
Aber Ingo rührte sie gar nicht an. Seine Hände behielt er schön bei sich, wenn sie denn nicht in der Luft flogen, um Janine etwas zu erzählen. Jeden Tag lief er einfach neben ihr her, saß mit ihr auf dem Gummiplatz, auf einer von den Holzbänken und irgendwann haben wir gemerkt, dass er nicht mehr mit den Armen fuchtelte. Sie sprach und er hörte zu. Einer von ihnen musste ja manchmal sprechen und da Ingo es nicht konnte, tat Janine das.
Klar hat Ingo schon hin und wieder noch gemuht. Und wenn er aufgeregt war, dann knallte er sich zuweilen auch mal mit der flachen Hand gegen den Kopf. Aber ansonsten sprach Janine. Neben Ingo wirkte sie auch gar nicht mehr wie die Kleine. Wie eine Große dann nun auch nicht, aber eben ganz normal. Wie eine Frau halt.

Gewundert haben sich natürlich alle. Dass Ingo eine abgekriegt hat. Wer hätte das schon gedacht. Aber gefreut haben sich die Leute schon. Ingo war ja ein guter Junge, warum sollte einem wie ihm nicht auch mal was gutes im Leben passieren. Immerhin war er ein Held.
Hin und wieder kam Ingo noch zum Basketballspielen. Aber viel seltener als früher. Die meiste Zeit verbrachte er mit Janine. Sie ließ ihn sogar ihren Kinderwagen durch die Siedlung schieben. Vor ihm wirkte das Ding wie ein Spielzeug mit dem kleine Mädchen junge Mütter spielen.
Wie ein Ungeheuer hockte er neben dem Kinderwagen und wenn die Kleine weinte, dann wippte er mit dem Ding wie verrückt, steckte seine schwieligen Finger darein und muhte irgendwas, um das Kind zu beruhigen. Das Mädchen muss furchtbare Angst vor ihm gehabt haben, denn es weinte die ganze Zeit. Aber Janine schaute ihm bei seinen hölzernen Versuchen nur zu und lächelte.
Einmal saßen wir auf der Bank, an der Ingo mit Janine immer das Kind geschaukelt hat. Das war noch eine von den guten, aus Holz, in ihr habe ich mich auch schon verewigt. Auf der Rückenlehne entdeckte ich eine Inschrift: „Ingo + Janine.“ Höckrig waren die Ränder, Ingo muss das mit einem Schlüssel hinein geritzt haben. Und da fragte ich mich schon, „Ingo + Janine“ = was?
Als Ingo wieder einmal zum Zocken kam, fragte ich ihn nach dem Spiel: „Und, Bruder, hast du schon was mit ihr gehabt?“ Versuchte, die Frage vorsichtig zu stellen, dass er sie nicht in den falschen Hals bekam, habe ihm dabei auch auf den nassen Rücken geklopft. Der Typ hat geschwitzt wie ein Esel.
Das hat uns alle interessiert. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, wie die zwei miteinander Sex hatten. Dieses kleine graue Pusteblumending, das beim ersten Windstoß umzuknicken droht und Ingo - das Hochhaus-Biest. Dieser braune, unverkäufliche Kühlschrank, unter dessen Wucht, Ayhan mit seinem feinen Türkenkopf, wie ein Grashüpfer gezappelt hat.
Als ich ihn das fragte, wurde Ingo rot. Es war so seltsam zu sehen, wie die Scham seine verformte Visage hinaufkletterte und seine nach unten gezogenen Wangen zum Glühen brachte. Solche zärtlichen Gefühle passten überhaupt nicht zu diesem grauen Klotz aus der Nr. 14, 5ter Stock unterm Dach. Aber Janine passte auch nicht zu ihm.
Er gab mir keine Antwort und ich habe auch nicht mehr gebohrt. Ansonsten würde er sich vielleicht wieder einen Film fahren. Er war ja schon ein komischer Typ.

Als der Winter anfing, wurde der Gummiplatz immer leerer. Niemand wollte bei der Kälte Basketball spielen und auf den Bänken saßen nur noch die schlimmen Alkis. Denen war das Wetter scheißegal.
Bei uns in der Siedlung hat damals ein Kulturzentrum aufgemacht, „für internationale Verständigung und Integration.“ Nur schienen die Deutschen von dieser internationalen Verständigung und Integration ausgenommen zu sein, denn in dem Laden lungerten nur Ausländer herum. Wir spielten den ganzen Tag Backgammon und Schach und tranken türkischen Tee, von dem du nach ein paar Jahren Zähne bekommst, die so schwarz sind, wie der Tee selbst.
Den Winter über habe ich weder Ingo noch Janine gesehen und ich habe auch nicht groß an sie gedacht. Diese Geschichte gehörte auf den Gummiplatz und hatte im Kulturzentrum nichts verloren.
Manchmal, wenn das Thema doch mal aufkam, haben wir uns schon gefragt, was die beiden gerade machen. Es war Ayhan, der immer sagte: „Wie die zwei nur miteinander ficken können? Ist doch echt ekelhaft. Die will´s bestimmt nur von hinten haben, wie eine Hündin, dann muss sie seine Fratze nicht sehen.“
Wir sahen das im Grunde alle ähnlich, schwiegen aber meist. Ingo war ein guter Junge und außerdem ein Held. Da musste man nicht so hart über ihn herziehen. War doch gut, dass er die Kleine hatte und wie sie vögelten, ging ja eigentlich niemanden etwas an. Trotzdem haben wir manchmal über Ayhans Vorstellungen gelacht, aber vor allem aus Langeweile.
Eines Tages kam Ayhan wieder auf Ingo und Janine zu sprechen.
„Habt ihr gehört, der kleine Junge ist nicht mehr mit dem Krüppel zusammen?“
Das hat zuerst kein Mensch verstanden.
„Wat für ein kleiner Junge Alter, wat erzählste da?“
Ayhan grinste uns erstmal an. Er hat den Tag auf dem Gummiplatz, als Ingo auf ihn einprügelte, wohl niemals vergessen können. „Die Janine meine ich“, hämisch kam das, „die Janine und den Verbrannten. Die sind nicht mehr zusammen.“
„Wat gibt’s denn da eigentlich zu lachen man, wat ist daran so witzig?“, habe ich ihn gefragt. „Und woher willste das überhaupt wissen. Wat haste mit den beiden zu tun?“
„Komm, reg dich ab.“ Ayhan war angepisst, weil ihn alle anderen mit gehobenen Augenbrauen anschauten. „Ist doch scheißegal Alter. Meine Schwester hat es mir erzählt. Sie geht manchmal bei Janine vorbei.“ Ayhans kleine Schwester war eines von den Türkenmädchen mit großen Hintern und haarigen Armen, die am Anfang auf Janine aufgepasst haben.
Eine halbe Minute saßen wir alle schweigend da. Es war mir peinlich Ayhan anzusehen.
„Scheiße man“, sagte ich in die Runde, „das ist echt schade für den Ingo. Wat ist denn da passiert?“
Ayhan wusste Bescheid. Er muss seine Schwester ausgequetscht haben. „Ach, ganz einfach alles. Der Ex-Typ von ihr ist aufgetaucht. Der, von dem sie das Kind hat. Meinte, er will sie zurück, hat von Familie gelabert, seine Kleine soll einen vernünftigen Vater haben. Er hätte jetzt auch einen Job und so. Die wollte zuerst nicht, aber dann hat er paar Tage auf sie eingeredet und sie ist mit ihm gekommen. Jetzt sind die beiden wohl am Arsch der Welt irgendwo in Hamburg.“
„Und Ingo?“, fragte jemand von uns.
„Wat weiß ich.“ Ayhan zuckte da nur mit den Schultern. „Der ist nicht mitgekommen.“
Alle lachten. Ich auch, obwohl es mir doch irgendwo unangenehm war.
In den nächsten Wochen hat Ingo keiner gesehen. Besonders stark interessierte sich auch niemand für sein Schicksal. Wir sind weiter ins Kulturzentrum gegangen, haben Backgammon gespielt und literweise diesen scheißstarken Tee getrunken.

Der Winter ging vorbei, die Bäume wurden wieder grün und auch die Sonne tauchte wieder über unseren Klötzen auf. Wenn sie in die Stadt kam, dann sah sie auf jeden Fall auch bei uns vorbei. Vielleicht hatte sie unsere Siedlung doch gerne. Oder es kümmerte sie einfach nicht, auf was sie schien.
Als die Luft wieder voll war mit dem rauchigen Frühlingsduft, gingen wir auf den Gummiplatz.
Das lachsfarbene Gummi ist über den Winter noch verwetzter, noch löchriger geworden. Teerflecken klafften überall. Die Hausverwaltung hat fast alle Holzbänke durch Metall ersetzt. Sie haben auch die Bank mitgenommen, in die Ingo mit seinem Schlüssel „Ingo + Janine“ reingeritzt hatte.
Es war schön, sich wieder ein bisschen bewegen zu können, nicht immer nur würfeln und Tee trinken. Alle Leute waren wieder auf dem Gummiplatz. Die Kleinen, die Halbstarken, die Mädchen. Alle haben das getan, was sie schon vor einem Jahr getan haben und das Jahr vorher auch. Du hast Leute gesehen, die dir im Winter nicht über den Weg gelaufen sind. Ein paar Mädchen haben Kinder bekommen, ein paar andere waren schwanger. Den Sülo haben sie aus dem Knast entlassen und Herr Colchesky hat sein Fernrohr wieder auf dem Balkon aufgebaut. Jemand schmiss einen Grill an, auf dem Lammwürstchen brutzelten und mit ihrem Geruch alle hungrig machten. Alles lärmte und flachste herum. Nur Ingo war nicht da.

Auf dem Weg nach Hause traf ich ihn wieder. Fast drei Monate habe ich den Typen nicht mehr gesehen und plötzlich kam er mir aus seinem Hauseingang entgegen.
Der Winter war zu Ingo nicht gut gewesen. Nicht, dass er vorher besonders gesund ausgesehen hätte, aber in den letzten Monaten war es mit ihm sichtlich abwärts gegangen. Er war abgemagert, die Haut auf seinem Gesicht knitterte sich noch mehr und das Blut unter seinen Augen war nicht mal richtig rot.
„Ingo, mein Bruder, alles klar bei dir?“, ich klopfte ihm auf die Schulter. „Ich habe das von Janine gehört. Tut mir leid.“
Ingo muhte nur irgendwas und schaute auf den Boden.
„Komm doch bald wieder zum Basketball. Wir könnten dich gut gebrauchen. Der Ayhan hat schon Angst vor dir.“
Auf seinem Kinn erschien so etwas wie ein Lächeln.
In dem Moment merkte ich, dass der Typ einen großen Rucksack umgeschnallt hatte.
„Alter, bist du jetzt bei den Pfandfindern oder wie?“, ich zupfte an einem Riemen.
Ingo blickte mich verlegen an. Nach ein paar Sekunden Unentschlossenheit kramte er in seiner Hosentasche und holte einen zerknitterten rot-weißen Umschlag der Deutschen Bahn heraus. Er griff hinein und hielt mir anschließend ein Ticket vor die Nase: Köln-Hamburg, 2. Klasse.
Dann klopfte Ingo mir auf die Schulter, drehte sich um und machte sich auf den Weg zur S-Bahn.

 
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Hallo randundband,
wir kennen uns noch nicht. Also wünsch ich dir hier ein herzliches Willkommen.
Ich hab schon deine Geschichte von dem Weltempfänger gelesen und mochte sie sehr, wenn auch manche der Hinweise, dass du ruhig szenischer schreiben könntest, sicherlich stimmen.
Auch hier ist das wieder so. Das zwackelt für mich besonders am Anfang, aber ich habe es trotzdem gerne gelesen, weil du einfach das Zeug zum Plaudern, Erzählen in so einem lakonischen Tonfall hast. Ich mag das, mochte das schon immer, andere werden da vielleicht weniger gut reinfinden. Wichtig ist dabei, dass die Sprache stimmt und da gibt es bei dir einfach Stellen, die einen über das rein Berichtende hinwegtragen, weil es eindrucksvolle Bilder sind. Ein besonderer Blick eben.
Trotzdem ein Tipp aus meiner Sicht: Ich würd gerade am Anfang noch mal schauen, was da nicht unbedingt stehen muss für deine Geschichte. Denn da sind Beobachtungen und Beschreibungen enthalten, die kennt so gut wie jeder. Das heißt, du hast Übererklärendes drin, was die Beschreibung dann langatmig macht. Auch ein paar Füllwörter. Außerdem finde ich, man muss aufpassen, dass man nicht in das allzu Klischeeige tappt, wenn es auch andererseits so ist, dass die Inhalte ja leider Realität sind.
Trotzdem noch mal kritisch drüber gehen, und sich bewusst werden, dass man da leicht in diese Falle geraten kann, dass der Leser sagt: Klar, und das jetzt auch noch.

Gut fand ich da zum Beispiel, dass der Gummiplatz sozusagen zu einer weiteren Figur deiner Geschichte wird, um den herum sich das gesamte Leben dieser Siedlung rankt. Von daher könntest du ihn (von mir aus) sogar noch etwas atmosphärischer beschreiben.

Richtig gepackt hat mich deine Geschichte dann, als der Ingo und seine Janine auftauchten. Da wollte ich dann unbedingt wissen, was aus den beiden wird.
Geärgert hab ich mich dann (fast) über das Ende. Das ist genau das, was ich meine. Mensch, das reicht doch völlig aus, wenn dein Erzähler dem Ingo begegnet und der hat sich auf so schlimme Weise verändert. Das fand ich so schlimm für diesen armen muhenden Ingo, den brauchst du doch gar nicht auch noch zu opfern. Das wirkt angepappt, und klischeeig. Mal ganz davon abgesehen, dass die Benutzung des Treppenhauses ja nicht unbedingt der Beweis eines Selbstmordplans ist. Den reibst du dem Leser nur unter durch die Überlegung deines Prots.

Ein weiterer Punkt: Du hast da einen Erzähler, man weiß nicht, wer das ist, man erfährt nur, dass er in der Siedlung lebt, sonst könnte er all die Beobachtungen nicht machen oder von "bei uns" schreiben.
Aber er bleibt und ist ein sehr blasser Erzähler, sehr im Hintergrund. Das hat mich ganz besonders am Anfang gestört, weil ich ihn gar nicht so recht einordnen konnte. Und ich kanns immer noch nicht. Und ich finde schon, dass man aus seiner Erzählerei schon ein paar mehr Rückschlüsse auf ihn ziehen können sollte. Aber später hat es mich nicht mehr so gestört, weil da auch ein bisschen mehr von ihm erzählt wurde.
Also am Anfang solltest du unbedingt ein bisschen nachlegen. Ich hffe ja auch, dass jemand anderes noch mal liest und dir dazu noch was sagt, vielleicht täusch ich mich ja auch. Ich versteh dich jedenfalls so, dass dein Erzähler im Hintergrund bleiben soll, du willst ihn nur als Filter nehmen, durch dessen Sicht du die Geschehnisse rund um den Gummiplatz schildern willst. Und dieses Vorhaben als solches find ich gut, aber am Anfang ist er mir trotzdem zu neutral, zu blass.

Stilistisch wollte ich dir noch sagen, dass du in deinem Text sehr häufig die Zeiten wechselst. Ich weiß schon, du willst so schreiben, dass es wie die Erzählung dieses Menschen klingt, der das alles jemandem vor sich hinerzählt, der mit ihm auf einer Stufe steht. Sowas Vertraulich Plauderndes. Ich denk mir jedenfalls, dass das deine Absicht war. Trotzdem fielen mir die Zeitenwechsel manchmal negativ auf. Ich weiß auch nicht so recht, wie man da richtig vorgeht, kannst ja mal bei den Brennerkrimis von Haas gucken, der hat ja auch einen eigenartigen sehr nah und plaudernd klingenden Sprachduktus. Vielleicht kommt das bei dem aus dem Österreichischen.
Jedenfalls muss das offensichtlich gut gemacht sein,und ich hab keine Ahnung, wie es so geht, dass der Leser nichts merkt, sondern eingelullt wird.

Alle Häuser bei uns in der Siedlung sind abgefuckt, das kann man gar nicht anders sagen. Als hätte jemand die Stufen eines Kellerlochs aus Versehen über der Erde gebaut. Grimmig und kahl ragen diese Klötze am Stadtrand in den Himmel und die Sonne fragt sich bestimmt, „Muss ich wirklich darauf scheinen?“
Ich find den ersten Satz gut. Kommt mir vor, als säße einer mir gegenüber, der mir von zuhause erzählt. Es braucht dann aber auch ein Bild, warum die so abgefuckt wirken und die Kellerlochstufen find ich eigentlich gut, aber ich verstehs gar nicht, wie du das meinst. Die Stufen sind horizontal, die Häuser in die Vertikale gebaut. Und von daher reibt sich das semantisch fürmich so, wie du es schreibst. Trotzdem, der Vergleich ist geil, du mussts nur irgendwie umformulieren, umd die Gemeinsamkeit der Kellerstufen mit den Häusern klarer zu machen. Kellerstufen sehen ja scheiße aus, meistens bröcklig, manchmal schimmlig, feuchte Ausdünstung. Und sie führen nach unten. Tiefer gehts nicht mehr. Klar, deshalb gefällt mir der Vergleich. Aber eben nicht ganz richtig durchgeführt. Und dann wie du weitermachst, grimmig und kahl, das will mir zu dem Vergleich mit den Kellerstufen nicht passen. Außerdem sind grimmig und kahl, naja, sehr gängige Formulierungen, wie man ein hässliches Hochhaus beschreibt.

Die Hausverwaltung hat mal vor langer Zeit zur Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens, die ganze Wohnanlage bunt anstreichen lassen und auf den Straßen Bäume gepflanzt. Hat aber nichts genützt. Da hätte man genauso eine alte Straßennutte fröhlich schminken und ihr ein Tic-Tac mit Minzaroma geben können.
Das Fette würd ich raus. Übererklärend, denn dass es nichts nützt, kommt sofort danach.
Der Vergleich mit der Straßennutte gefällt mir nicht. Ist wieder so ein gängiger Vergleich und außerdem sind die zwar stark geschminkt, aber wenn du fröhlich schreibst, dann fragt man sich sofort, ja schminken die sich denn sonst extra traurig? Also wenn du die Straßennutte nimmst, dann würd ich eher was wählen, dass die alte Straßennutte auf kindlich oder unschuldig geschminkt ist.
Das Tictac mit Minzaroma find ich dann wieder klasse.

In der Mitte unserer Siedlung gibt es einen Gummiplatz. Das Gummi darauf ist lachsfarben und ganz abgewetzt, es bröselt nur so in den Händen, wenn man daran zupft. Hier und da ist es aufgerissen, so dass man die Teerflecken darunter sehen kann. An den Enden zwei Tore, zwei Basketballkörbe auch noch in einem anderen Quadrat. Und überall drumherum Bänke.
Das Fette haute mich raus. Ist keine wichtige Info, dass der Gummiplatz verwahrlost aussieht, weiß man schon. Und das andere Quadrat ist für die Satzrhythmik nicht gut. Man fängt außerdem sofort an zu überlegen, woe das mit dem Quadrat gemeint ist. Wenn due es weglässt, führt deine Satzmelodie schneller zu den Holzbänken. Und die sinds ja, auf die es ankommt.

Bis vor kurzem waren das noch die guten aus Holz, solche, in die du noch was reinritzen konntest, du seist der Boss zum Beispiel, wessen Mütter du alles gefickt haben willst oder wen du 4ever geliebt hast. So sehr geliebt hast, dass du es dem Gummiplatz unbedingt mitteilen musstest. Anonym natürlich, aber in der leisen Hoffnung, deine Geliebte würde das lesen und wissen, du bist´s gewesen.
Mindestens das Schwarze weg. Ev. sogar mehr.

Seit neustem ersetzt die Hausverwaltung diese Bänke mit Sitzgelegenheiten aus Metall. Sitzgelegenheiten. Diese Dinger darf man gar nicht anders nennen, so amtlich und menschenfeindlich fühlen sie sich an. Noch nicht einmal eine Rückenlehne haben sie.
ganz raus oder mindestens kürzen.

Wenn du jung bist, findet dein Leben auf dem Gummiplatz statt und den ganzen Scheiß um dich herum, den siehst du gar nicht.
Wenn du Dope kaufen willst, gehst du auf den Gummiplatz, wenn du Basketball zocken willst, machst du es auch. Wenn du zum Essen kommen sollst, sucht dich deine Mutter auf dem Gummiplatz. Und die Mädchen triffst du auch hier. Sie spielen selten mit den Jungs, sondern sitzen am Rand und unterhalten sich über sie. Ob der Hakan nun die Sandra gefickt hat oder nicht, wenn du das wissen willst, musst du nur die Mädchen auf dem Gummiplatz fragen. Oder du fragst Hakan, aber er könnte lügen.
Gut, aber kürzen und den fetten Satz ganz raus. Du nimmst sonst die schöne Idee vorweg, dass eigentlich alle auf dem Gummiplatz sind, die Alten nur begreifen, wo sie da eigentlich leben.

Willst du dich umbringen – in unserer Siedlung passiert das schon mal, trotz der bunten Wände – dann kannst du von unseren Häusern springen und dabei musst du gar nicht in einem von ihnen wohnen. Die Türen stehen immer offen. Du fährst mit dem Aufzug hoch, wenn er funktioniert, und wenn nicht, dann läufst du halt die Treppe rauf. Nach Pisse stinkt es überall, nach Türkenessen auch, und hin und wieder trittst du auf eine gebrauchte Spritze.
kürzen, straffen und vor allem, dass man beim Springen auf dem Gummiplatz aufschlagen wid, das gehört hierher. Nicht nach dem nächsten Abschnitt.
Und wenn du oben bist und immer noch springen willst, dann kannst du drei Mal raten, wo du landest.
Ja klar, auf dem Gummiplatz. Aber ordne das alles doch ein bisschen besser zusammen, das klingt im Moment zusammengewürfelt und zu ausschweifend. Das muss alles (jedenfalls für meinen Geschmack)prägnanter werden.

Wenn du älter wirst, dann kommst du auch auf den Gummiplatz, deine Freunde sind ja dort und deine Kinder. Wenn du älter wirst, findet viel von deinem Leben auch auf dem Gummiplatz statt, nur dann siehst du den ganzen Scheiß um dich herum ein bisschen besser.
Straffen, ordnen. Wiederholungen raus.
Wenn du älter bist, dann hockst du immer noch auf dem Gummiplatz, nur dann siehst du den Scheiß um dich herum ein bisschen besser.

Bis hierhin mal. Vielleicht verstehst du an den Beispielen ein wenig besser, was ich meine. Und wo für mich dein Text noch hakt.

Ich kling vielleicht mäklerisch undüberkritisch, aber da würde ich an deiner Stelle drüber wegsehen. Für mich ist es ein guter Text mit Potential. Und halt so einigen Macken, die den Lesegenuss noch ein wenig erschweren.

Bis dieTage
Novak

 

Hallo Novak,
vielen Dank für deine Zeit und deinen kritischen Blick. Natürlich freue ich mich über das Lob, vor allem über diesen Satz:

weil du einfach das Zeug zum Plaudern, Erzählen in so einem lakonischen Tonfall hast. Ich mag das, mochte das schon immer, andere werden da vielleicht weniger gut reinfinden.
Ich meine auch, dass das viele so nicht mögen, aber ich konnte mir bei dem Thema, dass ich hier angegangen habe, samt der Perspektive überhaupt keine andere Erzählstimme vorstellen. Hat mir auch ziemlich Spaß gemacht, aber ich merke natürlich selbst, dass da noch sehr vieles unausgegoren ist und es alles feiner werden muss, damit es trotz z.B. der Zeitenwechsel, so ist
dass der Leser nichts merkt, sondern eingelullt wird.
Ich habe erst vor kurzem mit dem Schreiben angefangen und die richtige Stimme muss ich noch finden.
Danke dir sehr für deine Tipps. Ich habe den Text ausgedünnt, weiß nicht, ob er straffer geworden ist, ich hoffe doch.
Zu dem "Klischeeigen", wie du das so treffend klebrig nennst. Das ist ja ganz gefährlich damit.
Außerdem finde ich, man muss aufpassen, dass man nicht in das allzu Klischeeige tappt, wenn es auch andererseits so ist, dass die Inhalte ja leider Realität sind.
Es ist ja schon so, dass die Literatur aufpassen muss, die Realität nicht zu realistisch darzustellen, weil ihr dann der Vorwurf gemacht wird, eben Klischees zu bedienen.
Ich weiß nicht, in meiner Klasse gab es mal einen Jungen, der hat sich mit 16 Jahren erhängt, weil ihn seine Freundin verlassen hat. Das hat er wirklich getan und hat sich nicht davor gefürchtet, klischeeig und geschmacklos rüberzukommen. Aber macht man das in der Literatur, dann rollen die Leute mit den Augen und sagen: "Oh, das ist ja so 18. Jahrhundert." Und ich muss sagen, mir geht es da irgendwie doch genau so. Deswegen habe ich auch das Ende geändert, nachdem auch eine Freundin meinte, der Suizid sei zuviel.
Na ja, wahrscheinlich ist man immer wieder versucht, irgendwo in die Klischeefalle zu tappen und das kommt nicht gut. Wobei ich sagen muss, dass es einige Autoren schaffen, trotz dem, dass sie Klischees bemühen, bewegende und authentische Charaktere und unterhaltsame Plots in die Welt zu setzen. Vor ein paar Tagen erst habe ich mir wieder "True Romance" angeschaut. Das Drehbuch ist ja von Tarantino. Und auch wenn das von Klischees nur so trieft, ist das Ganze total überzeugend und das nach über 20 Jahren.
Dann habe ich gesehen, dass du die Känguruh-Chroniken liest, das Manifest wirst du wahrscheinlich auch schon gelesen oder gehört haben. Ich meine, der Kling spielt da doch ständig mit Kapitalismusklischees, gleich wie mit den antikapitalistischen Lebensanschauungen, er schlachtet sie humoristisch aus, obwohl das ja auch schon zuvor alles gesehen und gesagt wurde. Und dann denkt man sich ja auch, ach, diese und jene Kritik habe ich auch schon häufig gehört, die Bänker sind böse, die Politik ist wirtschaftshörig, die Nazis sind dumm und stumpf usw. aber trotzdem funktioniert es bei ihm so super. Und dann fragt man sich, wieso. Man weiß ja schon lange, der Bänker ist ein Schwein und die Linken mögen keine Bänker, und dann lacht man trotzdem, wenn er sich weigert einem Bänker die Hand zu geben, nur weil er ein Bänker ist. Aber dann kenne ich wieder Leute, die auch mit den Augen rollen würden und sagen: ach, noch eine Kapitalismuskritik, sowas habe ich jetzt aber schon häufiger gehört.
Und da gibt es eigentlich noch Tausend Beispiele.
Das sind jetzt so meine Gedanken, recht ungeordnet, aber man sieht ja, dass man auch mit Klischees gut arbeiten kann. Aber ja, das muss man natürlich beherrschen.
Zum Erzähler noch kurz. Den wollte ich unbedingt ganz im Hintergrund lassen und will da auch nichts daran ändern. Es geht eben gar nicht um ihn, der ist nur der Beobachter. Gerne hätte ich das ganze aus der Sicht von Ingo oder Janine geschrieben, aber das habe ich mir einfach noch nicht zugetraut. Da würde ich wahrscheinlich von einer Klischeefalle in die nächste tappen.
So, ich meine jetzt alles losgeworden zu sein, was dein Komm bei mir angestoßen hat.
Ich danke dir sehr für deine Zeit. Deine Anmerkungen haben mir wirklich geholfen.
LG
randundband

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo randundband,

was für eine wunderschöne Geschichte! Wirklich was Besonderes. Dieser einerseits gnadenlose, nichts beschönigende, aber andererseits auch so liebevolle Blick auf den tragischen Ingo.

Sie ließ ihn sogar ihren Kinderwagen durch die Siedlung schieben. Vor ihm wirkte das Ding wie ein Spielzeug mit dem kleine Mädchen junge Mütter spielen.
Wie ein Ungeheuer hockte er neben dem Kinderwagen und wenn die Kleine weinte, dann wippte er mit dem Ding wie verrückt, steckte seine schwieligen Finger darein und muhte irgendwas um das Kind zu beruhigen. Das Mädchen muss furchtbare Angst vor ihm gehabt haben, denn es weinte die ganze Zeit. Aber Janine schaute ihm bei seinen unbeholfenen Versuchen nur zu und lächelte.

Ich kann gar nicht so viel dazu sagen, aber diese tiefe, tiefe Menschlichkeit aller Beteiligten zueinander, in einem Umfeld wo man sie klischeehaft nicht erwarten würde und von Menschen, von denen man sie klischeehaft nicht erwarten würde, hat mich wirklich tief berührt. Selbst Ayhan ist ja nicht wirklich gemein, nur etwas unsensibel.
Also in der Szene jetzt meine ich nicht primär Ingos Verhalten mit "menschlich", sondern diesen Blick auf ihn. Wie das beschrieben ist.

Manchmal kam Ingo auch auf den Gummiplatz, wollte dann immer mit den anderen ein paar Körbe werfen. Die Kleinen, die hatten Angst vor ihm, die Halbstarken lachten über ihn, wofür sie von den Älteren jedes mal Backpfeifen kassierten.
„Den Ingo lässt du in Ruhe“, sagten die Älteren jedes Mal und packten die Jungs am Hinterkopf, „der Ingo ist in Ordnung.“ Und wenn die Halbstarken ein bisschen älter wurden, dann sagten sie den neuen Jungs das Gleiche. Und Ingo muhte und hampelte durch den Platz, nur den Korb traf er nie.
Der Typ war der einzige Held, den ich in meinem Leben getroffen habe.
Das ist auch so schön dargestellt, diese Generationsdynamik. Das ist vielleicht keine besonders geschniegelte Welt da auf dem Gummiplatz, aber trotzdem respektieren sie diesen Menschen. Das mit dem einzigen Helden fand ich auch sehr gut gesetzt. Erst dachte ich, es geht um den Erzähler, dass Ingo dazu dient zu zeigen, dass der in einer Welt wohnt, wo selbst die Helden tragisch sind und im Grunde ja versagt haben. Aber Ingo entpuppt sich zum Schluss ja noch einmal als Held.
Ich hatte ehrlich gesagt etwas Angst, dass da eine zwar nett geschriebene, aber doch ziemlich typische Block-Geschichte folgen würde, son bisschen Sex, bisschen Kiffen, etwas Kleinkriminaliät vielleicht. Stattdessen und zu meiner Begeisterung folgte eine absolut ungwöhnliche Liebesgeschichte aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel erzählt. An dem Punkt stimme ich Novak übrigens nicht zu, ich finde es gut, das der Erzähler nur Beobachter bleibt. Er vertritt da ja irgendwie auch den ganzen Block, der diese ungewöhnliche Liebesbeziehung von außen beobachtet, sich wundert, aber auch freut, das sowas möglich ist. Denn wenn sowas möglich ist, ist ja noch ganz anderes möglich.

„Komm doch bald wieder zum Basketball. Wir könnten dich gut gebrauchen. Der Ayhan hat schon Angst vor dir.“
Also sowas reicht mir schon vom Erzähler. Sowas Nettes. Ich mag einfach seinen warmen, aber trotzdem unsentimentalen Blick auf Ingo. Das reicht mir völlig, da muss ich nicht mehr von ihm wissen.

Ich entnehme Novaks Antwort, dass da früher ein anderes Ende stand. Ich bin froh, dass Du es geändert hast. Denn dieses Ende gefällt mir total gut - es macht für mich dieses warme, zutiefst menschliche Gefühl, das ich zu diesem Text habe, perfekt. Also das ist schon ne Kunst, mit so ner hoffnungsvollen Note zu enden, ohne dass das sentimental oder kitschig wirkt.

Also das hat mir wirklich sehr gut gefallen. Perfekt ist es noch nicht. Am Feinschliff könnte man noch was tun, müsste man auch. Ich hab jetzt aber grad keine Zeit, das alles rauszupicken.
Ich kann aber allgemein was sagen. Der Anfang, bevor es zu Ingo kommt ist tatsächlich etwas lang. Ist zwar nett geschrieben und so, aber es lässt einen irgendwie eine sehr viel gewöhnlichere Geschichte erwarten, mit all diesen "mein Block"-Klischees. Könnte mir auch vorstellen, dass der Text deshalb bisher nicht die Aufmerksamkeit bekommen hat, die er verdient.

Die Hausverwaltung hat mal vor langer Zeit zur Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens, die ganze Wohnanlage bunt anstreichen lassen und auf den Straßen Bäume gepflanzt. Da hätte man genauso eine alte Straßennutte jeck schminken und ihr ein Tic-Tac mit Minzaroma geben können.
Das hier ist auch so ein langweiliger, weil naheliegender Vergleich. Hat mir gar nicht gefallen und wird dem Resttext überhaupt nicht gerecht.

Der zweite Punkt sind die schon von Novak angesprochenen Zeitsprünge zwischen Perfekt, Plusquamperfekt und Präteritum, ohne erkennbares System. Und ohne Not. Klar wirkt Perfekt oft etwas "gesprochener", aber auf die Strecke wird es anstrengend und die unmotivierten Wechsel haben mich immer wieder stolpern lassen - da schiebt sich die Sprache vor die Geschichte und das ist schade. Also ich würde schlicht und einfach zum guten alten Erzählpräteritum raten.

lg und noch viel Spaß,

fiz

 

Hej randundband,

hat mir gefallen, Deine Geschichte. Ich mochte gerade Deine Erzähl-Stimme, wenn Du so willst, gern.

Der ganze erste Absatz könnte nach meinem Empfinden raus (bis auf den ersten Satz, der ist perfekt), bzw deutlich gekürzt werden. Da beschreibst Du ein Drumherum, das später immer noch genug Raum hat oder ausreichend beschrieben wird.

Richtig los geht die Geschichte für mich hier:

Die Leute erzählen, Ingo sei ein Held gewesen.

Das Ende kommt mir irgendwie unentschlossen vor. Drübergewischt. Nix Halbes und nix Ganzes.
Damit kann ich mich nicht richtig anfreunden.

Hat mich gefreut. Viel Spaß noch hier,

Ane

 

Hallo fiz,

was für eine wunderschöne Geschichte! Wirklich was Besonderes.
Du kannst dir wahrscheinlich vorstellen, was für eine Wirkung diese Sätze auf mich hatten. Ich habe sie mindestens 20 mal gelesen. Mindestens. Auch das mit der tiefen Menschlichkeit. Dass sie von feirefiz kommen, freut mich besonders. Es ist jetzt nicht die richtige Stelle, um darüber zu schreiben, was ich von deinen Geschichten halte, aber das hörst du noch von mir.
Ich könnte eigentlich deinen gesamten Kommentar hier zitieren, so sehr hat er mir das Herz gewärmt. Danke.
Ich hatte ehrlich gesagt etwas Angst, dass da eine zwar nett geschriebene, aber doch ziemlich typische Block-Geschichte folgen würde, son bisschen Sex, bisschen Kiffen, etwas Kleinkriminaliät vielleicht.
Nein, eine klassische Meinblockgeschichte wollte ich nicht schreiben, hatte bei dieser aber schon die Angst, zu arg in das Sozialromantische abzurutschen, von wegen "wir sitzen alle gemeinsam in der Scheiße, aber auch bei uns gibt es Liebe." Ein Glück, dass du es nicht so empfunden hast. Dafür war eben diese Härte des Erzählers in seinem Blick auf Ingo gedacht. Keine Schnulzen, der Verbrannte ist ein Krüppel, und so ist es halt. Aber er ist in Ordnung. Und er hat seine Brüder retten wollen. Der hat Respekt verdient. Und das Mädchen auch. Klar, nicht das begehrteste Mädchen, aber eines das lieb ist.
Stattdessen und zu meiner Begeisterung folgte eine absolut ungwöhnliche Liebesgeschichte aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel erzählt.
Ja, den Blickwinkel habe ich gewählt, weil ich nicht wusste, wie ich an die Geschichte rangehen soll. Aus der Sicht eines Mädchens zu schreiben, trau ich mir noch nicht zu. Diese Gefühlswelt ist mir zu fremd, da würde ich mich nur in Klischees verheddern.
Und wie soll man aus Ingos Sicht so etwas schreiben? Was so ein Mensch empfindet, ist mir noch fremder. Das wäre mir eigentlich die liebste Perspektive, aber dann wäre es auch eine andere Geschichte, die hundertprozentig in etwas Selbstbemitleidendes abrutschen würde. Und auf Jammern hatte ich nun wirklich keine Lust. So am Ende meine ich, dass dieser unsentimentale Kanake, der das "wir" des Blocks verkörpert die Funktion am besten übernimmt.
Denn dieses Ende gefällt mir total gut - es macht für mich dieses warme, zutiefst menschliche Gefühl, das ich zu diesem Text habe, perfekt. Also das ist schon ne Kunst, mit so ner hoffnungsvollen Note zu enden, ohne dass das sentimental oder kitschig wirkt.
Also hier auch, fiz, das ist wirklich sehr schön gewesen, das zu lesen. Am Ende bin ich natürlich glücklich von dem Suizid abgerückt zu sein.
Aber insgesamt ist die Geschichte ja schon ein bisschen verklärt. Auf so eine 90er Art. Sowas passiert ja im wahren Leben nicht.
Was deine Korrekturvorschläge anbelangt, sehe ich das ein. Werde die Tage die Axt in die Hände nehmen und den Anfang brutal zusammenkürzen und die Zeiten angleichen.
Insgesamt vielen Dank für deine Gedanken.

Hallo Ane,
auch dir vielen Dank für deinen Lob. Zum Glück lag ich mit der Erzählstimme offenbar nicht falsch.
Den Anfang werde ich ausdünnen, da gebe ich dir recht. Schneller zur Geschichte kommen, das ist auf KG.de definitiv die Ansage.
Bei dem Ende sehe ich das anders, aber das ist nun mal wirklich ein sehr persönliches Empfinden.
Insgesamt vielen Dank für deinen Besuch.

Liebe Grüße an euch beide.
randundband

 

Hallo randundband,

Schneller zur Geschichte kommen, das ist auf KG.de definitiv die Ansage.
ach ja? Das hab ich noch gar nicht so wahrgenommen. Ich denke, dass kommt eher von der klassischen Auffassung einer Kurzgeschichte. Unmittelbarer Einstieg und so weiter.
Ich für meinen Teil fordere das nur, wenn der Anfang eine reine Malerei ist und mehr als Zusatz fungiert, oft mit der Note "schautmalwietollichschreibenkann". So wie du das lieferst, ist das in meien Augen teil der notwendigen Atmosphäre. ALso du bist ja die ganze Zeit recht weit weg vom Geschehen mit deinem Erzähler und da stört dann auch nicht dieser "Flug über das Setting", sondern das nehm ich wirklich so als Kamerafahrt wahr, die eben den Rahmen der Geschichte absteckt.
Also ich find das zumindest stark, wie du da so das Licht raufknallst. Obwohl das alles so düster ist, schaffst du es dennoch eine gewisse Liebe für den Block durchzuschimmern. Das finde ich schon beachtlich und deckt sich mit dem gekonnten Ende, der ja auch ein Ausbruch aus dem scheinbar Hoffnungslosem symbolisiert. Wow. Gerade bei so deftigen Themen, da ist das mit dem Ende echt nicht leicht. Aber auch so, diese Dynamiken, die du da aufzeigst, ja wirklich nur draufzeigst, ohne da groß Wertung reinzubringen, das ist was, wofür ich höchste Achtung habe. Da hast du mich zum Mitfiebern gebracht, och wollte einfach, dass das ein gutes Ende nimmt. Und wenn ein Autor ein Wollen im Leser auslöst, das ist wirklich schon eine Menge. ;)

Sehr gern gelesen.

grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo weltenläufer,

Das hab ich noch gar nicht so wahrgenommen. Ich denke, dass kommt eher von der klassischen Auffassung einer Kurzgeschichte. Unmittelbarer Einstieg und so weiter.
Ja hey, du magst recht haben. Ich hatte halt bei den paar Texten die ich geschrieben habe so ein bisschen das Problem zu entscheiden, wo setze ich an. Ich finde, es ist schon so, dass gerade bei der Dynamik dieses Forums man besonders darum bemüht sein muss, den Leser sofort zu ködern, ansonsten klickt er einfach weg. Vor allem, wenn du ein nobody bist und man von deinen Texten gar nichts erwartet. Wieviel Zeit gibt man schon einem Text, wenn da noch Tausend andere auf einen warten. Fünf Sätze vielleicht. Und dann muss man direkt reinhauen. Du kannst nicht mit einer verzierten Kutsche die Handlung erstmal herannahen lassen. Aber das nur nebenbei. Den Anfang werde ich schon noch ausdünnen.
Also ich find das zumindest stark, wie du da so das Licht raufknallst. Obwohl das alles so düster ist, schaffst du es dennoch eine gewisse Liebe für den Block durchzuschimmern.
Das freut mich sehr! Das war mir so wichtig zu zeigen, ne, es ist halt nicht alles scheiße. Diese Menschen leben dort und sie haben auch ihre Freude am Leben. Das ist so ein Gefühl, das ich z.B. bei den alten Hood-Filmen beobachten konnte. Menace 2 Society oder Blood in Blood out. Das sind schon beschissene Verhältnisse in denen die Leute da leben, mit Gewalt und Perspektivlosigkeit, aber die Menschen können diesen Verhältnissen auch ihre Freude abgewinnen. Es gibt da schon ein Gefühl der Gemeinschaft und man grenzt sich auch bewusst von der bürgerlichen Gesellschaft ab. Das hat auch eine Romantik, wie ich finde. Ich persönlich kenne so einen Gummiplatz
auch ganz gut, deswegen habe ich es schon nachfühlen können, was ich geschrieben habe.
Wow. Gerade bei so deftigen Themen, da ist das mit dem Ende echt nicht leicht.
Vielen Dank. Ich bin wirklich sehr froh, das Ende geändert zu haben. Der Text bekommt dadurch natürlich eine ganz andere Note. Hoffnung ist eben immer gut.
Da hast du mich zum Mitfiebern gebracht, och wollte einfach, dass das ein gutes Ende nimmt. Und wenn ein Autor ein Wollen im Leser auslöst, das ist wirklich schon eine Menge.
Das hat mir sehr geschmeichelt. Dein Kommentar hat mich mit einem ganz breiten Grinsen hinterlassen. Sehr motivierend.
lg, randundband

 

Hallo randundband

Ich habe die Geschichte eben zum ersten Mal gelesen, und nachdem ich Novaks Kommentar gelesen habe, muss ich sagen, dass die Überarbeitung der Geschichte sehr gut getan hat. Ich mag das aktuelle Ende auch viel lieber, als wenn Ingo sich im Treppenhaus umgebracht hätte.

Ich mag den Erzähler, seine Stimme, dass er sich im Hintergrund hält. Besonders gefallen haben mir übrigens die Stellen, in denen du in die 2. Person Singular wechselst und den Leser direkt ansprichst. Ich finde das eine interessante Perspektive, die überraschend selten gebraucht wird - vermutlich, weil sie nicht überall gut ankommt und auch einiges an Können erfordert. Das ist in deinem Text aber auf jeden Fall vorhanden.

Also - die Stimme mochte ich. Überhaupt, die Details. Die sind wirklich gut beobachtet und stehen für mich auch im richtigen Verhältnis zum Rest des Textes. Gerade zu Beginn, wenn du einsteigst und von den Hochhäusern zum Gummiplatz, von dort zu den Bänken und den eingeritzten Sätzen zoomst - das ist gut, das gibt einen authentischen Blick auf die Umgebung. Ähnlich dann bei der Beschreibung der Bewohner - da sind auch ein paar schöne Details dabei. Ob es jetzt die Hausnummern und die Stockwerke braucht - vielleicht nicht unbedingt, aber sei's drum.

Die eigentliche Geschichte dann ist ziemlich rührend, und das sage ich selten über Geschichten. Aber ich mochte das. Da ist alles so heruntergekommen, die Janine kommt ja auch als gescheiterte Frau daher, Kind, kein Mann, kein Job - unter anderen Umständen wäre sie gar nicht da gelandet, sagt ja auch der Erzähler selbst. Und in dieser wüsten Gegend findet ausgerechnet der äusserlich wüsteste aller Bewohner sein Glück - tja, das hätte leicht auch schnulzig werden können, aber glücklicherweise kommt es so überhaupt nicht rüber. Im Gegenteil, ich finde das alles sehr nachvollziehbar, und jetzt entfaltet auch die Erzählperspektive ihre Stärke: das wird ja alles aus der Ferne beobachtet, man erfährt überhaupt nicht, was die Janine eigentlich am Ingo findet, was da überhaupt läuft zwischen denen. Aber, und das fand ich besonders schön, die meisten der Leute gönnen ihm sein Glück. Natürlich darf auch jemand wie der Ayhan nicht fehlen - aber, mal ehrlich, würden nicht viele so denken? Der Erzähler gibt es ja irgendwann auch zu, dass sie alle eigentlich so denken - was will ein Mädchen denn mit so einem Typ? Geht das mit rechten Dingen zu? Und dennoch gönnen sie ihm mehrheitlich sein Glück, auch wenn sie es nicht verstehen. Auch das finde ich gut beobachtet und authentisch geschrieben.

Ich finde das einen starken Text, hab den echt gern gelesen. Irgendwann hat mich die Stimme so in den Bann gezogen, dass ich dann auch aufgehört habe, "analytisch" zu lesen - deshalb gibts auch keine Textarbeit, aber das spricht für den Text, weil ich an keiner Stelle hängengeblieben bin. Auch das Ende mochte ich, wie gesagt. Man weiss natürlich, dass Ingo scheitern wird, man möchte ihm als Leser noch zurufen, es bleiben zu lassen: nur, wie sieht seine Alternative aus? Aufgeben? Daheim bleiben? Das ist noch schlimmer. Er ist wirklich eine tragische Figur, die du mit viel Sensibilität beschrieben hast.

Eine wirklich schöne Geschichte, randundband.

Grüsse,
Schwups

 

Hallo Schwups,
ich danke dir sehr für deinen Besuch und das Lob. Hat mich sehr gefreut, dass die Geschichte bei dir angekommen ist und zwar genau auf die Art, wie sie gemeint war. Du hast schon genau die Dinge bzw. das Gefühl erkannt, von denen meiner Meinung nach die Geschichte leben sollte.

muss ich sagen, dass die Überarbeitung der Geschichte sehr gut getan hat.
Ja, da habe ich ein paar Anläufe gebraucht, aber jetzt bin ich auch recht zufrieden. Bisschen Abstand tut auf jeden Fall gut, habe ich jetzt gelernt. Habe nach und nach paar Kleinigkeiten, aber auch größere Dinge verändert und wenn du dann sagst
Irgendwann hat mich die Stimme so in den Bann gezogen, dass ich dann auch aufgehört habe, "analytisch" zu lesen - deshalb gibts auch keine Textarbeit, aber das spricht für den Text, weil ich an keiner Stelle hängengeblieben bin.
,
dann ist das toll, da ich dieses Gefühl natürlich auch kenne und das sind dann die Texte, die ich richtig mag.
jetzt entfaltet auch die Erzählperspektive ihre Stärke: das wird ja alles aus der Ferne beobachtet, man erfährt überhaupt nicht, was die Janine eigentlich am Ingo findet, was da überhaupt läuft zwischen denen.
Ja, ich habe oben schon geschrieben, dass die Erzählperspektive ein bisschen aus der Not entstanden ist, weil ich mich weder gut in Janine, noch in den Ingo reinversetzen konnte. Also ist es auch ein Stück eine Block-Geschichte, in deren Zentrum die Episode mit dieser komischen, schwer nachvollziehbaren Liebe integriert ist.
Ich hatte natürlich schon Bedenken, weil ich befürchtet habe, dass der Geschichte dann das Innenleben von den beiden abgeht und sie dadurch nicht richtig greifbar wird. Aber dann habe ich mich dafür entschieden, den Fokus mehr auf die Rezeption dieser Beziehung zu richten und dadurch auch so ein bisschen die Stimmung in dem Viertel einzufangen. Wie diese Menschen miteinander leben, wie der Ton ist, was gedacht wird.
tja, das hätte leicht auch schnulzig werden können, aber glücklicherweise kommt es so überhaupt nicht rüber.
Das ist wohl auch der Verdienst der Perspektive. Ich glaube, von außen ist man halt schonungsloser und abgebrühter. Es geht einen nicht zu sehr an, man sieht halt Dinge, bewertet sie nach seinen Maßstäben, ist aber nicht zu nah dran und läuft dadurch keine Gefahr in die Gefühlsduseleien abzurutschen.
Ich glaube, dass ich in der Zukunft wieder mal so etwas mit dieser Perspektive versuchen will, hoffentlich habe ich bald wieder Luft für.
Ja Schwups, ich danke dir sehr. Deine Worte haben mir sehr gut getan.
lg, randundband

 

Hallo randundband,

ist ein versöhnlicher Text. Mir ist der Einstieg etwas zu lang, der holpert auch, den würde ich mir etwas exakter wünschen. Du versuchst da Atmo zu erzeugen, die kommt aber von alleine, wenn man die richtigen Details wählt; der Text hier braucht das eigentlich nicht, den kann man gut entschlacken, weil er eben bereits Substanz hat.

Das ist natürlich auch ein wenig manipulativ: Der Hässliche findet eine Liebe, und dafür brennt er dann, wortwörtlich. Und dann auch noch in dieser Siedlung, wo alle abgefuckt sind. Könnte was von Irvine Welsh sein, der hätte aber dann noch explizit den Sex beschrieben, möglichst ekelhaft!:D Für mich bleibt der Erzähler seltsam unbeteiligt: Er muss keine Reflektorfigur sein, aber er könnte mehr von sich da reinpacken. Projiziert man nicht auch immer ein wenig eigene Angst in eine solche Figur, nach dem Motto: Gut, dass ich nicht so bin? Oder: Wie scheiße es dem geht, wie gut geht es mir? Welchen Gewinn ich doch habe, weil ich so bin wie ich bin. Also, nur als Idee.

Ich lese gerne solche Sachen. Literatur muss wehtun, alles andere interessiert mich nur die Hälfte, sag ich ganz ehrlich. Die Aussicht auf ein Happy End oder auf ein unbestimmten Ausgang, ist hier natürlich grade noch okay! Grade noch!:D

Ist ein frischer Leseeindruck, hab die anderen Kommentare nicht gelesen. Ich hab den Text gerne gelesen, etwas szenischer, entschlacken, mehr auf den Punkt, abr doch, hat mir gefallen.

Gruss, Jimmy

 

Hey randundband,

ich mag die Geschichte auch! Die ist so derb in der Sprache und so liebevoll dahinter, das ist wirklich einfach nur - ach. Ich mein, so ist es doch. In den Häusern mit den alten, dreckigen Fassaden leben doch Menschen und die richten es sich da auch ein, die leben ein Leben und sind selbst so gar nicht Betonklotz. Das ist wirklich schön, dieser Gegensatz, dieses Klischee von Menschen, was sich in der Sprache ausdrückt und dieses miteinander, diese Gemeinschaft, mit der sie hier gut über die Runden kommen. Das ist alles viel mehr miteinander als in Häusersiedlungen mit Rasenflächen und Kiesauffahrten.

Es gibt viel, was ich an der Geschichte mochte. Ingo - den Helden und wie das durch die Generationen getragen wird, ihn in Ruhe zu lassen. Der kleine Junge, der eine Frau ist, mit Kind dazu, der alte Spanner, den man zwar meidet (verständlich), der aber eben auch dazugehört. Die Beschreibungen - sehr viele, halt das mit den Bänken, weil Holz was warmes und lebendiges ist, während Metall kalt und tot ist. Die Sonne, die eben auch da mal scheint, die Mädels die wissen und die Jungen die quatschen. So viel schön!

Ich bin auch ein Freund deines Erzählers. Er erzählt eben die Geschichte, die nicht seine ist, in der er eine Randfigur ist. Er erzählt Ingos Geschichte, weil Ingo es selbst nicht kann (der kann ja nur muh), und ich denke nicht, dass er darin etwas verloren hat. Ich finde es konsequent, dass er sich da nicht zwischenhängt.

Bleiben noch Anmerkungen was so Sätze betrifft. Vor allem deine Zeitsprünge. Wenn ich die Woche mal Zeit hab, schreib ich Dir ne PM mit Vorschlägen. Sind nur Vorschläge. Also, wenn Du überhaupt willst. Ist mir zu fusselig, das hier auszusortieren.

Ist ein wirklicher Wohlfühltext. Habe ich gern gelesen.

Beste Grüße, Fliege

 

Hallo randundband,

hiermit gebe ich mich als Mitglied der ist-eine-schöne-Geschichte-Kritiker zu erkennen. Habe sie wirklich gern gelesen. Sie erzeugt eine Wohlfühlatmosphäre bei mir als Leser und versetzt mich dabei auch in die Gedankenwelt des Erzählers.
Über die Rolle des Erzählers habe ich während des Lesens überhaupt nicht nachgedacht, (was ich als gutes Zeichen sehe), offensichtlich haben die anderen das nicht so empfunden. Mein Fokus war klar auf Ingo und Janine gerichtet.

Dass du das Ende geändert hast, wie ich den anderen Kommentaren entnehme, finde ich seht gut. Ein Selbstmordversuch zum Ausklang hätte mich von Wolke sieben, auf der ich mich gefühlsmäßig am Ende befinde, in Sekundenschnelle abstürzen lassen.

Wenn ich einen Kritikpunkt nennen sollte, würde mir höchsten auffallen, dass die Stimmung, Harmonie und gegenseitige Rücksichtnahme im Block ein bisschen zu positiv (unrealistisch) dargestellt sind, anderseits würde eine andere Schilderung nicht so recht in die Stimmung des Lesers passen. Daher ist es trotzdem okay.

Beste Grüße aus der Wolke
querkopp

 

Hallo Jimmy,

Literatur muss wehtun, alles andere interessiert mich nur die Hälfte
Dann hoffe ich doch, dass der Text ordentlich geschmerzt hat, trotz seiner Versöhnlichkeit. Kam es zufällig zu Tränen der Rührung? Ne, das kann ich mir irgendwie nicht vorstellen.
Deine Kritik ist mir sehr willkommen.
Mir ist der Einstieg etwas zu lang, der holpert auch, den würde ich mir etwas exakter wünschen. Du versuchst da Atmo zu erzeugen, die kommt aber von alleine,
Ich habe den Einstieg schon zwei Mal zusammengestrichen, ich wüsste ehrlich gesagt nicht, wo ich noch entschlacken könnte und was du genau mit "exakt" meinst. Ich habe nämlich Angst, dass die Atmosphäre nicht von alleine kommt. Dann müsste ich die Details doch im Text einstreuen und ich habe keine Ahnung, wo ich sie unterbringen müsste. Ich fürchte, das wäre ungeschickt geworden. Schwups und Weltenläufer haben da was zu geschrieben, das sei wie eine Kamerafahrt gewesen über das Setting, wo dann immer näher herangezoomt wird. So ungefähr ist auch meine Vorstellung gewesen.
Natürlich freut es mich aber, dass du da Substanz erkennen kannst.
Projiziert man nicht auch immer ein wenig eigene Angst in eine solche Figur, nach dem Motto: Gut, dass ich nicht so bin? Oder: Wie scheiße es dem geht, wie gut geht es mir? Welchen Gewinn ich doch habe, weil ich so bin wie ich bin. Also, nur als Idee.
Das ist auf jeden Fall ein frischer Einwand. Ich habe darüber nachgedacht, als ich den Text geschrieben habe, weiß nicht, solche Gedanken kommen einem natürlich immer, wenn man jemanden mit einem Handicap sieht, aber mir wäre das dann doch zuviel Erzähler geworden und ich habe es bei diesen Sätzen belassen, die da meiner Meinung nach diese Gegenüberstellung implizieren.
Nur Ingo war böse. Auf jeden von uns. Weil wir keine Krüppel waren wahrscheinlich. Und er schon.
Das ist natürlich auch ein wenig manipulativ
Ja, das birgt das Thema halt in sich. Hat man doch immer einen solchen Effekt, wenn man mit Kontrasten arbeitet. Zum Glück ist es wenigstens nicht schnulzig geworden.
Und dann auch noch in dieser Siedlung, wo alle abgefuckt sind.
Soll übrigens Porz-Demo sein. Das kennst du doch als Kölner bestimmt.
Könnte was von Irvine Welsh
Hab mir soeben Filth bestellt. Habe gar nicht gewusst, dass Trainspotting von ihm ist. War als Teenager lange mein Lieblingsfilm.
Vielen Dank für deinen Besuch.

Hallo Fliege,

So viel schön!
Also das hat mir sehr geschmeichelt. Ich grinse immer noch. Schön gesagt.
Das ist wirklich schön, dieser Gegensatz, dieses Klischee von Menschen, was sich in der Sprache ausdrückt und dieses miteinander, diese Gemeinschaft, mit der sie hier gut über die Runden kommen.
Ja, ich habe das oben schon irgendwo geschrieben, die Geschichte ist ein bisschen verklärt. Aber sie hat ihre Anleihen in der Realität. Ich bin selbst in so einer Siedlung aufgewachsen und auf dem Gummiplatz auch viele gute Sachen erlebt. Aber eine solche Liebe hat es da natürlich nicht gegeben. So etwas bleibt, fürchte ich, Fiktion.
Das ist alles viel mehr miteinander als in Häusersiedlungen mit Rasenflächen und Kiesauffahrten.
Das stimmt schon. Vieles davon ist halt dieses Ausländergefühl, das man teilt. Und du hast auch nachmittags sonst nicht viel zu tun, als draußen mit den anderen abzuhängen. Die Kulturen die sich da treffen sind auch gemeinschaftsorientierter und dann sind da so viele Leute auf einem Fleck konzentriert. Die meisten haben auch ähnliche Probleme. Es herrscht natürlich eine andere Dynamik. Vielleicht kann man der Geschichte vorwerfen, dass da die Probleme unter den Teppich gekehrt werden, aber darauf will ich gleich bei meiner Antwort an querkopp eingehen, der hat das ja bemängelt.
Ja, sofern du die Beschreibungen lobst, bin ich natürlich total begeistert. Vielen Dank, freut mich sehr, dass sie bei dir gewirkt haben. Diese Metallbänke sind auch echt blöd. So herzlos bürokratisch. Da wird dem öffentlichen Raum ein Teil seiner Gemütlichkeit geraubt. Das sieht man ja jetzt überall. Wie diese neuen EU-Glühbirnen.
Wenn ich die Woche mal Zeit hab, schreib ich Dir ne PM mit Vorschlägen. Sind nur Vorschläge. Also, wenn Du überhaupt willst.
Ernsthaft? Das ist sehr lieb Fliege. Ich fände das natürlich toll. Mir ist es zwar ein bisschen peinlich, aber das würde dem Text bestimmt gut tun. Ich sehe da leider nichts mehr, was ich ausbessern müsste.
Vielen lieben Dank nochmal für deinen Kommentar und das herzliche Angebot.

Hallo querkopp,
danke für deinen Besuch und das Lob. Ich freue mich sehr.

Sie erzeugt eine Wohlfühlatmosphäre bei mir als Leser und versetzt mich dabei auch in die Gedankenwelt des Erzählers.
Das ist ein schönes Kompliment. Offenbar wirkt die Geschichte auf einige Menschen so. Ein bisschen wundert mich das schon, denn Ingo ist ja ohne Zweifel eine tragische Gestalt, aber man wünscht ihm ja was gutes und davon bekommt er auch ein Stück, wenn auch nur für kurze Dauer. Am Ende ist er ja wieder alleine, denn was in Hamburg passiert ... tja, keine Ahnung. Was kann da schon groß passieren? Aber gut. Eine andere Geschichte. Die wäre wohl nichts zum Wohlfühlen. Zum Glück lebt der arme noch. Beinah hätte er sich umgebracht und das wäre nicht feel good.
Wenn ich einen Kritikpunkt nennen sollte, würde mir höchsten auffallen, dass die Stimmung, Harmonie und gegenseitige Rücksichtnahme im Block ein bisschen zu positiv (unrealistisch) dargestellt sind
Ja, da stimme ich dir ein stückweit zu. In so einem Block gibt es natürlich einige Konflikte und es sind auch nicht alle nett zueinander. Aber die Gummiplatzkids halten da schon gewissermaßen zusammen und mögen sich irgendwo. Die zocken ja den ganzen Tag Fussball und Basketball zusammen, die meisten gehen auf die gleiche Schule und die Eltern kennen sich auch. Also da gibt es schon Harmonie, nur ist vieles davon hinter einer rüppigen Fassade versteckt. Freundlichkeit gilt da halt schnell als Schwäche, aber man steht auch füreinander ein. Ehre ist bei den Leuten da ganz groß geschrieben und wenn jemand mal irgendwie Ärger hat, dann hilft man dem. Vor allem in der Jugend halten die Ausländer zusammen, weil sie sich als Minderheit begreifen. Aber klar, da gibt es vor allem zwischen den Nationen häufig Ärger. Davon habe ich jetzt einiges unterschlagen. Ging halt auch primär um was anderes.
Danke noch mal für deinen Besuch.

lg, randundband

 

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