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Auf dem Gummiplatz
Alle Häuser bei uns in der Siedlung sind abgefuckt, das kann man gar nicht anders sagen. Als hätte jemand die Stufen eines Kellerlochs aus Versehen über der Erde gebaut. Missgelaunt ragen diese aneinandergereihten Klötze vom ersten bis zum siebzehnten Stock in den Himmel und die Sonne fragt sich bestimmt, „Muss ich wirklich darauf scheinen?“
In der Mitte unserer Siedlung gibt es einen Gummiplatz. Das Gummi darauf ist lachsfarben und abgewetzt, es bröselt nur so in den Händen, wenn man daran zupft. Hier und da ist es aufgerissen, so dass man die Teerflecken darunter sehen kann. An den Enden zwei Tore, zwei Basketballkörbe auch. Und überall drumherum Bänke.
Bis vor kurzem waren das noch die guten aus Holz, solche, in die du noch was reinritzen konntest, du seist der Boss zum Beispiel, wessen Mütter du alles gefickt hast oder auch Liebeszeugs.
Nach und nach hat die Hausverwaltung diese Bänke durch Sitzgelegenheiten aus Metall ersetzt. Die halten länger und da kann niemand was reinschreiben. „Voll der Scheiß“, sagen alle. Die Dinger haben noch nicht einmal eine Rückenlehne.
Wenn du jung bist, findet dein Leben auf dem Gummiplatz statt. Wenn du Dope kaufen willst, gehst du auf den Gummiplatz, wenn du Basketball zocken willst, machst du es auch. Wenn du zum Essen kommen sollst, sucht dich deine Mutter auf dem Gummiplatz. Und die Mädchen triffst du auch hier. Sie sitzen auf den Bänken und wissen Bescheid. Ob der Hakan nun die Sandra gefickt hat oder nicht, das können dir die Mädchen vom Gummiplatz sagen. Oder du fragst Hakan, aber er könnte lügen.
Wenn du älter wirst, dann hockst du auch auf dem Gummiplatz, alle anderen sind ja auch noch da. Nur den ganzen Scheiß um dich herum siehst du ein bisschen besser.
In unseren Häusern leben ganz seltsame Typen. Da ist der Sülo aus meinem Haus Nr. 2, 12ter Stock, ein durchgeknallter Afghane mit Diabetes, der sich mal alleine gegen acht Russkis geprügelt und nicht verloren hat. Der sagt, wenn du willst, dass die anderen dich respektieren, musst du einfach der verrückteste sein.
Und in der Nr. 6, 8ter Stock, dort wo es im Treppenhaus immer nach Pisse und Türkenessen riecht, lebt Herr Colchesky mit seiner kranken Frau. Sie liegt den ganzen Tag im Bett und da ihn das langweilt, hat er sich ein Fernrohr angeschafft. Seitdem stalkt er alle Mädels in der Nachbarschaft. Sagt, er könne mal vorbeikommen, wenn sie wollen, er wisse ja, wo sie wohnen. Niemand will mit Herr Colchesky zusammen im Aufzug fahren.
Und dann war da einer in der Nr. 14, 5ter Stock unterm Dach; Ingo hieß er, dem war sein Gesicht verbrannt. So ein bulliger Kerl war das, untersetzt, sah aus wie der alte Kühlschrank im Schaufenster von Emre´s Laden für Gebrauchtelektronik in der Nr. 26, Erdgeschoss. Da kostet das braune Ding heute noch 68,43, weil Emre glaubt, er hätte einen tollen psychologischen Kniff für die Preisgestaltung gefunden. Dort steht der Kühlschrank schon seit vielen Jahren. Vorher hat er mal 77,32 und 72,19 gekostet.
Die Leute erzählten, Ingo sei ein Held. Er hätte zwei kleine Brüder von sich aus einem brennenden Haus herausgeholt. Hätte zwar nichts genutzt, denn die beiden waren schon erstickt, dafür wurde er selbst arg verbrannt und ein Held geworden.
Die Leute erzählten, dass er seitdem ein bisschen komisch war. Weiß nicht, ob das stimmt, aber wenn du ihn was fragtest, dann muhte er nur und schlug sich gegen den Kopf. Richtig sprechen konnte er nicht mehr.
Manchmal kam Ingo auch auf den Gummiplatz, wollte dann immer mit den anderen ein paar Körbe werfen. Die Kleinen hatten Angst vor ihm, die Halbstarken lachten über ihn, wofür sie von den Älteren jedes mal Backpfeifen kassierten.
„Den Ingo lässt du in Ruhe“, sagten die Älteren jedes Mal und packten die Jungs am Hinterkopf, „der Ingo ist in Ordnung.“ Und wenn die Halbstarken ein bisschen älter wurden, dann sagten sie den neuen Jungs das Gleiche. Und Ingo muhte und hampelte durch den Platz, nur den Korb traff er nie.
Der Typ war der einzige Held, den ich in meinem Leben getroffen habe.
Einmal, da hat Ingo sich verliebt. Irgendwann im frühen Herbst war das, als es mit den warmen Abenden langsam zu Ende ging, aber die Bäume in unseren Straßen immer noch ganz grün waren.
In unsere Siedlung zog damals eine junge Frau, ein Mädchen eigentlich noch, aber schon mit einer kleinen Tochter, dafür ohne Mann. Irgendwo war sie rausgeflogen, das wusste man nicht so genau und einen Job hatte sie auch nicht gehabt. Mit einem Job wäre sie auch kaum in diesen Häusern gelandet. Das Jugendamt hatte sie hierhin vermittelt.
Sie war ganz schmal gewesen, keine Titten, kein Arsch, gar nichts. Dazu trug sie immer weite Pullis mit Rollkragen und ohne, die ihr fast bis zu den Knien reichten. Sah scheiße aus. Ihre Haare hatte sie ganz dunkel gefärbt und geschminkt hat sie sich überhaupt nicht. Wenn du ihr im Hausflur begegnet bist, flüsterte sie dir immer ein kleines Hallo zu und lachte leise auf, als würde sie sich für ihre Freundlichkeit entschuldigen müssen. Und immer huschte sie überall hin, nie ging sie, wie normale Menschen das taten. Immer huschte sie wie ein Mäuschen die Wände entlang. Janine hieß dieses Mädchen.
Die Mädchen vom Gummiplatz mochten Janine. Von alleine wäre sie da nie hingegangen, aber jemand muss sie wohl im Hausflur erwischt und zu dem Platz gezerrt haben. Jedes unserer Mädels fühlte sich neben der Neuen wie zum Schutz abgestellt. Selbst die fünfzehnjährigen Türkenmädchen mit ihren dicken Hintern und Armen, die so haarig waren, wie die von meinem Alten, selbst die sahen neben Janine wie Türsteher aus.
Mit Janine konnten die Gummiplatzmädchen über alles sprechen. Sie sprachen und sprachen und die Neue hörte ihnen aufmerksam zu, die Augen auf den Boden geheftet. Und immer lächelte sie dabei. Janine selbst sagte kaum ein Wort, weswegen die anderen Mädchen bei ihr ungestört ihren ganzen Quatsch auskippen konnten. Vor der kleinen musste sich niemand schämen, so unbedeutend wirkte sie.
Als Ingo sie eines Tages auf einer Bank am Rand sitzen sah, in ihren klobigen Schuhen, den Griff des Kinderwagens in der Hand, hat er von einer Sekunde auf die andere angefangen, noch beschissener als sonst zu spielen. Konnte mit dem Ball gar nichts anfangen. Blickte sich immer um nach Janine. Verstohlen zuerst, aber als er merkte, dass das Mädchen ihre Augen gar nicht vom Boden abwandte, schaute er immer direkter hin. Ganz still ist er dabei gewesen, du konntest ihm ansehen, dass er sich bemühte, nicht zu muhen. Und wenn ihm dann doch eine seiner Unverständlichkeiten herausrutsche, packte er sich sofort an den Mund, als würde er darin eine Fliege gefangen halten.
Es war schwer, etwas in Ingos Gesicht zu erkennen. Seine Züge hatte das Feuer zerknittert, die Narben am Hals zogen die gesamte Haut nach unten. Du hast das Gefühl gehabt, dass es an manchen Stellen viel zu viel davon gab und an anderen Stellen doch wieder viel zu wenig. Dadurch wirkte alles in Ingos Mimik verschoben. Und wie solltest du dir einen Reim auf den Menschen machen, wenn sich sein Mund dort befand, wo normalerweise ein Kinn sein soll und dich anstelle einer Nase eine verschrumpelte Kartoffel anschaute. Da Ingos Wangen auch nach unten verrutscht waren, konntest du immer das Blut unter seinen Lidern sehen und die Augen selbst sind klein und rund gewesen, wie bei einem Schwein. An die Farbe kann ich mich gar nicht erinnern. Nein, Ingo sah wirklich grässlich aus. Er hatte ein Gesicht, das nicht einmal eine Mutter hätte lieben können.
„Na, mein Freund, findest die Kleine scharf, was?“, Ayhan sprach Ingo als erster auf Janine an. Nach dem Spiel saßen wir noch ein Stündchen unter dem Korb und kifften uns einen.
Ingo sagte nichts, er wusste ja, dass niemand ihn verstand. Nur ein leises Röcheln verließ seinen Hals und die kleinen Schweineaugen blickten verschämt.
„Ja, wat machste jetzt nur?“, fuhr Ayhan fort. Sein Musterbärtchen verzog sich zu einem dünnen Lächeln. „Meinste, kannst sie ficken?“ Das war natürlich Unsinn. Niemand dachte, dass Ingo Janine jemals hätte ficken können, einen Verbrannten wie ihn, würde sogar eine Nutte abweisen.
Ingo schwieg. Wir haben das zunächst alle für Verlegenheit gehalten, aber dann sahen wir, dass er Ayhan fixierte und immer schwerer atmete. Nur Ayhan bemerkte nichts.
Noch ein paar Sprüche machte der Türke, von wegen, Janine hätte einen Arsch, wie sein kleiner Bruder und genau solche Titten. Wie sie überhaupt das Kind herausgepresst habe, aus einem solchen Kleinerjungekörper und wer sie wohl geschwängert hätte. Es ging ihm gar nicht um Ingo, er hatte ihn schon fast vergessen. Der wollte nur über das Mädel herziehen, wie er das über jede Frau in der Siedlung tat.
Und als er dann ausholte und meinte, dass ein richtig großer Schwanz, wie seiner halt, die Kleine aufspießen würde, wie ein Grillhühnchen, da saß der Ingo schon auf ihm drauf und prügelte mit seinen riesigen, verbrannten Pranken auf den feinen Türkenkopf ein. Gemuht hat er dabei wie eine geschächtete Kuh und von seinem Kinn ist Sabber runtergetropft.
Als wir die beiden auseinander gezogen hatten, war Ingo niemand böse. Nur Ayhan ein wenig. Aber im Grunde war man einem Krüppel nie wirklich böse, so einer drehte schon mal durch. Und jetzt hat er sich auch noch verliebt.
Nur Ingo war böse. Auf jeden von uns. Weil wir keine Krüppel waren wahrscheinlich. Und er schon.
Zwei Tage später saß ich mit ein paar Jungs auf einer Bank neben dem Gummiplatz, als Janine mit ihrem Kinderwagen erschien. Ingo lief neben ihr her und fuchtelte wild mit den Armen. Keine Ahnung was er ihr erzählte und wie er das tat, aber Janine sah ihn an und lächelte. Sie sah nicht zu Boden, sondern mitten in Ingos Fratze. Und trotzdem lächelte sie. Du konntest endlich ihre Augen sehen. Sie waren grün und sehr groß. Zu groß für ihren Kopf eigentlich. Wie bei einem Affenbaby. Auch so nass.
Die zwei gaben ein seltsames Paar ab. Ingo war drei Mal so breit wie Janine und auch ein gutes Stück größer. In seinen Armen hätte er sie erdrücken können, ganz ohne Mühe. Wie eine Salzstange würde dieses Mädchen zerbröseln und nur Staub hinterlassen.
Aber Ingo rührte sie gar nicht an. Seine Hände behielt er schön bei sich, wenn sie denn nicht in der Luft flogen, um Janine etwas zu erzählen. Jeden Tag lief er einfach neben ihr her, saß mit ihr auf dem Gummiplatz, auf einer von den Holzbänken und irgendwann haben wir gemerkt, dass er nicht mehr mit den Armen fuchtelte. Sie sprach und er hörte zu. Einer von ihnen musste ja manchmal sprechen und da Ingo es nicht konnte, tat Janine das.
Klar hat Ingo schon hin und wieder noch gemuht. Und wenn er aufgeregt war, dann knallte er sich zuweilen auch mal mit der flachen Hand gegen den Kopf. Aber ansonsten sprach Janine. Neben Ingo wirkte sie auch gar nicht mehr wie die Kleine. Wie eine Große dann nun auch nicht, aber eben ganz normal. Wie eine Frau halt.
Gewundert haben sich natürlich alle. Dass Ingo eine abgekriegt hat. Wer hätte das schon gedacht. Aber gefreut haben sich die Leute schon. Ingo war ja ein guter Junge, warum sollte einem wie ihm nicht auch mal was gutes im Leben passieren. Immerhin war er ein Held.
Hin und wieder kam Ingo noch zum Basketballspielen. Aber viel seltener als früher. Die meiste Zeit verbrachte er mit Janine. Sie ließ ihn sogar ihren Kinderwagen durch die Siedlung schieben. Vor ihm wirkte das Ding wie ein Spielzeug mit dem kleine Mädchen junge Mütter spielen.
Wie ein Ungeheuer hockte er neben dem Kinderwagen und wenn die Kleine weinte, dann wippte er mit dem Ding wie verrückt, steckte seine schwieligen Finger darein und muhte irgendwas, um das Kind zu beruhigen. Das Mädchen muss furchtbare Angst vor ihm gehabt haben, denn es weinte die ganze Zeit. Aber Janine schaute ihm bei seinen hölzernen Versuchen nur zu und lächelte.
Einmal saßen wir auf der Bank, an der Ingo mit Janine immer das Kind geschaukelt hat. Das war noch eine von den guten, aus Holz, in ihr habe ich mich auch schon verewigt. Auf der Rückenlehne entdeckte ich eine Inschrift: „Ingo + Janine.“ Höckrig waren die Ränder, Ingo muss das mit einem Schlüssel hinein geritzt haben. Und da fragte ich mich schon, „Ingo + Janine“ = was?
Als Ingo wieder einmal zum Zocken kam, fragte ich ihn nach dem Spiel: „Und, Bruder, hast du schon was mit ihr gehabt?“ Versuchte, die Frage vorsichtig zu stellen, dass er sie nicht in den falschen Hals bekam, habe ihm dabei auch auf den nassen Rücken geklopft. Der Typ hat geschwitzt wie ein Esel.
Das hat uns alle interessiert. Wir konnten uns gar nicht vorstellen, wie die zwei miteinander Sex hatten. Dieses kleine graue Pusteblumending, das beim ersten Windstoß umzuknicken droht und Ingo - das Hochhaus-Biest. Dieser braune, unverkäufliche Kühlschrank, unter dessen Wucht, Ayhan mit seinem feinen Türkenkopf, wie ein Grashüpfer gezappelt hat.
Als ich ihn das fragte, wurde Ingo rot. Es war so seltsam zu sehen, wie die Scham seine verformte Visage hinaufkletterte und seine nach unten gezogenen Wangen zum Glühen brachte. Solche zärtlichen Gefühle passten überhaupt nicht zu diesem grauen Klotz aus der Nr. 14, 5ter Stock unterm Dach. Aber Janine passte auch nicht zu ihm.
Er gab mir keine Antwort und ich habe auch nicht mehr gebohrt. Ansonsten würde er sich vielleicht wieder einen Film fahren. Er war ja schon ein komischer Typ.
Als der Winter anfing, wurde der Gummiplatz immer leerer. Niemand wollte bei der Kälte Basketball spielen und auf den Bänken saßen nur noch die schlimmen Alkis. Denen war das Wetter scheißegal.
Bei uns in der Siedlung hat damals ein Kulturzentrum aufgemacht, „für internationale Verständigung und Integration.“ Nur schienen die Deutschen von dieser internationalen Verständigung und Integration ausgenommen zu sein, denn in dem Laden lungerten nur Ausländer herum. Wir spielten den ganzen Tag Backgammon und Schach und tranken türkischen Tee, von dem du nach ein paar Jahren Zähne bekommst, die so schwarz sind, wie der Tee selbst.
Den Winter über habe ich weder Ingo noch Janine gesehen und ich habe auch nicht groß an sie gedacht. Diese Geschichte gehörte auf den Gummiplatz und hatte im Kulturzentrum nichts verloren.
Manchmal, wenn das Thema doch mal aufkam, haben wir uns schon gefragt, was die beiden gerade machen. Es war Ayhan, der immer sagte: „Wie die zwei nur miteinander ficken können? Ist doch echt ekelhaft. Die will´s bestimmt nur von hinten haben, wie eine Hündin, dann muss sie seine Fratze nicht sehen.“
Wir sahen das im Grunde alle ähnlich, schwiegen aber meist. Ingo war ein guter Junge und außerdem ein Held. Da musste man nicht so hart über ihn herziehen. War doch gut, dass er die Kleine hatte und wie sie vögelten, ging ja eigentlich niemanden etwas an. Trotzdem haben wir manchmal über Ayhans Vorstellungen gelacht, aber vor allem aus Langeweile.
Eines Tages kam Ayhan wieder auf Ingo und Janine zu sprechen.
„Habt ihr gehört, der kleine Junge ist nicht mehr mit dem Krüppel zusammen?“
Das hat zuerst kein Mensch verstanden.
„Wat für ein kleiner Junge Alter, wat erzählste da?“
Ayhan grinste uns erstmal an. Er hat den Tag auf dem Gummiplatz, als Ingo auf ihn einprügelte, wohl niemals vergessen können. „Die Janine meine ich“, hämisch kam das, „die Janine und den Verbrannten. Die sind nicht mehr zusammen.“
„Wat gibt’s denn da eigentlich zu lachen man, wat ist daran so witzig?“, habe ich ihn gefragt. „Und woher willste das überhaupt wissen. Wat haste mit den beiden zu tun?“
„Komm, reg dich ab.“ Ayhan war angepisst, weil ihn alle anderen mit gehobenen Augenbrauen anschauten. „Ist doch scheißegal Alter. Meine Schwester hat es mir erzählt. Sie geht manchmal bei Janine vorbei.“ Ayhans kleine Schwester war eines von den Türkenmädchen mit großen Hintern und haarigen Armen, die am Anfang auf Janine aufgepasst haben.
Eine halbe Minute saßen wir alle schweigend da. Es war mir peinlich Ayhan anzusehen.
„Scheiße man“, sagte ich in die Runde, „das ist echt schade für den Ingo. Wat ist denn da passiert?“
Ayhan wusste Bescheid. Er muss seine Schwester ausgequetscht haben. „Ach, ganz einfach alles. Der Ex-Typ von ihr ist aufgetaucht. Der, von dem sie das Kind hat. Meinte, er will sie zurück, hat von Familie gelabert, seine Kleine soll einen vernünftigen Vater haben. Er hätte jetzt auch einen Job und so. Die wollte zuerst nicht, aber dann hat er paar Tage auf sie eingeredet und sie ist mit ihm gekommen. Jetzt sind die beiden wohl am Arsch der Welt irgendwo in Hamburg.“
„Und Ingo?“, fragte jemand von uns.
„Wat weiß ich.“ Ayhan zuckte da nur mit den Schultern. „Der ist nicht mitgekommen.“
Alle lachten. Ich auch, obwohl es mir doch irgendwo unangenehm war.
In den nächsten Wochen hat Ingo keiner gesehen. Besonders stark interessierte sich auch niemand für sein Schicksal. Wir sind weiter ins Kulturzentrum gegangen, haben Backgammon gespielt und literweise diesen scheißstarken Tee getrunken.
Der Winter ging vorbei, die Bäume wurden wieder grün und auch die Sonne tauchte wieder über unseren Klötzen auf. Wenn sie in die Stadt kam, dann sah sie auf jeden Fall auch bei uns vorbei. Vielleicht hatte sie unsere Siedlung doch gerne. Oder es kümmerte sie einfach nicht, auf was sie schien.
Als die Luft wieder voll war mit dem rauchigen Frühlingsduft, gingen wir auf den Gummiplatz.
Das lachsfarbene Gummi ist über den Winter noch verwetzter, noch löchriger geworden. Teerflecken klafften überall. Die Hausverwaltung hat fast alle Holzbänke durch Metall ersetzt. Sie haben auch die Bank mitgenommen, in die Ingo mit seinem Schlüssel „Ingo + Janine“ reingeritzt hatte.
Es war schön, sich wieder ein bisschen bewegen zu können, nicht immer nur würfeln und Tee trinken. Alle Leute waren wieder auf dem Gummiplatz. Die Kleinen, die Halbstarken, die Mädchen. Alle haben das getan, was sie schon vor einem Jahr getan haben und das Jahr vorher auch. Du hast Leute gesehen, die dir im Winter nicht über den Weg gelaufen sind. Ein paar Mädchen haben Kinder bekommen, ein paar andere waren schwanger. Den Sülo haben sie aus dem Knast entlassen und Herr Colchesky hat sein Fernrohr wieder auf dem Balkon aufgebaut. Jemand schmiss einen Grill an, auf dem Lammwürstchen brutzelten und mit ihrem Geruch alle hungrig machten. Alles lärmte und flachste herum. Nur Ingo war nicht da.
Auf dem Weg nach Hause traf ich ihn wieder. Fast drei Monate habe ich den Typen nicht mehr gesehen und plötzlich kam er mir aus seinem Hauseingang entgegen.
Der Winter war zu Ingo nicht gut gewesen. Nicht, dass er vorher besonders gesund ausgesehen hätte, aber in den letzten Monaten war es mit ihm sichtlich abwärts gegangen. Er war abgemagert, die Haut auf seinem Gesicht knitterte sich noch mehr und das Blut unter seinen Augen war nicht mal richtig rot.
„Ingo, mein Bruder, alles klar bei dir?“, ich klopfte ihm auf die Schulter. „Ich habe das von Janine gehört. Tut mir leid.“
Ingo muhte nur irgendwas und schaute auf den Boden.
„Komm doch bald wieder zum Basketball. Wir könnten dich gut gebrauchen. Der Ayhan hat schon Angst vor dir.“
Auf seinem Kinn erschien so etwas wie ein Lächeln.
In dem Moment merkte ich, dass der Typ einen großen Rucksack umgeschnallt hatte.
„Alter, bist du jetzt bei den Pfandfindern oder wie?“, ich zupfte an einem Riemen.
Ingo blickte mich verlegen an. Nach ein paar Sekunden Unentschlossenheit kramte er in seiner Hosentasche und holte einen zerknitterten rot-weißen Umschlag der Deutschen Bahn heraus. Er griff hinein und hielt mir anschließend ein Ticket vor die Nase: Köln-Hamburg, 2. Klasse.
Dann klopfte Ingo mir auf die Schulter, drehte sich um und machte sich auf den Weg zur S-Bahn.