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Auf dem Großflecken
Die Stadt lag noch schlaftrunken im Dunkel unter dichten, regenschwangeren Wolken.
Er kam von Südosten in die Stadt im Norden, als er an die große Kreuzung trat. Still und leer lag sie da, nur untermalt von einem leisen Rauschen aus der Ferne, das beständig zunahm, kurz aufbrüllte und schließlich von dem einsamen Auto mitgerissen wurde, um in der Ferne zu verklingen. Es war wieder still. In nur wenigen Stunden würde sich hier eine dichte Blechlawine über den Asphalt wälzen.
Er überquerte die Kreuzung und schritt in die dunkle Straße hinein.
Das nasse Pflaster der Fahrbahn und die Pfützen vor den Bordsteinen glänzten im matten Licht der Laternen.
Er erinnerte sich an den Straßennamen, den er an der Kreuzung gelesen hatte. „Haart“, in alter Zeit “Harza”, … Sumpfgebiet. Für einen Moment kam ihm der Gedanke, als wolle sich der Sumpf hier sein altes Reich zurückholen.
Die Schritte seiner schweren Stiefel hallten seltsam in beständigem Takt wieder von den grauen Wänden der alten Häuser.
Seinen langen, derben Wettermantel trug er offen, sodass er bei jedem Schritt aufwehte. Blonde Locken fielen ihm auf die breiten Schultern. Die Kapuze auf seinem Rücken verdeckte einen Teil des langen Lederfutterals, dessen Gurt er sich über die Schultern gelegt hatte.
In das Stampfen seiner Schritte kam plötzlich ein kurzes, helleres Schlagen, das Geräusch einer Tür, die ins Schloss fiel. Bald nahm er auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Bewegung war. Eine Frau ging mit leichten Schritten in seine Richtung. In der Nähe eines dunklen Hauseingangs hielt er inne. Urplötzlich blieb auch sie stehen, sah sich unsicher um, musterte ihre Umgebung und eilte schließlich deutlich schneller weiter.
Für einen Moment hatte er ihre Augen gesehen und die Unsicherheit darin, vielleicht sogar etwas Angst. Aber sie war es nicht und so setzte auch er seinen Weg fort.
Auch auf dem Marktplatz, dem „Großflecken“, nahe dem alten Rathaus, war das holprige Pflaster noch nass von der Nacht. In den Pfützen spiegelte sich der graue Himmel, über den langsam dichte, schwere Wolken zogen.
Die meisten Wagen waren schon am Vorabend auf den Platz gestellt worden und bildeten das Spalier für die Gassen, in denen sich bald die Kunden drängen würden.
Luken wurden geöffnet, Vordächer aufgestellt und die Auslagen mit Waren gefüllt.
Gerade war ein offener Anhänger auf einen reservierten Platz rangiert worden. Breite Gummireifen, niedrige Bordwand, hölzerne Ladefläche. Ein Mann stieg vom Traktor, koppelte den Anhänger ab, stellte die Deichsel auf und stieg wieder auf die Zugmaschine.
Anna hob die Hand zum Gruß. Der große Traktor röhrte auf und fuhr davon.
Sie wohnte erst seit gut drei Monaten bei ihrem Bruder auf dem Hof. Nach der Trennung war sie froh, dass Jan sie aufgenommen hatte, damals, als sie endlich den Mut gefunden hatte, um aus der immer schlimmer werdenden Beziehung zu fliehen. Anfangs war sie verheiratet, dann Eigentum und schließlich nur noch Opfer gewesen.
In den ersten Tagen hatte sie sich nur auf dem Hof aufgehalten und vermied es in die Stadt zu gehen. In fast jedem fremden Gesicht sah sie einen Verfolger. Es gab viele fremde Gesichter. Mit der Zeit hatte sich das gegeben, sie wurde ruhiger und so traute sie sich auch wieder in die Stadt.
Anna war nicht im klassischen Sinne schön, aber auf eine besondere, schwer zu beschreibende Art attraktiv. Wer sie dennoch beschreiben müsste, würde wohl als erstes von ihren Augen schwärmen, die so viel Freundlichkeit ausstrahlten. Ihre langen braunen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden und über Pullover und Jeans trug sie eine derbe, grüne Schürze. Die Kunden mochten sie und kauften gerne. Neben dem Marktstand half sie auch im Hofladen ihres Bruders und verkaufte alles, was die Felder hergaben.
In den Taschen ihrer Schürze suchte sie nach den Arbeitshandschuhen, streifte sie über und löste die Verriegelungen am Anhänger. Die Bordwand klappte sie herunter und hatte die Ladefläche auf praktische Höhe vor sich. Eine kleine, rostige Leiter aus Eisen hakte sie ein und kletterte auf den Wagen.
Anna löste die Zurrgurte von den stählernen Etagenständern und zog sie in eine Reihe über die Holzbohlen des Anhängers, wuchtete dann die mit Obst und Gemüse gefüllten Stiegen darauf, gut sichtbar für die Kunden. Schwer atmend sah sie auf, schaute über die Ladefläche und nickte zufrieden.
Andere Kisten ließ sie gestapelt, um von dort nach und nach die Waren wieder auffüllen zu können.
Als sie schließlich wieder hinunterklettern wollte, geschah das Unglück. Sie verfehlte die Leiter. Sie schrie auf, ruderte mit den Händen nach Halt, bekam reflexartig einen Kartoffelsack zufassen, der kippte ebenfalls und Anna stürzte von der Ladefläche.
Noch im Fallen wurde sie urplötzlich von starken Armen gepackt.
„Du solltest Bescheid sagen, wenn du Hilfe brauchst.“ Christoph löste seinen Griff, als sie wieder sicher auf dem Boden stand.
„Brauch' ich doch nicht.“ Sie lächelte, obwohl es ihr sichtbar peinlich war. „Du scheinst so was ja zu ahnen.“
Christoph hatte nur einen kleinen Marktstand direkt neben Annas. Er war Imker und von seinem Honig schwärmten die Kunden. Gemeinsam sammelten sie die Kartoffeln auf und Christoph rückte danach noch die Säcke auf der Ladefläche zurecht, dass sie sicher standen.
„Danke!“, sagte Anna, als er vom Anhänger sprang. Für einen Moment standen sie sich sehr nahe.
Christoph war ein recht gut aussehender Mann, nicht übermäßig groß, aber schon stattlich. Sie waren sich auf dem Markt zwangsläufig immer mal wieder begegnet, aber ohne sich richtig nähergekommen zu sein, … was sie eigentlich bedauerte. Er gab sich immer distanziert, fast schüchtern, was für solch einen Mann schon sehr seltsam war, denn gebunden war er nicht, das wusste sie.
Vor einer Woche hatte sie sich einmal durchringen wollen, ihn um eine Verabredung zu bitten, aber als sie endlich wusste, wie sie es sagen wollte, war er kurz vorher gegangen.
Vielleicht war es ja auch gut so, dachte sie. Vielleicht war sie einfach nicht sein Typ. Vielleicht passten sie einfach nicht zusammen und in ihrer Lage wäre es sicher auch zu früh gewesen. ... obwohl?
Die dunklen Regenwolken waren vom Himmel verschwunden und hatten einer grauen Decke Platz gemacht, von der man fürchten musste, sie würde jeden Moment herunterstürzen, um die Stadt unter sich zu begraben.
Auch wenn die Düfte an einen orientalischen Frühling erinnerten, so war er dennoch im Norden, auf dem Großflecken, zwischen dem Stand eines Blumenhändlers auf der einen und dem eines Gewürzhändlers auf der anderen Seite.
Von seiner Position aus konnte er sehr gut den schweren Anhänger sehen, beladen mit Feldfrüchten, wo sich eine junge Frau mühte.
… Sie war es, und er hatte keinen Zweifel.
Eine Weile stand er reglos da und beobachtete. Schließlich ließ er das Futteral von seiner Schulter gleiten und zog einen langen, hölzernen Stab heraus. Mit routinierten Griffen spannte er eine Sehne zwischen die beiden Enden.
Plötzlich wurde er wieder auf das Geschehen am Wagen aufmerksam. Die Frau hatte aufgeschrien, ein Mann war hinzugetreten und kam dann der Frau sehr nahe.
Einen Moment beobachtete er das Geschehen konzentriert, zog dann einen langen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn an die Sehne, warf eine blonde Haarsträhne zurück und zog langsam und konzentriert an.
Nur kurz erwiderte Christoph Annas Blick, schlug dann die Augen nieder und hob zögernd die Hand. „Ja, also wenn alles in Ordnung ist, … bis dann.“
„Ja, bis dann, … und danke.“
Kaum hatte Anna das gesagt und Christoph sich zum Gehen abwenden wollen, wurde er urplötzlich von einem gewaltigen Stoß einen Schritt nach vorne getrieben. Kurz wankend stand er da, mit hängenden Armen, wie eine hilflose Puppe, zitternd am ganzen Körper. Mit weit aufgerissenen Augen voller Erstaunen und Fassungslosigkeit sah er Anna an.
Präzise war der Pfeil genau zwischen die Schulterblätter tief eingedrungen.
Es waren routinierte, fließenden Bewegungen, mit denen er schließlich wieder die Sehne vom Bogen löste, ihn in den Köcher gleiten ließ und sich das Leder über die Schulter warf.
Mit einem letzten Blick zu seinem Ziel sah er, wie noch immer der Pfeil aus dem Rücken des Mannes ragte, sich dann aber wie ein feiner Nebel auflöste, der Mann das Gesicht der Frau in seine Hände nahm und sie lange und innig küsste.
Es war heller geworden. Die Wolken waren auf einer Stelle aufgerissen und ein erster Sonnenstrahl glitt durch Amor hindurch. Der Hauch eines Lächelns zeigte sich in seinem Gesicht, ... wenn man es denn hätte sehen können.