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Auf dem falschen Weg
Ungeduldig harrte Jack die letzten sturmumwehten Minuten in seiner mühsam in den Schnee geschlagenen Nische aus, die er an diesem kalten Montagmorgen, kurz nach seinem Aufbruch zur 23. und letzten Etappe, notgedrungen hatte errichten müssen, als der Wind sich in einen fauchenden, lebensgefährlichen Orkan verwandelt hatte, der ihn auf freier Bahn mühelos in die unendlichen Tiefen des Tals geweht hätte wie eine Schneeflocke. Wie er eine solche Höhlung errichten musste, hatte er in einem Buch gelesen, ebenso detaillierte Anweisungen zur Besteigung des höchsten Berges der Welt, dem 12675 Meter hohen Mount Pikatschu in Südlibanien, einem winzigen, autonomen Königreich am nördlichen Zipfel des Kontinents. Jack hatte erst neulich in einer Reportage auf dem Discovery-Channel erfahren, dass es bisher nur wenigen, äußerst erfahrenen Alpinisten gelungen war, vom Gipfel des Mount Pikatschu ins Tal zu blicken, viele Dilettanten hatte ihr Leben lassen müssen auf dem Weg ins unbekannte Glück, und er war sich der drohenden Gefahr durchaus bewusst.
Als der Wind allmählich in eine müdes Säuseln mündete, kroch Jack aus seiner Grotte, zog sich die Wollmütze, die Brille gegen Schneeblindheit, und die dicken Schafsfellhandschuhe über, die er bei einem betenden Mönch auf halbem Weg gegen ein paar freundliche Worte eingetauscht hatte, schulterte den schweren Rucksack, der neben Proviant auch die zahlreiche, bunt illustrierten Ratgeber der berühmtesten und mutigsten Abenteurer enthielt, und griff nach dem ihm Schnee steckenden Stab. Er konnte den Puderzucker-Gipfel im Schein der grellen Sonne schon vor sich sehen, durch die letzten schwachen Schneewehen, die fast staunend um den höchsten Punkt der Erde schwirrten, um ihm ihre Ehrerbietung darzubringen.
Nach den Berechnungen des Buches konnten es nur noch eine knappe Stunde sein und der Mann konzentrierte sich darauf die Schritte auf den spike-besohlten Schuhen lehrplanmäßig zu setzen, ruhig, kalkuliert und mit Bedacht, wie es ihm ein reputierlicher Bergsteiger am Fuße des Pikatschu in epischer Bandbreite unermüdlich eingebleut hatte.
»Und denken sie nie, sie hätten es geschafft, dann geht garantiert noch etwas schief«, hatte er zum Abschied noch gemeint und an seinem Gesichtsausdruck zufolge hatte er eben diesen Fehler bereits begangen und war dafür bestraft worden.
Jack spürte wie mit jedem neuen Schritt seine Anspannung stieg, die Erwartung an eine atemberaubende Aussicht, an wunderbare Erinnerungen, an den Geruch von Freiheit. Ja, es war hauptsächlich die absolute Freiheit, die er hier oben in dieser gottverlassenen Gegend suchte, und von der bereits so viele Pikatschuisten, wie sich die erfolgreichen Besteiger nicht ohne Stolz nannten, geschwärmt hatten.
Er selbst hatte dieses Gefühl von Freiheit noch nie empfinden dürfen. Daheim, am Rande der großen Wüste am südlichen Ende des Kontinents, verhinderte dies tagsüber hauptsächlich sein kraft- und zeitraubender Job, ein unerbittlicher Chef und nie funktionierende Kaffeeautomaten. Besonders letzteres umgriff ihn nur allzu fest mit seinen riesigen Klauen, am Abend, obwohl es gar nicht ihre Schuld war. Schließlich Jessy, seine unbeschriebene Ehefrau, die er weder liebte noch mochte, bei ihr stand es ebenso kärglich um eindeutige Gefühle, die einfach nur mit ihm in einem Haus und gelegentlich in einem Bett wohnten, weil beide Elternpaare sich einig waren und auf Reinheit der Rassen, auf Vereinigung zweier edler Geschlechter gepocht hatten. Da sollte gefälligst auch ein Kind bei herausspringen. Und jetzt, mit 24 Jahren fehlte Jack die Kraft und der Mut einen Schlussstrich unter diese unrühmliche Affäre zu setzen.
Wenn er Abends ausgehen wollte, dann stets mit eingehakter Ehefrau und charmant nivellierendem Lächeln, das symbolisierte: »Alles in Ordnung. Wir lieben uns.«
»Ich mag es nicht, wenn du alleine weggehst und die Leute anfangen Gerüchte in die Welt zu setzen«, bleute sein Vater ihm ständig ein, »das schadet dem Ansehen unserer Familie. Sei dir dessen immer bewusst, mein Sohn.«
Er konnte zwar alleine auf den höchsten Berg der Welt klettern, da schlossen es die Prinzipien der Wahrscheinlichkeit aus, dass ihm ein Bekannter begegnen würden, aber bei ihm zuhause da lag er in schweren Ketten. Unumstritten – er war nicht frei.
Jack sah den Gipfel nun in vollem Glanz vor seinen Augen und es fiel ihm trotz der Warnungen schwer noch an ein plötzliches auftretendes Hindernis, einen drastischen Wetterumschwung, eine perfide Spalte im Schnee oder ähnliches, zu denken und in Gedanken sah er sich schon alleine auf der Spitze stehen, mit stolzgeschwellter Brust und dann würde er frohen Herzens feststellen: »Jawohl, das Buch hatte recht. So fühlt sich die Freiheit an.«
Die letzten Meter überwand er wie in Trance, stach noch einmal den Stock in den Tiefschnee, um sich über eine letzte abschüssige Passage zu drücken, die alsbald in einen letzten, sanft ansteigenden Abschnitt überging. Als er schließlich den finalen Schritt setzte, war er nur auf dieses unbeschreiblich ergreifende Gefühl vorbereitet – und was er zuerst vorfand war ein schwarz lackiertes, mit der Zeit leicht verrostetes Schild, das emotionslos kundtat:
Sie sind der 678998 Besucher auf diesem Berg. Darunter stand Herzlichen Glückwunsch in 20 Sprachen.
Und als er weiter sah, fanden seine Augen ein überraschend reges Treiben auf dem höchsten Punkt der Erde vor. Dunkelfarbige Hilfsarbeiter in zerschlissenen Schafsfelldecken verkauften bunte, industriegefertigte Kappys mit dem Aufdruck »Mount Pikatschu, ich war da!«, hübsch aufgereihte Perlenketten aus malaiischem Qualitätsplastik und minderwertige japanische Modeuhren, die nie wirklich einwandfrei funktionierten; ein kleiner Mann im dünnen T-Shirt, unter dem sich ein kleines Bäuchlein wölbte, verteilte Parfumproben europäischer Stardesigner an die ankommenden Bergsteiger und schwadronierte laut in verschiedenen Weltsprachen; zwei Frauen in knappen Bunny-Outfit bedienten zuweilen betrunkene Gäste an Holztischen mit kulinarischen Köstlichkeiten, insbesondere mit Bier, und für die Unterhaltung der Gipfelstürmer junior sorgte ein kleines Kasperletheater, von dem in regelmäßigen Abständen fröhliches Gelächter herüber schwappte.
War das die Freiheit, von der die Autoren in ihren Büchern immer übermütig geschwärmt hatten?
Jack ließ sich ohne große Scham in den Schnee plumpsen und war den Tränen nahe. Nun gut, von dem kunterbunten Markttreiben, das neueste Machwerk des Merchandising-Ungetüms und der Tatsache, dass er lediglich einer von 700000 war, konnte er eventuell noch absehen, aber ebenso wie in diesem Punkt hatten die Bücher auch in puncto Ausblick gelogen. Zugegeben, für ein nettes Foto, das man sich später neben fadenscheinigen Familienportraits auf den Kaminsims stellen konnte, reichte es sicherlich aus, auch um ahnungslose Freunde und Verwandte zu beeindrucken, aber ein Gefühl von Freiheit erweckte die verschneite, zerklüftete Berglandschaft nicht.
Er konnte einfach keinen Gefallen an der Sicht über die unzähligen weißen Gipfeln, an den abfälligen Hängen hinab ins Tal, an dem Übergang von Schnee in schüchternes, dann kräftig leuchtendes Grün, das waren für ihn einfach fixe Tatsachen ohne wirklichen emotionalen Reiz, und als ihn ein betrunkener Mann versehentlich anrempelte, warf er ihm einen kurzen verächtlich Blick zu, gerade so als wolle er ihm zeigen, wie albern er das ganze Szenario doch fand.
»Hey, just have fun«, rief er und setzte seinen Weg fort.
Keiner nahm an seinen verzweifelten Schreien Anstoß, als der Betrunkene seinen letzten Schritt falsch setzte und dem Tod entgegen raste.
Und als Jack in all die berauschten Bergsteiger-Gesichter sah, war ihm mit einem Mal klar, worauf ihr erbärmlicher Zustand und der eminente Bierausschank zurückzuführen war. Ihm war auch klar, dass er keinen Moment länger bleiben wollte, wenn ihn nicht das selbe traurige Schicksal ereignen sollte.
Sie hatte alle gesucht und nicht gefunden.