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Auf das Schaf gekommen!
Es war an einem nebligen Samstag im März, als auf einmal ein Schaf vor unserer Haustüre stand. Die Sonne ging gerade auf, der Tau lag funkelnd auf der Wiese, und mitten auf der Veranda, da stand es. Ein echtes Schaf. Weiß, mit zotteligem Haar, breitem Nasenbein, einer flachen, eingesenkten Stirn, und mit schneckenförmig gedrehten Hörnern. Mit seinem ziemlich langen Maul machte es Määh!
»Du meine Güte!«, rief meine Mutter, als sie an der Kaffeemaschine hantierte und es durch das Küchenfenster entdeckte, und mein Vater traute seinen Augen nicht, während er die Haustüre öffnete.
Meine kleine Schwester Ida war hellauf begeistert und wollte es sofort hereinlassen, aber Vater protestierte. »Das wäre ja noch schöner!«, rief er und hielt sie davon ab. »Sieht unser Haus etwa aus wie ein Tierheim?«
Stattdessen versuchte er, das Schaf loszuwerden, doch vergeblich. Es war störrisch wie ein Esel und rührte sich keinen Meter von der Stelle.
Irgendwann gab Vater sich geschlagen. »Dann warten wir eben, bis es von alleine weggeht!«, entschied er und zog sich trotzig in sein Arbeitszimmer zurück.
Aber das Schaf ging nicht von alleine weg. Gegen Mittag lief es Stück für Stück unseren Garten ab, betrachtete die Bäume, Sträucher und Gemüsebeete, und am späten Nachmittag fraß es Gräser, Äste und Kräuter. Es schien ihm bei uns zu gefallen.
Schließlich wurde es Vater zu bunt. Er unterbrach seine Arbeit, schnappte sich das Telefonbuch und rief die beiden ortsansässigen Schäfer an. Irgendjemandem musste das Schaf ja schließlich gehören! Doch keiner vermisste es.
Als sich am Abend die Dunkelheit über die Häuser legte, überredeten wir Vater, den ohnehin fast leerstehenden Geräteschuppen im Garten als Stall zu nehmen. So hatte das Tier die Möglichkeit, sich in der Nacht zurückzuziehen. Von einem Nachbarn besorgten wir Heu und Stroh, die Werkbank wurde zum Futtertisch.
Auch am Sonntag blieb das Schaf das Gesprächsthema Nummer eins in unserer Familie. »Warum behalten wir es nicht einfach?«, schlug ich am Mittagstisch vor, während ich den Braten in mich hinein schaufelte.
»Oh ja!«, rief Ida begeistert. Sie war sofort Feuer und Flamme. »Behalten wir Timmy!«
Vater blieb in dem Moment das Stück Fleisch im Hals stecken, das er sich gerade in den Mund geschoben hatte.
»Timmy?« Er schluckte und starrte Ida an. Mehr brachte er nicht heraus. Ein Schaf konnte man wieder loswerden. Aber einen Timmy?
»Nein!«, wehrte er sich verärgert. »Wir behalten das Tier auf gar keinen Fall! Außerdem sind Schafe Herdentiere! Die wollen gar nicht alleine leben!«
Damit war das Gespräch für ihn beendet. Er ließ sich auf keine weitere Diskussion ein.
Am Sonntagnachmittag lieh Vater sich von einem Bauern einen landwirtschaftlich genutzten Pferdeanhänger mit Plane und Spriegel, und nachdem es ihm mit großer Mühe und mit der Hilfe von Mutter gelungen war, das schwere Tier dort aufzuladen, fuhr er es zu einem Weideplatz. Denn der dort ansässige Schäfer, mit dem er am Samstag telefoniert hatte, hatte ihm angeboten, das Tier bei ihm abzugeben, wenn er es unbedingt loswerden wollte.
Gesagt, getan. Traurig verabschiedeten wir uns von Timmy und sahen ihm hinterher. Unsere Herzen hatte das weiße Schaf längst erobert!
Doch am nächsten Morgen stand Timmy wieder vor unserer Haustüre. Treuherzig schaute er durch das Küchenfenster und machte wieder Määh! Beinahe sah er so aus, als ob er uns anlächeln würde.
Vater gab daraufhin eine Zeitungsanzeige mit dem Titel Schaf zugelaufen! auf, in der Hoffnung, der Eigentümer des Tieres würde sich melden.
Die Leute vermissten viele verschiedene Haustiere, wie ich dem Tiermarkt entnehmen konnte: Hunde, Katzen, Kanarienvögel, Wellensittiche, Hamster, Meerschweinchen. Ja, sogar ein Frettchen! Nur ein Schaf, das suchte niemand. Vierzehn Tage später hatte Vater noch immer keine Antwort auf die Anzeige erhalten. Ida und ich versuchten daher erneut, ihn umzustimmen.
»Bitte, Papa!«, bettelte meine Schwester mit honigsüßer Stimme und mit großen, runden Kulleraugen. »Timmy ist doch soo süüß!«
»Wie stellst du dir das denn vor, Kleine?«, wandte Vater ein. »Ihr müsstet euch regelmäßig um das Schaf kümmern! Es braucht Auslauf, frisches Heu und Wasser, und im Frühjahr muss es geschoren werden!«
»Für die Schafschur und Klauenpflege findet sich bestimmt ein geübter Scherer«, meinte Mutter zuversichtlich.
Meiner Mutter und mir fielen noch weitere Argumente ein. So viele, bis Vater sich nach einem letzten Zögern schließlich erweichen ließ.
»Na schön. Meinetwegen. Behalten wir das Schaf. Aber nur, wenn sich niemand mehr meldet!«
Ida und ich strahlten wie Honigkuchenpferde und umarmten Vater herzlich.
Inzwischen haben wir uns richtig an Timmy gewöhnt. Er liefert uns Wolle, Ida und ich gehen täglich mit ihm Gassi, und unserem Vater bleibt das Mähen des Rasens erspart. Und wenn uns einmal nach Fleisch gelüstet ... Nein! Nur gefressen wird Timmy nicht!
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