Auch ich bin sitzen geblieben
[ Auszug aus den Memoiren des Deutschen Peter Mayer. Ebenso hätten wir die Memoiren der Deutschen Luise Müller veröffentlichen können. ]
Liebes Tagebuch!
Gestern Nacht habe ich wieder schlecht geträumt. Seit Monaten schon verfolgt mich ein furchtbarer Alptraum; es ist immer derselbe Traum und jedes Mal wache ich schweißgebadet auf und bin froh, diesem Traum entronnen zu sein.
Ich sitze in einem Klassenzimmer mit ca. 30 anderen Mitschülern. Wir verstehen uns gut, reden miteinander, lachen und regen uns natürlich auch gemeinsam über die Mathelehrer unserer Schule auf, die unfaire Noten verteilen. Doch heute sollen wir endlich einen neuen Mathelehrer bekommen. Es dauert auch nicht lange, da geht die Türe auf und herein kommt ein brachial aussehender, riesiger Hüne von einem Lehrer. Sofort verstummen wir und blicken respektvoll zu ihm auf. Ohne lange Plattitüden zu halten, erklärt er seine Regeln, an die wir uns gefälligst zu halten haben.
Er macht keinen Hehl daraus, dass er von der internen Schulordnung nicht viel hält und wir merken gleich, dass in seinen Stunden nur seine eigenen Gesetze gelten.
Dann beginnt der Unterricht. Der große Augenblick unseres Lehrers und er versteht es ausgesprochen gut, ihn zu nutzen. Wirklich jeder hängt an seinen Lippen und die anfängliche Skepsis, die sich im Klassenzimmer bereits ausgebreitet hat, verfliegt im Nu.
Wir befinden uns im Glauben, einen unglaublich kompetenten Lehrer vor uns zu haben, der zwar autoritär und strikt erscheint, doch wenn man sich an seine Regeln hält, hat man eigentlich nichts zu befürchten.
Doch plötzlich passiert etwas Merkwürdiges: Während der Stillarbeit brüllt unser Lehrer plötzlich einen Mitschüler an, er solle doch endlich "seine Schnauze halten".
Verdutzt schaue ich mich um. Der betreffende Schüler, Isaak, hat wirklich überhaupt nichts gesagt. Isaak selbst schüttelt nur den Kopf. Es kann sich eigentlich nur um ein Missverständnis handeln.
Doch schon ein paar Minuten später das gleiche Spiel. Diesmal stößt der Lehrer sogar einige handfeste Drohungen aus, was geschehen wird, wenn er noch ein Mal seine "Klappe aufreißt".
Doch wie schon beim letzten Mal ist Isaak die ganze Zeit mucksmäuschenstill gewesen.
Ich reibe mir die Augen und denke nur: "Was für ein verrückter Lehrer!"
Doch wie die anderen auch befasse ich mich weiter mit meinen Aufgaben und tue so, als ob ich nichts gehört habe.
Isaak jedoch macht einen zarten Versuch der Verteidigung: "Ich habe doch gar nichts gesagt".
Unser Lehrer wird rot vor Wut. Er schreit etwas von "Teufelsjunge" und "Ausgeburt der Hölle", verpasst ihm eine Ohrfeige und nimmt ihm letztendlich sein Geodreieck weg.
Isaak, der inzwischen zu weinen angefangen hat, blickt sich hilfesuchend um, doch alle Mitschüler schauen weg; einige von ihnen verbreitern sogar demonstrativ ihren Abstand zu ihm.
"Jemand muss aufstehen und dem Lehrer die Meinung sagen", denke ich nur.
Jedoch hat niemand, so scheint es, den Mut dazu.
Ich überlege kurz, ob ich Isaak mein zweites Geodreieck geben sollte, damit er wenigstens seine Aufgaben machen kann, entscheide mich aber dagegen.
"Sonst nimmt uns der Lehrer noch beide Geodreiecke weg", sind meine kühl kalkulierten Gedanken.
Kurze Zeit später beschimpft und verhöhnt der Lehrer Isaak, weil er es nicht geschafft hat, einen Winkel von 27,4 Grad zu zeichnen.
Isaak, dessen Weinen sich inzwischen zu einem Heulen gesteigert hat, erhebt sich von einem Stuhl und wagt es unter Tränen dem Lehrer zu erklären, dass das ohne ein Geodreieck doch gar nicht möglich sei.
"Jetzt muss doch endlich jemand einschreiten", denke ich, "das kann doch so nicht weitergehen, der arme Isaak. Warum stehen wir nicht zusammen auf, um gegen diesen Tyrannen gemeinsam vorzugehen?"
Doch ich denke nur und sage gar nichts. Denn auch meine Mitschüler sagen nichts. Einige schauen aus dem Fenster, scheinen sich gar nicht für das Geschehen zu interessieren, andere wiederum halten sich die Ohren zu.
Und alleine, na ja, was kann ich alleine schon gegen ihn ausrichten?
Unser Lehrer jedenfalls ist außer sich vor Zorn. Ich habe vorher noch nie jemanden so schreien hören wie ihn, doch der Lehrer belässt es nicht beim Schreien.
Er packt Isaak auf brutalste Weise und zieht ihn an seinem Hemdkragen zur Klassentür, um ihn dort mit einem kräftigen Fußtritt aus dem Klassenzimmer zu befördern.
Was danach geschieht, weiß ich nicht.
Denn voller Furcht und Panik kann ich diesem entsetzlichen Schauspiel nicht länger zusehen und wache auch glücklicherweise in diesem Augenblick immer auf.
Obwohl ich es immer wieder versuche, kann ich diesen Traum nicht vergessen. Ich versuche ruhig zu bleiben, mir klar zu werden, dass ich in meinem Bett liege und ich nichts zu befürchten habe.
Doch es lässt sich nicht einfach wegdiskutieren:
Niemand ist mit ihm aufgestanden, niemand hat offen gegen dieses Verbrechen demonstriert. Und das Schlimmste: ich auch nicht.
Auch ich bin sitzen geblieben.
[ geschrieben ca. 1948 ]
[Beitrag editiert von: Kritiker am 31.03.2002 um 13:30]