Außenlandung
Gespanntes Warten. Der letzte Check ist gemacht. Der Wind kommt leicht von vorne rechts. Der Himmel ist wunderschön: tiefblau mit Straßen von weißen Cummuluswolken. Ein Helfer hält die Tragfläche waagerecht. Sein erhobener Arm zeigt allen umstehenden, daß wir startbereit sind. Es dauert noch einen Moment, erst dann geht ein Ruck durch das Seil. Es spannt sich und schon werden wir von der Winde, die in fast 1.000 Metern Entfernung auf der anderen Seite des Flugplatzes steht, angezogen. In wenigen Sekunden haben wir so stark beschleunigt, daß wir bereits abheben. Leicht ziehe ich am Steuerknüppel und bringe das Flugzeug damit in einen rasanten Steigflug. Wie im Fahrstuhl geht es aufwärts, bis auf dem Scheitelpunkt eines großen Bogens die Flugbahn immer flacher wird. Als das Seil mit einem lauten „Klack“ ausklinkt, haben wir eine Höhe von 400 Metern erreicht.
Leider erlaubt es mir die Enge im Cockpit nicht, mich soweit umzudrehen, daß ich meinen Fluggast ansehen kann, aber jetzt habe ich endlich etwas Zeit und Ruhe, mich ausgiebiger mit ihm zu beschäftigen.
Ein ausgesprochen hübsches Mädchen namens Michaela hatte sich schon den ganzen Vormittag lang am Flugplatz aufgehalten. Sie wollte sich schon früh morgens für einen Gastflug anmelden, leider war die Warteliste aufgrund des herrlichen Wetters entsprechend lang. So hatte sie stundenlang ausgeharrt. Sie mischte sich neugierig unter die Piloten, half beim Aufbauen von Maschinen, sie war nach etlichen Landungen anderer Flieger mitgelaufen und hatte geholfen, die Flugzeuge wieder an den Start zu schieben. Sie faßte eigentlich überall mit an, als sei es das Selbstverständlichste für sie. Nicht einmal ein Brüller von einem älteren Piloten, nachdem sie ein Flugzeug irrtümlich an den Ruderklappen angefaßt hatte, konnte sie davon abhalten, uns hilfreich zur Hand zu gehen.
Deswegen hatte ich mir jetzt vorgenommen, sie quasi als Dankeschön auf einen etwas längeren Flug über die Umgebung mitzunehmen, zumal das Wetter so aussah, als hätten wir die Chance, auch etwas auf Entfernung vom Platz gehen zu können. Bis jetzt hatten wir uns kaum unterhalten, aber immerhin hatten wir uns schon ein paar Mal freundlich zugelächelt. Und jetzt saß Michaela hinter mir, und sie schien mir Glück zu bringen, denn gleich nach dem Ausklinken zeigte das Variometer ein deutliches Steigen an. Also kreiste ich ein und gewann in dem Aufwindschlauch auch schnell an Höhe.
„Ich weiß ja nicht, ob dir das enge Kreisen etwas ausmacht. In der Tasche neben Dir sind Papier-Beutel. Falls Dir schlecht werden sollte, kannst Du die benutzen. Und bitte sag mir dann auch bescheid, dann kann ich ja, wenn’s nicht besser werden sollte, auch direkt wieder landen.“
„Nee, ist doch großartig so. Flieg du nur weiter deine Runden, bis du dich endlich für eine Richtung entscheiden kannst.“
Na wunderbar. Ich hatte also einen Frechdachs im Cockpit. Aber diesen Ton mag ich eigentlich. Dennoch blieb ich erst mal ganz der freundliche Fremdenführer in der Luft. „Wenn Du mir sagst, wo Du wohnst, können wir gerne mal dorthin einen Abstecher machen, dann kannst Du in Euren Kamin spucken.“
„Na du gehst aber ran. Ist deine erste Frage immer gleich die nach der Adresse deiner Angebeteten? Ist ein riskantes Spiel, das du mit mir da spielst.“
Danke, das saß! 1:0 für sie. Während sie sich hinter mir über mich amüsierte, bekam ich bestimmt rote Öhrchen.
„Ja, meinst Du denn, ich will Deine Spucke bei uns auf dem Platz haben?“ versuchte ich etwas kläglich zu kontern. „Außerdem, irgendwie muß ich ja anfangen.“
Sie nannte mir die Ortschaft, in der sie wohnte. Das Dorf war nicht weit entfernt und ich überlegte schon, welche Route wir denn nehmen könnten, um ihr einen abwechslungsreichen und spannenden Flug zu bieten. Währenddessen waren wir unaufhörlich in der Thermik gestiegen und hatten bereits mehr als 1400 Meter über Grund erreicht. Noch 200 bis 300 Meter und wir würden die Wolkenbasis erreichen. Das nennt man Glück.
„Du solltest häufiger mitfliegen, wenn ich dann so einen Bart finde. Vielleicht sollte ich Dich als Talisman ins Cockpit kleben.“
„Du findest einen Bart? Hast Du heute morgen nicht in den Spiegel geschaut oder wieso?“
„’Bart’ nennt man die Aufwindschläuche wie diesen, in dem wir gerade so gut gestiegen sind“, erklärte ich. Flieger haben eben ihre eigene Sprache. „Wir können jetzt über Dein Heimatdorf fliegen und dann einen Abstecher in die Eifel machen, was hältst Du davon?“
„Ja gerne, das wäre schön.“
Also steuerte ich in die besagte Richtung und erklärte ihr dabei noch dies und das. Michaela hörte interessiert zu und stellte auch immer wieder die ein oder andere Frage oder bombardierte mich auch wieder mit irgendwelchen kessen Bemerkungen. Michaela wurde mir dabei immer sympathischer. Ich mag freundliche und unkomplizierte Menschen, mit denen man sich scherzhaft necken kann, ohne daß jedes Wort gleich falsch verstanden wird.
Inzwischen hatte sie ihre Heimat ausführlich von oben betrachtet und auch fotografiert, und wir flogen vom Rhein her in die Eifel ein. Bei dem guten Wetter hatten wir immer wieder Thermik gefunden, so daß wir uns meist gut an der Wolkenbasis, zumindest immer über 1000 m halten konnten. Dabei fingen wir dann auch an, von uns zu erzählen. Ich erfuhr, daß Michaela 25 Jahre jung war. Sie war vor einigen Jahren von hier aus nach München gezogen um dort Germanistik zu studieren. Diese Vorlage reizte mich natürlich gleich zu dem bösen Kommentar, seit wann man in Bayern die deutsche Sprache kennen würde. Sie war nun in ihre Heimat zurückgekehrt, da sie nach dem Studium noch keine Anstellung gefunden hatte.
Westlich des Nürburgrings war der Himmel blau, dort würden wir höchstwahrscheinlich gnadenlos „absaufen“, und so wollte ich es weiter im Norden probieren, wo einige verheißungsvolle Wolken am Himmel zu sehen waren. Während wir uns mit größerer Geschwindigkeit diesen Cummulanten näherten, zeigte sich, daß diese sich bereits auflösten. Unter ihnen war also auch kein Aufwind mehr zu erwarten.
Auf dem letzten Abschnitt hatten wir Einiges an Höhe eingebüßt, und wenn wir sorglos nach Hause kommen wollten, mußten wir sehr schnell wieder Thermik finden. Der Himmel indes zeigte immer weniger Wolken, an denen wir uns hätten orientieren können. Etwas weiter nordwestlich schien es noch bessere Vorraussetzungen zu geben, aber wir waren inzwischen nur noch knapp 600 m über Grund. Schon ein wenig verzweifelt suchte ich, ob uns nicht irgendein sonnenbeschienener Hang noch etwas Höhe schenken könnte. Es fand sich auch noch der ein oder andere kleine Bart, aber dort konnten wir kaum etwas gewinnen. Zu zerrissen waren die wenigen Thermikblasen.
„Hast du heute abend eigentlich noch etwas vor?“ fragte ich schon einmal vorsichtig.
„Wieso fragst du? Du willst dich doch nicht noch zu mir einladen, um zu sehen, ob meine Spucke den Kamin tatsächlich getroffen hat? Oder hast Du etwa eine interessante Briefmarkensammlung?“
Das war ja nett, aber danach war mir im Moment gar nicht zumute. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich den Flug nicht besser geplant hatte und dieses Risiko eingegangen war. „Ehrlich gesagt, wenn ich jetzt nicht bald einen guten Bart finde, weiß ich nicht, ob wir es zurück zum Flugplatz schaffen.“
„Und das heißt?“ Die Frage war glücklicherweise sehr ruhig gestellt.
„Das heißt schlimmstenfalls, daß wir uns eine schöne Wiese suchen müssen und dann außenlanden. Das heißt aber auch, daß wir dann hier solange festsitzen, bis jemand vom Platz kommt und uns mit einem Anhänger zurückholt.
„Ist das gefährlich?“
„Außenlandungen sind zwar immer mit einem Risiko verbunden, weil man ja das Gelände nicht kennt. Da können plötzlich Steine liegen oder so was. Aber das betrifft mehr das Flugzeug. Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen.“ Hoffentlich hatte ich jetzt nicht zuviel gesagt und sie damit in Angst versetzt. Deswegen hakte ich nochmals nach und ergänzte wahrheitsgemäß: „Wenn man auf Strecke geht, also versucht, eine bestimmt Distanz mit dem Segelflugzeug zu erfliegen, dann sind Außenlandungen an der Tagesordnung. Und da passiert auch nichts. Sei also unbesorgt, schließlich bin ich ja bei Dir.“
„Oh, wenn das so ist ... Ich habe heute nichts mehr vor. Wir haben also jede Menge Zeit.“
Leider bestätigte sich meine Befürchtung. Wir sanken immer tiefer und es war nichts mehr zu finden, was uns noch hätte Höhe bescheren können. Also hielt ich Ausschau nach einer guten Landemöglichkeit, bat meinen Passagier, die Anschnallgurte noch einmal gut feste zu ziehen und gab über Funk unsere Position durch. Gut erreichbar fand ich eine große Wiese. Offensichtlich war sie vor kurzem gemäht worden und langsam setzte sich dort wieder das kräftige Grün frischen Grases durch. Es schien also so, als müßten wir nicht mit Maulwurfshügeln oder größeren Steinen rechnen. Auch Zäune waren weit und breit nicht zu sehen, und daß die Heuballen sorgsam am Rand zu einer Pyramide aufgetürmt waren, kam mir sehr entgegen.
Ich flog ein Stück mit dem Wind an dem ausgewählten Gelände vorbei und inspizierte es zum wiederholten Male. Die Ausganghöhe stimmte, ich drehte in den Queranflug. Die Wiese lag jetzt fast querab auf der linken Seite von uns. Ich drehte ich die letzte Kurve und fuhr die Bremsklappen etwa zur Hälfte aus. Wie sanken gleichmäßig unserem Landefeld entgegen. Wenige Meter über Grund zog ich langsam am Knüppel, um das Flugzeug sanft abzufangen. Wir schwebten eine Weile parallel zum Boden, die Flugzeugnase streckte sich immer weiter in den Himmel und dann berührten wir den Boden, es holperte ein wenig. Der Flieger rollte langsam aus, und als er fast zum Stillstand gekommen war, senkte sich die rechte Tragfläche, der Flug war vorüber.
„Alles okay?“ fragte ich Michaela.
„Na ja, da oben gefiel mir die Aussicht irgendwie doch wesentlich besser als hier unten im Tal. Aber Hauptsache, wir sind sicher gelandet.“
Also öffneten wir die Haube, und ich half Michaela aus dem Flieger. Als Erstes riefen wir auf dem Flugplatz an, um unseren Rücktransport zu organisieren. Unangenehmerweise wurde uns prophezeit, daß wir uns auf eine längere Wartezeit einrichten müßten und wir erst nach Ende des Flugbetriebs abgeholt werden könnten. Wir saßen jetzt also auf irgendeiner Wiese, mitten in der Eifel, fest. Das nächste Dorf war einige Kilometer entfernt, die einzigen Straßen, die hier durch die Wiesen führten, waren Schotterwege, die Landwirte benutzten, um zu ihren Feldern zu gelangen. Dafür hatten wir wenigstens noch genug zu trinken dabei und, was mir noch wichtiger war, ich hatte eine angenehme Begleitung, die mir mit ihrer charmanten und witzigen Art, aber auch mit ihrem sehr attraktiven Äußeren, immer mehr zu gefallen begann.
„Jetzt hast Du mich auf die entlegendste Wiese gebracht, die Du finden konntest, oder?“
„Hat Dir der Flug etwa nicht gefallen?“ gab ich zurück.
„Och, das war schon ganz okay so. Mir gefällt auch die Wiese hier. Sie ist immerhin so schön grün.“
„Also wenn Du nur grüne Wiesen magst, dafür hätten wir nicht so weit fliegen müssen.“
„Vielleicht mag ich ja doch gerade diese Wiese hier. Immerhin ist es doch sehr romantisch hier, so fernab von jeder Zivilisation, und dann ganz allein zu zweit im Grünen. Es ist warm und die Vöglein zwitschern. Auch die Grillen zirpen. Doch, genau diese Wiese gefällt mir.“
„Du bist sehr wählerisch, oder?“
„Ich bin immer wählerisch!“ sagte sie und ich wußte nicht so genau, worauf sich das jetzt alles hätte beziehen können. Bei den schelmischen bis zuweilen spöttischen Blicken meiner Begleiterin war ich immer ein wenig auf der Hut. Andererseits konnte man einem Wesen mit so einem herzlichen und anmutigen Lächeln auch keinen Scherz und keine Provokation übelnehmen.
„Es kann jetzt ja doch einige Stunden dauern. Womit sollen wir uns denn jetzt die Zeit vertreiben?“
„Schlägst Du was vor?“ fragte sie mich. Viele Möglichkeiten des Zeitvertreibs hatte ich ja nicht zu bieten. Also rettete ich mich auf die sichere Seite und suchte mir etwas, was kein Risiko darstellte, um sie nicht in die Enge zu treiben.
„Ich bin ein neugieriger Mensch. Du könntest mir etwas von Dir erzählen.“
Wir legten uns ins Gras und fingen an, uns gegenseitig Geschichten aus unserem Leben zu erzählen. So erfuhr ich kleine Anekdoten aus ihrer Schulzeit und auch, wie sie ihren ersten Freund kennengelernt hatte. Ich wiederum erzählte ihr, wie ich zum Fliegen gekommen war, sprach über meine Arbeit in einer Industrieverwaltung und gab auch ein paar Geschichten aus meiner Kinder- und Jugendzeit zum Besten.
Die Sonne prallte dabei erbarmungslos auf uns nieder und irgendwann zog sich Michaela ihren leichten Pullover einfach über den Kopf. Sie trug einen sportlichen dunkelblauen BH, in dem sie eine ausgesprochen gute Figur machte. Als sie den Pulli auszog, hatte das etwas ganz natürliches an sich. Es war einfach eine Reaktion auf die Hitze, in der wir schon eine ganze Weile brieten. Allerdings machte mich der Anblick dieser so nur noch spärlich bekleideten Schönheit doch schon recht kribbelig.
Ich schlug ihr vor, daß wir uns ja auch unter eine Tragfläche in den Schatten legen könnten und so ließen wir uns bäuchlings, die Köpfe zueinander, auf diesem schmalen Streifen Erde nieder.
Nachdem wir bestimmt eineinhalb Stunden so geplaudert hatten, hingen wir beide hin und wieder einfach unseren Gedanken nach. Oft ist es ja so, daß gerade, wenn man eine Person noch nicht so lange kennt, ein Schweigen irgendwie bedrückend wirkt, aber bei Michaela war das inzwischen ganz anders. Sie schien es auch zu genießen, einfach die Gedanken schweifen lassen zu können. Wir hatte ja jede Menge Zeit und so konnten wir zusammen einfach ein bißchen Träumen und uns an den kleinen Dingen freuen: dem Duft der Wiese, dem erlebten Flug und auch einem Schmetterling, der uns Gesellschaft leistete.
Ich nahm die Gelegenheit wahr, Michaela mir etwas genauer anzuschauen, um mir dieses Bild einzuprägen. Ihr ovales Gesicht wurde von ihren Augen dominiert, die in einem kräftigen Blau den Eindruck eines offenen, freundlichen Wesens vermittelten. Ihre Nase hatte einen dezenten und durchaus süßen Ansatz zu einem Stups. Ihr Mund war klein, aber ihre Lippen hatten einen Schwung, als wären sie von leichter Feder gezeichnet. Ihr mittelblondes Haar war knapp Schulterlang und zu einem niedlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Allerdings gab es da einige renitente Strähnchen, die aus der sonstigen Ordnung ausbrachen und sich immer wieder vor Ihr Gesicht legten. Michaela pustete deswegen diese Strähnchen von Zeit zu Zeit zur Seite. Da dies häufiger geschah, mußten wir beide schon jedes Mal grinsen, wenn sich ihre Haare wieder selbstständig machten.
Irgendwann half aber das Pusten nicht mehr, denn eine Strähne wollte sich partout nicht aus ihrem Gesichtsfeld drängen lassen. Und so nahm ich einen Zeigefinger und legte das Haar vorsichtig hinter ihr Ohr. Vielleicht hatte ich mit dem Zurückziehen meiner Hand etwas zu sehr gezögert, denn sie schaute mich mit einem Blick an, als wenn sie zu ergründen versuchte, wie sehr ich diese vorsichtige Annäherung genießen würde. Ich weiß nicht, wieweit sie mir das ansehen konnte, aber ich genoß es wirklich sehr. Ihr Gesicht formte ein liebliches Lächeln, das imstande gewesen wäre, ganze Gletscher zu schmelzen.
„Soll ich das Strähnchen abschneiden?“ fragte ich, um meine Verlegenheit zu überspielen. Statt einer Antwort streckte sie mir die Zunge heraus, worauf wir beide grinsen mußten.
Und schon wieder fiel die unzähmbare Haarsträhne an ihren Ausgangsort zurück.
Erneut half ich ihr und steckte die Haare zurück. Inzwischen schien sie aber mit diesem Service fest zu rechnen, denn anstatt die Hände auch nur ansatzweise zu ihrem Gesicht zu bewegen, schaute sie mich nur auffordernd an und reckte ihr süßes Antlitz erwartungsvoll in meine Richtung. Lange hielt das Ergebnis meiner Bemühungen jedoch nicht, und wieder wurde ihre Sicht behindert.
„Eigentlich passen Deine Haare so richtig zu Deinem Charakter. Sie sind genauso frech wie Du selber.“ Dabei zwinkerte ich Ihr fröhlich zu.
„Ich bin doch nie frech.“ Das „nie“ zog sie dabei provozierend in die Länge. „Na ja, zumindest fast nie.“
„Natürlich nicht. Nur manchmal.“
„Aber wirklich nur wenn es mir Spaß macht.“
„Und wann macht es Dir Spaß?“ bohrte ich weiter.
„Kommt vielleicht drauf an, ob ich gerade mit jemandem spreche, der mir sympathisch ist. Dann bin ich vorzugsweise so frech wie meine Haare.“
„Ist das jetzt ein gutes oder ein schlechtes Zeichen?“
Ich wurde jetzt doch etwas unsicher, zumal sie zunächst nicht antwortete. Doch dann sagte sie: „Du siehst süß aus, wenn Du verlegen bist.“ Das kam jetzt unerwartet. Ich mußte schlucken. Bevor ich aber etwas entgegnen konnte, fielen Michaela bereits erneut die Haare vor ihre Augen und wir beide brachen in ein Lachen aus.
„Vielleicht sollte ich sie festkleben“, schlug ich mit einem Schmunzeln vor.
„Ich mag aber keine angeklebten Haare.“
„Dann vielleicht festhalten? Aber dann bekomme ich sicher auf Dauer einen steifen Arm.“
„Solange es nur der Arm ist…“ Sie schaffte es immer wieder, mich in Verlegenheit zu bringen.
Also nahm ich etwas zaghaft die Strähne und steckte sie erneut hinter ihr Ohr, behielt meine Hand aber diesmal dort und streichelte ihr ganz vorsichtig über die Außenlinie ihres Ohres. Michaela legte ihren Kopf sanft gegen meine Hand. Während Ihr Kopf so auf meiner Handfläche ruhte, kraulte ich mit meinen Fingern vorsichtig ihren Nacken. Michaela schnurrte leise dazu. Unsere Augen hatten sich ineinander verfangen. Es war ein Moment, in dem wir beide gefangen waren. Für diese Zeitspanne gab es für uns kein Hier und Jetzt mehr. Die Wiese, das Flugzeug, alles um uns herum war einfach nicht mehr existent. Sie hatte ihren Kopf auf meiner Hand ruhen und genoß sichtlich meine Streicheleinheiten.
Wir schauten uns immer tiefer in die Augen. Jedes Wort, das diese wohltuend knisternde Stille durchbrochen hätte, wäre schlichtweg störend gewesen. Ich weiß nicht wie, aber trotz unserer Starre schienen wir uns schier unendlich langsam einander zu nähern. Wir hatten nicht das Gefühl, als würden wir uns bewegen. Wir lagen einfach nur da und sahen uns in die Augen während die Zeit für uns an Bedeutung verlor. Irgendwann war Ihr Gesicht nur noch wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich konnte Ihren Atem spüren. Ich konnte ihre Wärme fühlen. Immer näher kamen meine Lippen ihrem Mund. Wir waren nur noch gefangen im Erleben unserer Nähe, die alles andere aus der Welt des Empfindbaren drängte. Es war nicht einmal zu spüren, wann genau sich unsere Lippen letztendlich berührten. Waren sie schon seit Stunden zusammengewachsen oder noch einen Hauch voneinander entfernt. Es war einfach dieses unbegreifliche Gefühl von absoluter Nähe und das Hineinfallen in die Tiefe ihres liebevollen Blickes. Das Gefühl, wie eine tosende Brandung aufgewühlt zu sein, und zugleich geborgen und seinen Ruhepunkt gefunden zu haben. War es ursprünglich nur eine zarte Berührung ihrer Oberlippe auf meiner, die dem Hauch ihres Atems glich, so waren unsere Lippen inzwischen vollends verschmolzen. Auch wenn es nur ein Kuß unserer Lippen war, waren wir in diesem Moment untrennbar verbunden und wir lebten in diesem Moment von der Energie des jeweils anderen, die sich gleich einem elektrischen Stromfluß in diesem Kontakt übertrug.
Wie selbstverständlich neigte ich meinen Kopf etwas zur Seite, drängte meinerseits noch ein wenig in ihre Richtung, um ihren zarten, sinnlichen Mund noch intensiver spüren zu können. Jetzt stand für uns die Welt tatsächlich still.
Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis wir aus dem Cockpit das Klingeln des Handys wahrnahmen, welches uns die baldige Ankunft der Rückholermannschaft ankündigte.