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Attraktor
Attraktor
Mir ist nun klar, dass es eine Falle war und wir voll hineingetappt sind. Vom Effekt der feindlichen Schockwelle habe ich mich vorhin erst wieder erholt. Nachdem ich also wieder wach war, habe ich die Systeme und die Position meines Jägers geprüft und einige Dinge festgestellt. Ich lebe noch und ich bin allein. Mein Schiff ist beschädigt, verliert aber immerhin keine Atmosphäre; der Antrieb hat es hinter sich aber das Notsignal funktioniert. Das Hauptproblem ist dummerweise ein ganz anderes. Auf meiner Sternenkarte ist dieser Bereich lediglich rot eingefärbt und mit ‚Singularität Beta Sieben’ bezeichnet, dieser belanglose Name wird aber nicht im entferntesten dem schwarzen, lichtverzerrenden Moloch da draußen gerecht, dessen Gravitationssog ich mittlerweile selbst mit einem funktionsfähigen Antrieb nicht mehr aus eigener Kraft entkommen könnte.
Mein erster Blick auf die Geschwindigkeitsanzeige bestätigt meine Befürchtungen. Meine Bewusstlosigkeit muss länger gedauert haben als ich zunächst dachte, denn der Sog hatte mich bereits weit in den kritischen Bereich gebracht. Selbst im normalen Raum würde ich von diesem Tempo nicht mehr aus eigener Kraft abbremsen können, was Beta Sieben nicht davon abhielt, mich weiter mit irrwitzigem Sog zu beschleunigen. Ich überlege, ob ich das Notsignal abschalten sollte, um Energie zu sparen. Selbst wenn es jemand empfangen sollte, was ich zu bezweifeln beginne, wäre ohnehin kein Schiff in der Lage, mich noch einzuholen. Während ich die behandschuhte Hand ausstrecke, um es zu deaktivieren, verabschiedet sich meine Geschwindigkeitsanzeige mit einem freundlichen ‚Error’. Ich betrachte sie mit mitfühlendem Verständnis.
Während ich eine seltsame Euphorie empfinde, analysiere ich ruhig meine Lage und finde nur zwei Optionen. Ich kann Selbstmord begehen und das Unausweichliche beschleunigen oder abwarten und auf die winzige Chance hoffen, am schwarzen Loch vorbeigeschleudert und doch noch gerettet zu werden. Ich beschließe, die Show zu genießen. Es handelt sich immerhin um eine einmalige Erfahrung. Ich muss schmunzeln als ich daran denke, dass ich später das Notsignal wieder einschalten muss. Wie sinnlos wäre es, wenn ich den Flug überleben und wegen dieser Kleinigkeit doch noch draufgehen würde.
Während ich die irrationale Heiterkeit abzuschütteln versuche, bemerke ich, dass Bewegung in die umgebenden Sterne gekommen ist. Verblüfft frage ich mich, ob mein Jäger in Rotation geraten ist, aber nein, die gefräßige Schwärze von Beta Sieben ist noch immer an der gleichen Stelle wie vorhin. Ich überlege, was gerade passiert und beobachte, wie die Bewegung der Sterne zusehends schneller wird obwohl ich noch immer nichts außer freiem Fall fühle. Plötzlich begreife ich. Ich falle nicht direkt auf Beta zu, sondern befinde mich auf einer Spiralbahn Richtung Zentrum. Meine Front bleibt auf Beta gerichtet, also scheinen die Sterne sich um mich zu drehen. Dennoch – warum kann ich diese Bewegung so deutlich wahrnehmen? Sollte eine Rotation auf der Spiralbahn nicht wenigstens ein paar Dutzend Stunden dauern?
Zeit! Mir fallen plötzlich die irrsinnigen Theorien ein, dass für Objekte in starken Schwerkraftfeldern die Zeit langsamer vergeht als außerhalb. Moment, das bedeutet, dass die Stunden, die eine Rotation vom normalen Raum aus betrachtet braucht, mir erheblich kürzer vorkommen! Ich blicke auf die Sterne, die in immer schnellerem Gleiten um mich ziehen und deren Licht nicht mehr weiß sondern bläulich leuchtet, als in mir die Frage aufkommt, wie lange ich mich eigentlich schon hier befinde und wie viel Zeit im restlichen Universum bereits vergangen ist. Vermutlich wurde ich gar nicht mehr gesucht. Eigentlich sollte ich mir sogar bald die Frage stellen, ob mich noch irgendjemand erkennen würde, wenn ich Beta doch noch entkommen sollte. Langsam spüre ich Verzweiflung in mir aufkommen und bleibe doch gefasst.
Überhaupt fühle ich mich seltsam frei und gelöst, wie unter Drogen löst sich mein Denken nach und nach von meinem Körper, der von gelegentlichem Zittern geschüttelt hinter meinem freien Geist zurückbleibt. Ich sehe klar und analysiere emotionslos das voraussichtliche weitere Geschehen. Schwerkraft nimmt bei Annäherung an ihre Quelle exponentiell zu, also wird die Differenz der Kräfte, die auf mein Schiff wirken, irgendwann dazu führen, dass es von der Spitze ausgehend deformiert und zerrissen werden wird. Mein Druckanzug wird mich vor der Dekompression schützen, doch wie wird es mir danach ergehen? Meine Extremitäten sind schließlich nach vorne zu den jetzt nutzlosen Kontrollen gestreckt, ich werde also meine Hände und Füße zuerst verlieren. Wird der Schmerz noch genügend Zeit haben, bei meinem Gehirn anzukommen, bevor auch dieses vom Gegenspiel von Beschleunigung und Masseträgheit zerrissen werden wird? Fasziniert und gespannt sehe ich der Zukunft entgegen, die eine klare Antwort auf diese Frage bereithält, als ich bemerke, dass jemand unpassenderweise herumschreit. Das störende Geräusch nimmt an Intensität zu und ich beginne mich über die Person zu ärgern, die ihren animalischen Urinstinkten diesen unerhörten Grad an Freiheit zugesteht und mein Denken behindert. Dann jedoch stelle ich fest, dass ich selber es bin, der seine Panik über Funk ins teilnahmslose Universum hinausbrüllt.
Irritiert nehme ich mein physikalisches Selbst wahr und wundere mich aufgrund der totalen Sinnlosigkeit von dessen Aktivität, denn wer sollte mich schon senden hören? Vor mir lag Beta und demonstrierte seine Schwärze indem es alle Signale schluckte die auch nur grob in seine Richtung ausgingen, und auch die in Gegenrichtung gesendeten Laute würden von Schwerkraft und Geschwindigkeit so verzerrt sein, dass man sie selbst dann kaum deuten könnte, wenn man genau wüsste, wonach man sucht. Höchstens ein Zuhörer, der neben mir fliegend mein Schicksal teilte, wäre in der Lage, mein Gebrüll wahrzunehmen, wobei ich doch bezweifle, dass dessen nur geringer Unterhaltungswert ausreichend wäre, ein längeres Interesse bei diesem zu wecken. Davon abgesehen habe ich vor dem Ausfall meiner für diese Nähe zu Beta zu empfindsamen Messinstrumente nichts in meiner weiteren Umgebung gefunden, dass auf eine künstliche Struktur, geschweige denn ein bemanntes Raumfahrzeug hingewiesen hätte.
Ich muss zugeben, dass ich in diesem Moment eine gewisse Verachtung für meine sterbliche Hülle empfinde, die da so würdelos vor sich hin krakeelt, doch was ist das? In das statische Rauschen, das seit meinem Erwachen aus dem Empfänger klingt, hat sich etwas neues eingeschlichen, das ich nach intensiverem Lauschen ebenfalls als menschliches Panikgeräusch identifiziere. Überrascht frage ich mich, ob ich etwa mein eigenes Signal empfange, doch ich verwerfe diesen Gedanken rasch. Einerseits würde dies physikalisch keinen Sinn ergeben und andererseits stelle ich fest, dass es sich bei der empfangenen Stimme deutlich um eine andere als meine eigene handelt. Und nicht nur das, es mischen sich jetzt noch weitere Stimmen dazu, die parallel zu der ersten empfangen werden.
Von dem nun stets zunehmenden Kreischen, Jaulen, Heulen und Pfeifen das aus dem Lautsprecher dringt völlig verblüfft ziehe ich mich tiefer in meine mentale Ebene zurück, um einen klaren Gedanken fassen zu können. Es ist durchaus anzunehmen, dass ich nicht der einzige bin, der in Betas Sog geraten ist, doch wären andere Piloten räumlich und zeitlich weit von mir entfernt – und da ist sie wieder, die Zeit, für die doch hier andere Gesetze gelten. Schlagartig wird mir klar, was gerade geschieht. Je stärker man von Beta beschleunigt wird, desto mehr wird das Gefüge der Zeit zusammengepresst, genau wie der Blasebalg einer Ziehharmonika. Zeitlich weit versetzte Ereignisse nähern sich dabei einander an wie die Falten des Blasebalgs beim Zusammenschieben des Instruments. Ich mache mir diese unerhörte Annahme anhand eines anderen Beispiels klar. Auf einer Straße sind Fahrzeuge unterwegs, die alle mit der selben Geschwindigkeit fahren müssen. Das ist der normale Raum. Dann aber kommt das Hinweisschild ‚Hier beginnt Beta Sieben’ und alle sind gezwungen, ihren Wagen ausrollen zu lassen. Die Fahrzeuge können vorher noch so weit voneinander entfernt gewesen sein, sie brauchen die gleiche Strecke zum Ausrollen und deswegen wird es über kurz oder lang Blechschaden geben.
Die Stimmen nehmen immer mehr zu, es sind grauenhafte Klänge, von Hunderten Wesen gleichzeitig in Todesangst ausgestoßen. Wie viele Kriege und Unfälle hat Beta schon gesehen? Wie viele arme Seelen sind schon in seinen unerbittlichen Sog geraten?
Während sich mein Körper unter der Belastung der an ihm zerrenden Kräfte und der irrsinnigen Lautstärke windet, wird mir mit der Deutlichkeit eines hinweggenommenen Vorhangs klar, was die Kakophonie bedeutet, die mir vielstimmig entgegenbrandet.
„Willkommen“, schreien sie, „willkommen, Bruder, willkommen in der rasenden Ewigkeit, die doch nur Sekunden dauert!“
Während im ewigen Reigen der um mich Streifen ziehenden Sterne Zivilisationen erblühen und vergehen und ich mich frage, ob es da draußen eigentlich noch etwas gibt, das je von meinem Krieg oder der Menschheit an sich gehört hat, werde ich weiter und weiter beschleunigt. Fallend rase ich mit meinen Leidensgenossen auf Beta zu, vom Universum schon vor Unzeiten vergessen, hin zum Zentrum der unermesslichen Schwere.
Bald bin ich da.