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Atoxizylin
„Resnick, verdammt, beeil dich!“ Takeshi zerrte den Schweißbrenner zum Schott. Im Gang hinter sich hörte er ein Poltern. Hektisch sah er über seine Schulter. Benett und Gaultier schleppten irgendwas Schweres zum Bau der Barrikade ran.
Endlich tauchte Resnick am anderen Ende des Korridors auf. Über seiner Schulter hing eine große Kühltasche. Er wuchtete sie über die Schwelle des Schotts und kletterte hinterher. Takeshi drückte ihn grob zur Seite und knallte die Luke zu. Dann schaltete er den Brenner ein. Er achtete nicht mehr auf Resnick, der keuchend auf dem Boden kauerte und nervös zusah, wie die Luke mit dem Rahmen verschmolz. Nach einigen Minuten war die Arbeit beendet.
Takeshi ließ den Brenner sinken und lehnte sich erschöpft an die Wand neben dem Stahlschott. Das Metall knackte, als es sich abkühlte. In der abgestandenen, feuchtwarmen Luft hing ein stechender Ozongeruch.
Es dauerte eine Weile, bevor Takeshi genug Kraft gesammelt hatte, um sich wieder aufzurichten. Er zog die Schutzbrille von seinem Gesicht und wischte sich die Haaresträhnen aus der verschwitzten Stirn. Das Quietschen im Gang war näher gekommen. Benett und Gaultier schoben einen schweren Metallschrank vor sich her. Takeshi half ihnen, den Schrank vor das versiegelte Schott zu bugsieren und dort zu verkeilen.
Benett liess knackend ihre Arme in den Schultergelenken kreisen. Dann sah sie zu Resnick herüber, der gerade einen tiefen Schluck aus einer Feldflasche nahm.
„Was hat denn da so verdammt lange gedauert?“
Resnick nickte mit dem Kopf zur Kühltasche.
„Atoxizylin. Das ist immerhin der gesamte Vorrat.“
Gaultier trat näher und sah Resnick misstrauisch an. Seine Hand ruhte auf einer Pistole.
„Ach, und der ist komplett in der Tasche da? Du hast nicht zufällig vorher noch eine kleine Extraportion beiseite geschafft, nur für dich?“ Gaultiers französischer Akzent hatte immer kultiviert und charmant geklungen. Jetzt hörte er sich mit seiner rauen, vor Müdigkeit heiseren Stimme an wie ein leise fauchendes Raubtier.
Auch Benett blickte argwöhnisch zu Resnick herüber. An ihrem Gürtel hing ein kompaktes Metallrohr, an dem sie Schrauben, Nägel und die abgebrochene Klinge einer Feueraxt befestigt hatte.
„Gute Frage, Lucien. Eine wirklich gute Frage.“
Resnick starrte beide kalt an. Seine Hand tätschelte einen Revolver.
„Warum findet ihr’s nicht raus? Na los, durchsucht mich doch.“
Gaultier knurrte drohend und ging einen Schritt auf ihn zu. Auch Benett kam lauernd näher.
Ein Klappern ließ sie zusammenzucken. Takeshi hatte mit dem Fuß heftig auf den Boden getreten. Dann zündete er sich eine zerknautschte Zigarette an. Er lehnte an der Wand und stützte sich mit einem Bein ab. Auf dem Knie balancierte er eine Schrotflinte, die er grob in ihre Richtung hielt.
„Könnt ihr Idioten mal wieder runterfahren? Wir haben keine Zeit für diesen Scheiß.“
Er schnippte etwas Asche in Richtung des blockierten Schotts.
„Ich wette, die sind schon auf der anderen Seite und überlegen, wie sie das verdammte Ding aufkriegen. Uns bleibt vielleicht eine Stunde. Oder weniger. Also hört auf!“
Resnick spuckte Gaultier verächtlich vor die Füße.
„Ich hab mit dem Mist nicht angefangen, sondern der verdammte Froschfresser.“
„Wen nennst du dreckiger Polacke hier Froschfresser?“ Die Venen an Gaultiers Hals traten wulstig hervor.
Takeshi spürte, dass früher oder später der letzte kümmerliche Rest ihrer Selbstbeherrschung den Bach runter gehen würde. Er überlegte, wen er abknallen sollte, um den Streit zu beenden. Gaultier konnte gut schießen und hatte außerdem ein paar Flugstunden im Helikopter gehabt. Das machte aus ihm zwar keinen Piloten, konnte aber trotzdem nützlich sein, falls sie den Chopper nehmen müssten.
Resnick hingegen war in der Lage, die richtigen Dosierungen zu berechnen. Ohne ihn wäre jede Injektion eine Partie Russisch Roulette. Selbst wenn Takeshi die Dosis zuerst an Benett und Gaultier ausprobierte, hätte er nur zwei Fehlversuche.
Takeshi entschied, dass Resnick wertvoller war. Unauffällig drehte er die Flinte. Ein Ruck mit dem Zeigefinger und Gaultier würde einen Blick auf seine Eingeweide werfen können.
In diesem Moment knackte die Sprechanlage neben dem Schott. Alle vier zuckten zusammen und drehten sich zu dem kleinen grauen Kasten um.
„Kuragawa, hören Sie mich? Dr. Resnick? Captain Gaultier? Hier spricht Schollerbeck. Bitte antworten Sie mir.“
Resnick zog seine Pistole und zielte abwechselnd auf die Sprechanlage, das Schott und Gaultier. Er blinzelte nervös und leckte sich die rissigen, blutverkrusteten Lippen.
„Woher wissen die Schweine, wer von uns noch übrig ist? Verdammt noch mal, woher wissen die das?“ Sein Blick wanderte zu Gaultier. Argwöhnisch kniff er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
„Hast du mit ihnen geredet? Eine Nachricht hinterlassen?“
Gaultier hatte ebenfalls seine Waffe gezogen und richtete sie auf Resnick.
„Was quatschst du da!? Wie hätte ich das unbemerkt machen sollen? Du warst doch als einziger allein, als du angeblich das Atoxizylin geholt hast. Vielleicht bist du ja der kleine Kanarienvogel, der gesungen hat.“
Benett wiederum deutete mit ihrer Keule drohend auf Takeshi.
„Deinen Namen haben sie zuerst genannt. Als ob sie wussten, dass du hier am Schott stehst. Wieso waren die sich da so sicher? Und du bist erstaunlich ruhig, nicht wahr?“ Ihre Brust hob und senkte sich in hektischen Zügen. Dunkle Schweißflecken überzogen ihr dreckiges Shirt.
„Jetzt beruhigt euch. Herrgott! Das bringt nichts, wenn wir uns gegenseitig an die Gurgel gehen. Wir halten uns an den Plan. Der Kontrollraum ist noch zwei Decks entfernt. Aber wir müssen uns beeilen.“
Takeshi schulterte bewusst langsam seine Schrotflinte.
Resnick überlegte einen Moment und senkte dann die Pistole. Dabei ließ er die anderen jedoch nicht aus den Augen.
„Du hast recht. Also los. Benett, hilf mir mit der Kühltasche, das Mistding ist verdammt schwer. Gaultier, geh vor und sieh nach, ob die Luft rein ist.“
„Du hast mir hier überhaupt nichts zu sagen.“
„Jetzt reiß dich verdammt noch mal zusammen!“, herrschte Takeshi ihn an. Auch Benett stieß ein wütendes Grunzen aus.
Gaultier murrte widerwillig, aber setzte sich an die Spitze der Gruppe.
„Wir zwei sind noch nicht fertig miteinander, du mieser Kusoyura“, zischte er Takeshi zu.
„Das heißt Kuso-yarô, nicht „Kusoyura“. Wenn du mich schon in meiner Muttersprache beleidigen willst, dann so, dass ich dich auch verstehe, du Enculé.“
Benett und Resnick kicherten. Takeshi ignorierte Gaultiers mordlustigen Blick, den dieser ihm zuwarf.
Schollerbeck sah zur Sprechanlage. Dann drehte er sich zu dem großen, breitschultrigen Mann um, der dicht hinter ihm stand.
„Nichts. Ich hatte gehofft, sie wären zumindest noch ansatzweise zurechnungsfähig. Was machen wir jetzt, Rasmussen?“
Rasmussen strich nachdenklich über die Oberfläche des Schotts.
„Aufsprengen. Für alles andere haben wir keine Zeit. Ich vermute, sie wollen zum Kontrollraum. Weiß der Teufel, was sie dort anstellen werden, wenn wir sie nicht aufhalten. Scheiße, warum mussten sie auch ausgerechnet als erstes den Funkraum zerstören?“
Er wandte sich einem dritten Mann zu.
„Gallardo, nehmen Sie den Plastiksprengstoff. Zehn Sekunden Verzögerung und dann sofort zurück hinter die Biegung.“
Während die beiden anderen Deckung suchten, platzierte Gallardo eine kompakte Sprengladung am Rahmen der Luke.
Rasmussen überprüfte seine Maschinenpistole und blickte dann zu Schollerbeck.
„Wie lange noch, bevor ...?“
Schollerbeck seufzte, während er gedankenverloren zu Boden schaute. Die Müdigkeit hatte tiefe, dunkle Augenringe in sein Gesicht gegraben.
„Ich weiß nicht. Die Dauer ist offenbar unterschiedlich.“ Er lachte humorlos. „Eine weitere Nebenwirkung, die weder voraussehbar noch beabsichtigt war. Das Atoxizylin hätte den Effekt zumindest dämpfen müssen, anstatt ihn zu verstärken.“
Rasmussens Augen funkelten aggressiv. Mit einem Klicken lud er die MP durch.
„Spielt keine Rolle. Uns bleibt keine Wahl. Um Hilfe rufen können wir nicht, weil sie den Funkraum zerstört haben. Die Rettungsmannschaft kommt frühestens in zwei Tagen. Wir müssen sie töten.“
Die Explosion ließ die Wände und den Gitterboden vibrieren. Eine Sekunde später plärrte eine Sirene los und rote Warnlichter begannen zu blinken. Zischender Dampf, der aus geborstenen Rohren entwich, verteilte sich träge im Gang.
„Verdammt, das ging schneller, als ich dachte.“ Takeshi duckte sich in einen Türrahmen und spähte in den düsteren Korridor, der hinter ihnen lag. Wände und Nischen wurden abwechselnd in rote Schemen und dunkle Schatten getaucht.
Am Ende des Gangs tauchte ein verzerrter Schatten auf.
„Sie kommen!“ Gaultier ließ sich auf ein Knie nieder und umschloss mit beiden Händen den Griff seiner Pistole. Er kniff ein Auge zu und atmete langsam aus.
Der Knall der beiden Pistolenschüsse dröhnte in Takeshis Ohren. Mit grellen Blitzen schoss das Mündungsfeuer aus dem Lauf der Pistole. Die Messinghülsen flogen klappernd auf den Boden.
„Na los, ihr Bastarde! Ich warte!“ Gaultier schoss erneut zweimal. Jaulend prallte eine Kugel irgendwo ab und pfiff als Querschläger in die Decke.
Einen Moment war außer der Sirene nichts zu hören.
Dann brüllte der Feuerstoß einer MP den Korridor hinab. Kugeln zischten an Takeshi vorbei. Funken und Splitter regneten von den Wänden und der Decke auf sie herab. Der Gestank von Schwarzpulver biss in Takeshis Nase.
Jemand rannte den Gang entlang und warf sich hinter eine Stützstrebe in Deckung. Takeshi hob seine Schrotflinte und drückte ab. Die Flinte donnerte im Vergleich zu Gaultiers Pistole wie eine Kanone. Er schoss dreimal. Die roten Schrothülsen flogen in weitem Bogen davon. Am Ende des Flurs bellte die Maschinenpistole eine Antwort.
„Resnick, Benett, zu uns rüber. Gaultier und ich geben Deckung.“
Resnick sprang auf die Füße und feuerte mit seinem Revolver. Dann drehte er sich um und hetzte den Korridor entlang. Benett drückte sich ebenfalls vom Boden hoch und wollte loslaufen. In diesem Moment wurde sie mit einem brutalen Ruck nach vorne geworfen. Die Vorderseite ihrer Brust färbte sich blutig. Noch bevor sie wieder zu Boden fiel, wurde sie ein zweites Mal getroffen. Ihre Arme baumelten kraftlos herab, als sie auf die Knie sank. In ihren Augen spiegelten sich Überraschung und Verwirrung. Ein dritter roter Fleck erschien auf ihrem Bauch. Dann stürzte sie um, zuckte noch einmal und lag still.
„Ihr verdammten Schweine!“ Takeshi hob seine Flinte und ballerte das Magazin leer. Gaultier stieß einfach nur ein animalisches Brüllen aus, während er eine Kugel nach der nächsten abfeuerte. Resnick lud inzwischen seinen Revolver nach. Dann hängte er sich die unhandliche Kühltasche über die Schulter.
„Los! Wir verschanzen uns im Freizeitraum!“
Die drei Männer sprangen auf und rannten zu einem Raum am Ende des Ganges. Takeshi schlug die Tür ins Schloss und Gaultier und Resnick kippten ein Metallregal davor. Bücher und Zeitschriften flatterten wie aufgeschreckte Vögel durcheinander. Takeshi warf einen Bürostuhl auf die improvisierte Barrikade. Keuchend überprüften sie ihre Waffen.
„Scheiße, nur noch ein Magazin“, fluchte Gaultier und trat laut scheppernd einen Mülleimer beiseite.
„Ich hab noch vier Patronen“, sagte Takeshi.
„Bei mir sind’s fünf.“ Resnick wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Ein dünner Blutfaden lief aus einem Schnitt auf seiner Wange sein Gesicht hinab.
„Die Schweine haben Benett erwischt. Dafür lasse ich sie bluten!“ Gaultiers Gesicht verzog sich zu einer hassverzerrten Fratze.
„Wie viele von denen sind noch übrig?“ Resnick blickte zur Tür.
Takeshi schloss einen Moment die Augen und ging im Geist die Mannschaftsliste durch.
„Auf jeden Fall Schollerbeck und Rasmussen. Gallardo und Rashiid wahrscheinlich auch. Vielleicht noch Eklund, aber da bin ich mir nicht sicher. Ich glaube, ich hab ihn ziemlich ordentlich an der Brust getroffen.“
Gaultier schüttelte den Kopf.
„Rashiid kannst du auf alle Fälle schon mal abhaken. Den hab ich ganz sicher erwischt.“
Resnick fuhr sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn.
„Dann wären es im besten Fall noch drei. So wie wir.“
Gaultier blickte sich im Aufenthaltsraum um. Hinter einem Tresen befand sich eine Glasvitrine, die mit Süßigkeiten, Zigarettenschachteln und anderen Marketenderwaren gefüllt war. Er ging auf die Vitrine zu und zertrümmerte mit einem Schlag seiner Pistole das Glas. Dann langte er hinein und fischte eine Handvoll Schokoriegel heraus. Mit den Zähnen riss er die Verpackungen auf und schlang den Inhalt wie ein heißhungriges Tier runter. Brauner Schokoladenspeichel lief ihm an beiden Mundwinkeln hinab, als er sich einen Riegel nach dem nächsten in den Mund stopfte und beinahe unzerkaut runterwürgte. Dann öffnete er eine Softdrinkflasche und leerte sie in einem Zug. Zufrieden rülpste er laut und zündete sich eine Zigarette an.
„Wir haben zwei Möglichkeiten. Wir warten, bis die Scheißkerle zu uns kommen, oder wir gehen raus und schnappen sie zuerst.“
Resnick hatte sich ebenfalls etwas zu trinken genommen. Er nippte langsam an seinem Getränk, während er nachdenklich auf die Tür starrte.
„Zum Kontrollraum kommen wir jedenfalls nicht durch, es sei denn, wir kämpfen uns den Weg frei. Vielleicht sollten wir etwas anderes probieren.“
Takeshi lud derweil seine Schrotflinte nach. Eine Zigarette hing aus seinem Mundwinkel.
„Und was?“
„Einen Tausch. Wir sitzen hier drin zwar in der Falle, aber haben das Atoxizylin. Einen Teil davon gegen freien Abzug. Entweder zum Kontrollraum oder zum Hangar. Dort könnten wir den Chopper nehmen.“
Gaultier schnaubte verächtlich.
„Was für ein Schwachsinnsplan! Meinst du wirklich, die lassen uns einfach so davonspazieren? Der einzige Grund, warum diese verdammten Schweine uns noch keine Handgranate untergejubelt haben, ist der, dass sie das Atoxizylin genauso dringend brauchen wie wir. Das ist unser Vorteil. Wir schlagen ihnen einen Tausch vor. Und wenn sie sich zeigen, pusten wir sie weg!“
„Ach, und du glaubst tatsächlich, dass sie sich darauf einlassen? Die stellen sich ja auch ganz bestimmt offen und ohne Deckung mitten in den Gang und warten nur darauf, dass wir sie abknallen. Super, du Genie, wirklich super!“
„Vielleicht knall ich einfach nur dich ab, dann muss ich mir nicht mehr dein blödes ...“
Es klopfte an die Tür des Freizeitraums.
„Wie schlimm ist es?“ Rasmussen drückte mit blutverschmierter Hand fest auf Gallardos Schulter.
Schollerbeck wühlte in einem Verbandskoffer und holte eine Spritze heraus.
„Soweit ich das beurteilen kann, ist die Verletzung nicht lebensbedrohlich. Aber er hat einen Schock und ich glaube, dass Schlüsselbein ist gebrochen. Ich gebe ihm Morphium und lege eine Infusion. Wir müssen die Wunde verbinden und ihn warm halten. Mehr können wir im Augenblick nicht tun.“
Gallardos Stirn war schweißnass und kalt, während er teilnahmslos zusah, wie Schollerbeck seine Schulter verband. Rasmussen wickelte ihn in eine goldene Rettungsdecke und polsterte seinen Kopf mit den zerfetzten Resten seines blutigen Hemds. Dann drückte er ihm eine Wasserflasche in die Hand.
„Halt durch. Wir kümmern uns um die Schweine. Das verspreche ich dir.“
Rasmussen legte ein neues Magazin in seine Maschinenpistole.
„Ich habe noch 30 Schuss. Wie sieht’s bei Ihnen aus?“
Schollerbeck betrachtete seine Pistole, als sei sie ein giftiges Insekt.
„Woher soll ich das wissen? Ich weiß ja noch nicht einmal, wie man dieses verdammte Ding nachlädt.“
Rasmussen schnaubte ungeduldig und nahm ihm die Waffe grob aus der Hand. Er überprüfte das Magazin.
„Meine Fresse, die ist ja noch fast voll. Haben Sie überhaupt damit geschossen?“
„Ich bin Wissenschaftler, kein Revolverheld.“
„Na klar, erzählen Sie dass doch mal Rashiid Nampoor oder Sven Eklund. Das waren Freunde von mir.“
„Ich weiß und es tut mir entsetzlich leid um sie. Und Heather Benett war eine Freundin von mir. Das muss aufhören, Leif. Wir müssen miteinander reden, nicht kämpfen.“
„Tja, Doktorchen, Pech nur, dass ihre Kumpels da drüber wohl auch lieber kämpfen als reden. Und den Wunsch werde ich ihnen umgehend erfüllen. Mit oder ohne Ihre Hilfe.“
Schollerbeck stand schnell auf und legte Rasmussen eine Hand auf die Schulter.
„Überlegen Sie selbst. Die sind zu dritt und wir nur zu zweit. Gaultier und Kuragawa sind ausgebildete Soldaten und Dr. Resnick kann offensichtlich auch ganz gut mit einer Waffe umgehen. Ich hingegen bin kein guter Kämpfer und Sie haben nur noch ein Magazin. Denken Sie doch mal taktisch, wenn schon nicht vernünftig.“ Rasmussen starrte ihn kalt an. Jedoch machte er keine Anstalten, sich dem Freizeitraum zu nähern. Schollerbeck wertete das als gutes Zeichen.
„Wenn ich mit ihnen reden kann, dann können wir vielleicht eine Lösung finden. Und wenn nicht, haben Sie so oder so nichts verloren. Lassen Sie es mich wenigstens versuchen, bevor Sie mit wehenden Fahnen zum Sturmangriff blasen.“
Rasmussen dachte nach. Unschlüssig kaute er auf seiner Lippe, während er abschätzend die Maschinenpistole in seiner Hand wog. Dann sah er Schollerbeck an und nickt knapp.
Gaultier zielte auf die Tür. Takeshi konnte sehen, wie sich sein Abzugsfinger immer mehr krümmte.
„Warte, Gaultier“, flüsterte er ihm zu. „Keine Munition verschwenden. Außerdem will ich hören, was die zu sagen haben.“
Gaultier zögerte einen Moment, aber dann entspannte sich sein Finger. Ein wenig.
„Was wollt ihr?“ Takeshi hörte, wie sich draußen jemand räusperte.
„Nicht schießen, ich will nur mit Ihnen reden. Ich bin’s – Schollerbeck.“
„Wir wissen, wer da spricht, Schollerbeck“, fauchte Gaultier. „Mit uns reden also. Genauso wie mit Benett?“
„Das alles ist eine ganz furchtbare Tragödie, an der jedoch keiner von uns die Schuld trägt. Bitte, ich bitte Sie alle, nehmen Sie Vernunft an. Vor zwei Tagen haben wir noch zusammen gegessen, gearbeitet und ...“
„Ja genau, du Schwein!“, unterbrach ihn Gaultier höhnisch. „Das war, bevor wir gemerkt haben, dass du ein dreckiger Spion bist, der uns umbringen und die Station in die Luft jagen will. Zusammen mit diesem Hurensohn Rasmussen und den anderen Verrätern.“
„Um Himmels Willen, wir sind keine Spione. Das bilden Sie sich nur ein. Bitte, hören Sie mir nur einen Moment zu. Das Gas, das wir zur Aufruhrbekämpfung entwickeln sollten, hat eine völlig andere Wirkung entfaltet. Es stimuliert das Angstzentrum in der Amygdala nicht in dem Maße, dass es die Zielpersonen lähmt und handlungsunfähig macht. Im Gegenteil, es löst Aggressionen und paranoide Wahnvorstellungen aus. Sie alle unterliegen der Wirkung des Gases. Dr. Resnick, gerade Sie müssen das doch begreifen. Sie haben das Gas mitentwickelt.“
Gaultier lachte spöttisch auf.
„Ach, tatsächlich? Wir sind also alle paranoid, wie? Das war dann wohl auch der Grund, eine harmlose Laborassistentin wie eine tollwütige Scheißhausratte einfach so abzuknallen.“
„Das war ein bedauerlicher Unfall, das müssen Sie mir glauben. Heather war eine gute Freundin von mir. Wir haben uns über sechs Jahre lang gekannt. Wir wollten niemanden töten. Und Sie auch nicht, das weiß ich! Sie leiden unter dem Gas, das ist alles.“
Takeshi sah kurz zu Gaultier und Resnick. Dann drehte er sich zur Tür.
„Angenommen, Sie sagen die Wahrheit. Wieso sollen dann Dr. Resnick und ich auch unter den Wirkungen des Gases leiden? Es wurde doch nur an Captain Gaultier und Sergeant Eklund getestet.“
„Es gab eine Fehlfunktion im Filtersystem. Das Gas wurde nicht in den Heißluftofen geleitet, sondern ist in die Ventilation der Station gelangt. Deshalb sind wir alle damit in Kontakt gekommen.“
„Das ist doch alles Bullshit!“ Gaultier sah aus, als würde er jeden Moment losballern. „Wenn wir alle angeblich diesen Dreck eingeatmet haben, wieso sind Sie dann nicht 'paranoid' geworden? Sie werden mir doch sicher gleich erzählen, dass Sie völlig normal sind, stimmt’s?“ Gaultier stierte mit blutunterlaufenen Augen zur Tür. Er fletschte die Zähne wie ein Wolf. „Ich wette, du bist auch völlig normal, Rasmussen, nicht wahr? Du hörst mich doch, oder? Wo ist denn jetzt deine große Fresse? Hast du dich mutig hinter Schollerbecks Rücken versteckt und hörst nur zu, während wir diesen Haufen Scheiße hier aufgetischt bekommen?“
Hinter der Tür war ein Knurren zu hören. Im nächsten Moment murmelte Schollerbeck etwas Unverständliches. Offenbar sprach er mit jemandem, der sich bei ihm befand. Einen Augenblick später hörten sie Schollerbeck wieder laut und deutlich.
„Wir alle haben das Gas eingeatmet. Das leugne ich ja gar nicht. Und das war auch der Grund, warum es überhaupt erst zu dieser furchtbaren Situation gekommen ist. Wir alle erhielten einen akuten paranoiden Schub und haben deshalb angefangen, aufeinander zu schießen. Aber im Gegensatz zu Ihnen haben wir uns von der Wirkung wieder erholt. Warten Sie – lassen Sie mich erklären, warum das bei uns so ist und nicht bei Ihnen. Das liegt an dem Atoxizylin, das Sie alle seit dem Unfall einnehmen. Bitte denken Sie nur einen Moment kurz nach. Sie glauben, das Atoxizylin schützt Sie vor den Auswirkungen des Gases, nicht wahr? Dr. Resnick hat es Ihnen allen verabreicht und seit beinahe zwei Tagen nehmen Sie es ununterbrochen. Ich habe doch recht, oder? Oder?“
Takeshi und Resnick sahen sich an. Zweifel spiegelten sich auf ihren Gesichtern. Sogar Gaultier schien nachzudenken. Er leckte sich wieder und wieder über die Lippen, während seine Augen gehetzt hin- und herzuckten.
„Bitte, meine Herren, Sie müssen mir glauben. Das Atoxizylin ist ein äußerst starker Inhibitor. Es sollte die Wirkung des Gases dämpfen. Ein Gegenmittel, wenn Sie so wollen. Aber dadurch, dass das Gas eine völlig andere Wirkung entfaltet hat, wirkt auch der Hemmstoff im Atoxizylin vollkommen anders. Er erhält die Gaswirkung aufrecht und verstärkt diese sogar irgendwie. Und das geschieht so lange, bis Sie aufhören, es einzunehmen. Wahrscheinlich wirkt das Gas und auch das Atoxizylin auf einige von Ihnen stärker oder schwächer. Es ist durchaus möglich, dass die paranoiden Episoden unterschiedlich stark bei Ihnen ausgeprägt sind und phasenweise intensiver oder geringer werden. Verstehen Sie denn nicht? Sie haben klare, wache Momente, und im nächsten Augenblick bereits erleiden Sie einen neuen Paranoiaschub. Aber glauben Sie mir, so oder so müssen Sie alle aufhören, das Atoxizylin zu nehmen.“
Gaultier schüttelte den Kopf.
„Das hast du dir ja sehr fein zurechtgelegt. Wir sollen also einfach aufhören, uns das Atoxizylin reinzuballern? Ich werd dir sagen, was ich denke. Ich glaube, diese so genannte 'Filterfehlfunktion' war gar keine Fehlfunktion. Ihr wolltet das Gas unter echten Bedingungen testen. Scheißegal, ob ein paar Unschuldige dabei draufgehen, nicht wahr? Das Atoxizylin schützt tatsächlich vor der Gaswirkung. Deshalb seid ihr ja auch so hinter dem Zeug her. Ihr braucht es genauso wie wir. Und jetzt müsst ihr uns nur noch aus dem Weg räumen, und dann könnt ihr in aller Ruhe sämtliche Forschungsdaten stehlen, die Station in die Luft jagen und unbemerkt verschwinden. Niemand wird bemerken, dass ihr Schweine noch am Leben seid. Nicht, wenn die Rettungsmannschaft frühestens in drei Stunden da ist und alle Spuren bis dahin in dreitausend Metern Tiefe auf dem Grund des Ozeans liegen. Eine alte Ölbohrinsel ist schon ein prima Ort für so eine James-Bond-Nummer, nicht wahr? Aber dass ich die Funkanlage geplättet habe, damit habt ihr wohl nicht gerechnet, was?“
Schollerbeck seufzte resigniert.
„Hören Sie eigentlich, wie verrückt das klingt? Ihnen muss doch einleuchten, Captain Gaultier, dass das blanker Unsinn ist.“
„Weißt du was? Du hast ganz recht! Nein, ehrlich, ich glaub dir. Komm einfach mal hier rein, damit wir uns heulend in die Arme fallen können. Na, wie wär’s, Schollerbeck?“ Gaultier kicherte und verstellte dann seine Stimme zu einer Kinderimitation.
„Wir haben Schokolaaaade.“ Er raschelte mit einem Schokoriegel, dann warf er den Riegel plötzlich mit voller Wucht gegen die Tür und brach in Gelächter aus.
Die Kugel hämmerte wie ein Faustschlag in Gaultiers Brust und beendete abrupt sein Gelächter in einer Explosion aus Blut und Gewebefetzen, die an die Wand und Tür spritzten. Er wurde rückwärts gegen ein Regal geschleudert und riss es in einer Lawine aus Gesellschaftsspielen und Büchern um, die ihn unter sich begrub. Im Fallen feuerte er eine Kugel in die Decke.
Takeshis Ohren dröhnten und fingen eine Sekunde später an, in einem Tinnitus zu pfeifen. Sein Sichtfeld verengte sich und wurde grau. Für eine Sekunde glaubte er, er wäre auch getroffen worden. Die Welt begann sich um ihn zu drehen. Wie ein Karussell.
Der Adrenalinschub schwappte über ihm zusammen wie ein eiskalter Gebirgsbach. Schlagartig wurde Takeshis Blick wieder klar. Er ließ sich in einer Rolle zu Boden fallen, riss die Schrotflinte hoch und zielte auf die Tür. Sie war nach wie vor geschlossen.
Langsam drehte er sich zur Theke. Resnick stand dahinter und hielt den Revolver mit beiden Händen vor sich. Ein Rauchfaden kräuselte sich aus dem Lauf zur Decke.
„Ich hatte keine Wahl, Takeshi.“
„Warum?“
„Weil ich Schollerbeck zustimme. Wir stehen unter der Wirkung von diesem Scheißgas. Aber Gaultier hätte das niemals geglaubt. Du hast selbst gesehen, wie er sich aufgeführt hat. Der Typ war eine Zeitbombe. Egal was wir getan oder gemacht hätten, es wäre immer auf ein Blutbad hinausgelaufen, solange er am Leben war. Schollerbeck? Rasmussen? Er hätte doch sofort auf sie geschossen.“ Resnick seufzte und legte den Revolver auf die Theke.
„Ich ... nein ... wir alle hatten einfach keine Wahl. Und weißt du, was das Komische an der Sache ist, Takeshi? Es tut mir noch nicht mal besonders leid.“
Takeshi ließ die Schrotflinte sinken und drehte sich zur Tür. Mit einer Hand zog er das umgeworfene Bücherregal und den Bürostuhl zur Seite, der die Tür versperrte.
„Schollerbeck, sind Sie noch da?“
„Ja. Ja, ich bin noch hier. Was um Gotttes Willen ist bei Ihnen da gerade passiert?“
„Captain Gaultier ist tot. Kommen Sie und Lieutenant Rasmussen langsam rein. Wir versprechen Ihnen, nicht zu schießen, wenn Sie keine Dummheiten machen. Sie haben mein Wort. Hab ich Ihres?“
Vor der Tür war wieder hitziges Gemurmel zu hören. Die Diskussion dauerte jedoch nur kurz, bevor sich Schollerbeck wieder meldete.
„Sie haben mein Wort. Rasmussen und ich kommen jetzt rein.“
Langsam, wie in Zeitlupe, schwang die Tür auf. Hendrik Schollerbeck und Leif Rasmussen traten vorsichtig in den Raum. Schollerbeck hatte beide Hände erhoben. Rasmussen hielt die Maschinenpistole vor sich. Misstrauisch schwenkte er sie zwischen Takeshi und Resnick hin und her.
„Takeshi, Dr. Resnick, geht es Ihnen gut?“
Resnick grunzte ironisch. „Was für eine Frage, Schollerbeck. Was glauben Sie denn, wie es uns geht?“
Rasmussen blickte sich im Raum um und ließ die MP sinken. Takeshi sah ihn an.
„Sind Sie beide die einzigen, die es geschafft haben? Was ist mit Eklund?“
„Eklund ist tot. Er starb gestern früh. Gallardo ist verletzt, aber ich denke, er wird es wohl schaffen. Und Sie haben also Gaultier umgelegt?“
„Resnick. Er glaubte nicht, dass Gaultier zur Vernunft gekommen wäre.“
„Ich fürchte, das stimmt. Na ja, jedenfalls können wir jetzt endlich ...“
Resnicks Kopf wurde brutal nach hinten gerissen, als ihn die Kugel zwischen die Augen traf. Mit einem Aufschrei sprang Lucien Gaultier auf die Füße. Blut spritzte aus seinem offenen Mund und lief aus seiner Brust, als er brüllend um sich schoss.
Takeshi und Rasmussen warfen sich zu Boden, während Schollerbeck schreiend aus dem Raum rannte.
Gaultier feuerte dreimal in Takeshis Richtung. Dann wirbelte er zu Rasmussen herum. Dieser richtete sich auf ein Knie auf und hob seine Waffe. Eine Kugel traf ihn am Hals. Eine Blutfontäne schoss auf den Boden. Rasmussen drückte den Abzug. Die MP riss eine Schneise durch einen Sessel, den Schrank, hinter den sich Takeshi geduckt hatte, die Theke und Gaultiers Bauch. Mit einem überraschten Grunzen ließ er die Pistole fallen und stürzte zurück in die Überreste des Bücherregals. Rasmussen stand auf und leerte das Magazin in Gaultiers zuckenden Körper. Zusammen mit der Munition endete auch Rasmussens Leben. Die Waffe rutschte aus seinen Fingern. Er setzte sich auf einen Stuhl, legte den Kopf auf die Brust, atmete noch einmal aus und sank dann langsam vom Stuhl zurück auf den Boden.
Irgendwann kam Takeshi hinter dem Schrank hervor. Der verwüstete Freizeitraum sah aus wie ein Schlachthaus, das von einem Tornado getroffen worden war. Blutverschmierte Zeitschriften und Papierfetzen lagen auf dem Boden verstreut, Schränke und Stühle waren umgeworfen, Einschusslöcher perforierten Wände und Möbel und über allem hing der Gestank von Rauch und Blut.
„Schollerbeck! Schollerbeck? Leben Sie noch?“
Aus dem Flur ertönte ein klägliches Rufen.
„Takeshi? Ja, ich lebe und bin unverletzt. Ich traue mich eigentlich nicht zu fragen, aber kann man den Raum wieder einigermaßen gefahrlos betreten?“
Takeshi lachte kurz auf.
„Ja, aber klar. Hier drin bin nur noch ich am Leben.“
Schollerbeck lugte vorsichtig um die Ecke. Nachdem er sich umgesehen hatte, betrat er schließlich der Raum, wobei er versuchte, möglichst auf keinen Gegenstand oder Körper zu treten. Er bewegte sich, als würde er sich über ein Minenfeld vortasten.
„Takeshi, ich bin mehr als froh, dass Sie am Leben sind. Ich hatte schon lange den Eindruck, dass Sie von allen am wenigsten von den Wirkungen des Gases betroffen waren. Oder vom Atoxizylin. Haben Sie vielleicht eine Idee oder Ahnung, warum das so ist? Können Sie sich erklären, woran das liegt? Ich meine, das ist doch schon etwas seltsam, nicht wahr?“
Takeshi zuckte die Achseln, während er sich zur Tasche mit dem Atoxizylin hinunter beugte und sie auf den Tresen hob.
„Keine Ahnung. Vielleicht habe ich ja eine natürliche Immunität. Oder Superkräfte durch radioaktive Mutation. Ich glaube, ich habe irgendwelche Verwandten in Nagasaki.“ Takeshi grinste. Dann öffnete er eine Flasche Wasser und trank einen großen Schluck.
Den Schuss, der in seinen Hinterkopf eindrang und vorne aus seiner Stirn austrat, hörte er bereits nicht mehr. Er war tot, noch bevor sein Körper den Boden berührte.
Schollerbeck sah kalt und mitleidlos auf die Leiche zu seinen Füßen.
„Vielleicht bist du auch einfach nur ein dreckiger Lügner!“, sagte er. „Aber mich hast du nicht getäuscht. Statt dessen habe ich dich reingelegt mit meiner netten kleinen Story über das Atoxizylin. Hast du tatsächlich geglaubt, ich überlasse dir das einzige Gegenmittel, das wir noch haben? Du verfluchter Spion!“
Schollerbeck legte die Pistole auf die Theke und öffnete die Kühltasche. Dann injizierte er sich eine Dosis Atoxizylin in den Arm.