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Atlantis

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30.03.2003
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Atlantis

ATLANTIS

„Wir haben niemals Macht erringen wollen. Wir haben vielmehr versucht, Macht zu verteilen, um Männern und Frauen Freiheit zu schenken. Das bedeutet: ihnen bei der Entdeckung, dass sie frei sind, zu helfen. Jeder ist frei. Der Sklave ist frei. Die absolute Waffe gab es schon immer. Jeder Mann, jede Frau, jedes Kind besitzt sie. Es ist die Fähigkeit, nein zu sagen und die Konsequenz zu tragen.“

Robert Shea, Robert A. Wilson: Illuminatus

Als er erwachte, hatte er keine Ahnung wo er sich befand oder wie er hierher gekommen war. Er schlug die Augen auf und sah sich um wie ein Tier, das man über nacht in einen Käfig gesperrt hatte. Sein Nacken schmerzte als er den Kopf drehte, unverkennbar ein Überbleibsel einer harten Nacht, nur das die Ereignisse sämtlich im Dunkel seiner Erinnerung verschollen waren. Dunkel war es auch um ihn herum, kein Licht drang durch ein Fenster, es gab noch nicht einmal Fenster. Tastend und suchend erkundete er seine Umgebung, immer auf einen Hinweis wartend, der ihm als Anhaltspunkt für seine Erinnerung dienen konnte. Er hatte auf dem Boden gelegen, rappelte sich jetzt hoch und stellte erneut fest, dass er jeden verdammten Muskel seines Körpers spüren konnte, weil ihn alles schmerzte. Einiges war sicher auf seine harte Ruhestätte zurückzuführen, doch bei weitem nicht alles, denn diese Art von Schmerzen kannte er bis jetzt nicht und sie rührten von äußeren Einflüssen her. Mühsam kam er auf die Beine, stützte sich mit einer Hand an der dreckigen Wand ab und drehte den Kopf in alle Richtungen. Genaugenommen gab es nur zwei Richtungen, eine nach links, die andere nach rechts, hinter ihm und vor ihm befand sich in geringer Entfernung eine Mauer, die sich nach oben hin wölbte und schließlich zu einem Tunnel schloss. Nach rechts und links hin aber erstreckte sich der Tunnel scheinbar in die Unendlichkeit. Ein langer, dunkler Tunnel, sonst gar nichts, nur ab und zu eine Lampe an der Decke, die einen Teil der Dunkelheit mit ihrem fahlen Licht erfüllte. Eine Ratte huschte nur wenige Zentimeter an ihm vorbei, und er kramte in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen, die er nicht finden konnte. Auch hier herrschte absolute Dunkelheit. Nichts, er konnte sich an nichts erinnern. Nicht, wie er hierher gekommen war, nicht, was gestern passiert war, nicht einmal an das Leben, das er geführt hatte, bevor er in diesem Tunnel aufgewacht war. Es war als habe er seine gesamte Identität verloren, und es gab nur noch die dreckigen Wände dieses Tunnels und die Schmerzen seiner geschundenen Gliedmaßen. Und die Ratten. Überall sah er sie jetzt und es schien als beobachteten sie ihn, warteten vielleicht darauf, dass er in Panik geriet und zusammenbrach. Diesen Gefallen würde er ihnen jedoch noch nicht tun. Er hatte ein Leben da draußen, Menschen, die auf ihn warteten, ein Zuhause, in das er zurückkehren konnte. Plötzlich hörte er ein Geräusch aus der Ferne, ein dumpfes Grummeln, eine Art Rauschen, etwas, das klang, ja, etwas das klang als würde ein Zug vorbeifahren. Das Rauschen schwoll zunächst an, dann ebbte es langsam wieder ab und entfernte sich. Mit einem Mal war er sich sicher, dass es ein Zug gewesen sein musste, ein Zug oder eine U-Bahn, die nicht weit von ihm vorbeigerauscht war. Und mit einem Mal hatte er auch eine Idee, wo er sich befand, nämlich in einem der Tunnels unter der Stadt New York. Er konnte nicht sagen, woher ihm dieser Geistesblitz kam, doch er war sich ziemlich sicher, das dieser Tunnel zu dem großen System unterirdischer Gänge unter dem Big Apple gehören musste. Und wenn es so war, dann würde es auch einen Weg nach draußen geben, einen Weg ans Licht, das ihm vielleicht seine Erinnerung zurückbrachte. Ohne weiter zu überlegen, wandte er sich nach links und tat den ersten Schritt. Es war egal, ob er sich nach links oder rechts hielt, beide Wege konnte falsch sein, und wie oft im Leben kam es nur darauf an, dass man sich entschied und einen Weg ging. Früher oder später würde ihn dieser Weg nach draußen bringen. Einen Fuß vor den anderen setzend und sich an der Wand entlang tastend, kam er vorwärts, Schritt für Schritt.
Schritt um Schritt um Schritt um Schritt. Immer weiter tanzte David Neumann, bloß nicht stehen bleiben, denn Stillstand bedeutete den Tod. Die Musik, die aus den Boxen quoll trieb die Leute zum Tanzen an, diktierte ihre Schritte und hinderte sie daran, stehen zu bleiben. Die ganze Nacht hindurch würden sie weiter tanzen, hier in dieser unwirklichen Atmosphäre, inmitten der bunten Lichter und Laserstrahlen, hier in ihrer Welt. Sie kamen hierher, um der Welt zu entfliehen, um, wie sie es nannten, positive Vibes zu spüren und diese lange genug in sich aufzunehmen, um die nächste Woche zu überstehen. Sie ließen die Welt draußen vor den Türen des Clubs, verschlossen sich vor allem Negativen und tanzten sich in eine bessere Welt, die nur aus Melodie, Licht, Bass, Bewegung und positiver Energie bestand. David hasste sie dafür, hasste sie, weil sie sich vor den Grausamkeiten des Lebens verschließen konnten, weil sie es hier besser hatten und all das Leid nicht sehen konnten. Sie tanzten, sie lachten, sie tranken, sie sangen, sie waren glücklich, während die Welt draußen an ihrer Dekadenz erstickte und nicht mehr zu retten war. Dafür hasste er sie, und nur deswegen war er hier. Er konnte ihr Glück nicht ertragen und wusste, sie mussten in die Realität zurückgeholt werden. Das hatte man ihm erklärt. Sie mussten in die Realität zurückgeholt werden, denn erst wenn alle Menschen erkannten, wie schlecht es um die Welt, in der sie lebten, bestellt war, erst dann konnte man gemeinsam etwas ändern und für jedes Problem eine vernünftige Lösung finden. Sie aber weigerten sich beharrlich, das zu akzeptieren und flüchteten sich in ihre Scheinwelt. Und solange sie uneinsichtig waren, wurden sie zu einer Bedrohung, zu einer Gefahr, zum Feind. Sie mussten eliminiert werden. Überzeugt oder eliminiert. Da sie sich weigerten, sich überzeugen zu lassen, sondern wider besseren Wissens ihren Hedonismus und ihre Glückseligkeit feierten, mussten sie schnellstmöglich unschädlich gemacht werden. David war stolz, dass man ihm diese Mission übertragen hatte, ihn zu einer hohen Aufgabe berufen hatte. Er war es, der diese Keimzelle feindlichen Gedankenguts ausrotten sollte, er trug die Verantwortung. Und er hatte sich fest vorgenommen, seine Aufgabe zur Zufriedenheit aller zu erfüllen.
Noch tanzte er inmitten dieser jungen Menschen, die ihm mehr als alles andere verhasst waren, noch benahm er sich als sei er einer von ihnen, das hatte er früher auch schon getan, auch wenn er nie hatte sein können wie sie. Natürlich hatte er es eine Zeit lang versucht, nur war es ihm nie geglückt. Er hatte sich bemüht, sich ihnen anzupassen, vieles auszublenden und das Gefühl zu spüren, das auch sie spürten. Die Visionen kamen noch heute immer wieder in ihm hoch. Er trug die gleiche Kleidung wie sie und versuchte auch sonst nicht aufzufallen, bemühte sich, genau wie sie zu tanzen und ihre Musik zu lieben. Wie verrückt hüpfte er wild auf der Tanzfläche umher, kreischte mit ihnen, lachte mit ihnen und bemühte sich, ihre Mädchen anzubaggern und zu ficken als ob dadurch irgendetwas von ihnen auf ihn übergehen könnte. Zuhause hörte er ihre Musik, schnappte alles auf, was über sie gesagt wurde, studierte ihre Vorlieben und ihre Lebensweise wie ein Forscher. Seine Mutter schüttelte immer wieder den Kopf darüber, verlangte, er solle kein Mitläufer werden, sondern seine eigenen Talente entdecken. Wie sollte sie auch verstehen, was vor sich ging, sie hatte ihr stumpfes Leben gelebt und nie, niemals einen Blick für größere Zusammenhänge entwickelt. Er jedoch fing an zu verstehen, lernte und passte sich an. Zumindest dachte er das. Trotzdem erkannten und enttarnten sie ihn immer wieder. Wo auch immer er sich aufhielt, sie betrachteten ihn wie einen Fremden, gaben ihm niemals auch nur den Hauch einer Möglichkeit, einer von ihnen zu werden und lachten teilweise sogar über ihn. Betrachteten ihn wie einen Eindringling, so dass er zu seiner Mutter lief und sich trösten ließ. Damals hatte David das geärgert, zur Weißglut getrieben und er hielt es für pure Boshaftigkeit. Heute war er froh, dass sie ihn nie in ihrer Mitte aufgenommen hatten, denn inzwischen war er schlauer und wusste, wer sie wirklich waren. Sie waren es, die die Welt am Umkehren hinderten, sie waren der Stillstand, auch wenn sie immer in Bewegung waren. Sie, die sie die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen und glaubten, glauben wollten, alles sei schön, sie waren das Problem. Und er war es, der dazu beitragen konnte, dass das Problem gelöst wurde. Er, David Neumann, hatte die Macht dazu und würde sie noch heute nutzen und es ihnen beweisen. Hey, willste was? wurde er von der Seite angesprochen. Nach einer kurzen Schrecksekunde sah David dem anderen, einer von ihnen, ein junger Mann in schrillem Outfit, ins Gesicht. Der andere lächelte, hielt ihm eine Hand voller bunter Pillen vor die Nase und guckte sich dabei suchend nach allen Seiten um. Langsam schüttelte David den Kopf und sagte Ich bin ein kleiner Druffi und Druffis find ich gut; abends fress ich Teile und morgens spuck ich Blut. Der andere verstand nicht, was er wollte, hielt ihm immer noch die offene Hand hin. Ohne ein weiteres Wort drehte David sich um und tanzte weiter. Nur nicht stehen bleiben, in Bewegung bleiben, denn der Stillstand bedeutet den Tod. Sein Plan war perfekt und er konnte zur zweiten Phase übergehen. Im Laufe der Nacht hatte er in allen Ecken des Clubs Sensoren angebracht, die sofort anschlagen würden, wenn sich nichts mehr bewegte. Er war unauffällig genug gewesen, niemand hatte ihn gesehen. Jetzt würde er sich zurückziehen, dann das Gas in die Belüftungsanlage leiten und wenn es dann knallte, würde er schon weit genug weg sein. Keine Spur würde zu ihm führen und überhaupt würde es keinerlei Spuren geben. Er würde nur ein sauberes Chaos hinterlassen, die perfekte Zerstörung, ein Problem weniger. Nein, er war kein Killer, er war jemand der aufräumte. Jemand, der den Müll aussortierte und Platz für Neues schaffte. Alles, was störte, musste entfernt werden, ganz gleich, mit welchen Mitteln.
Alles, was zu viel ist, muss raus, sagte die Stimme, wir müssen Platz schaffen und aussortieren. Aber das, was für uns wertlos ist, kann für euch von großem Wert sein. Darum ruft jetzt an und bekommt, was wir nicht mehr brauchen. Erst nach einigen Minuten begriff sie, dass es ihre Stimme war, die diese hohlen Phrasen ins Mikrophon und damit in die Welt hinausplapperte. Seit zwei Jahren, seitdem Lara Friedrich beim Radio arbeitete, musste sie Tag für Tag inhaltslose Sätze über den Äther schicken und auch noch tun als verkünde sie bahnbrechende Neuigkeiten. Klatsch und Tratsch über Menschen, die angeblich Stars waren, Informationen zu Songs, die man als Hits bezeichnete und anderen Schwachsinn. Sie hasste ihre Texte, sie hasste ihren Job und sie hasste sich dafür, dass sie sich Tag für Tag erniedrigte und nur ein funktionierendes Rädchen in der Medienmasse war. Volksverdummung. Ein anderes Wort gab es für ihre Tätigkeit nicht. Sie pustete den Zuhörern durch ihr leeres Gelaber den letzten Rest Hirn aus dem Kopf und fütterte ihn jeden Tag mit Liedern, die den Sinn von Musik meilenweit verfehlten. Niemals, niemals würde sie sich selber zuhören und ertragen können, und die Menschen, die sie ab und an, selten, aber manchmal doch, auf der Straße um ein Autogramm baten, taten ihr leid. Diese Menschen hörten sich den täglichen Einheitsbrei an, den sie Tag für Tag präsentierte und glaubten ihr sogar noch all die Kacke, die sie von sich geben musste. Jetzt war eine dieser bedauernswerten Kreaturen am Telefon und wollte einige der CDs abstauben, die sie heute in einer Gewinnaktion zu verlosen hatte. Hallo hier ist Lara von Flash FM, begrüßte sie ihre Hörerin, was kann ich für dich tun? Die sehr junge Stimme am anderen Ende erklärte, sie wolle abstauben, was es abzustauben gab, und Lara schüttelte innerlich den Kopf. Wie konnte jemand das Zeug, das sie spielte, auch noch haben wollen? Hast du denn einen besonderen Wunsch, welche Superhits du unbedingt haben möchtest? Durch einen Blick auf die vor ihr liegende Liste mit den aktuellen Chartplatzierungen, versuchte sie die Antwort des Mädchens vorauszusagen, doch ihre Erwartung wurde enttäuscht. Ist mir scheißegal, antwortete die Stimme am anderen Ende, ich höre den Scheiß sowieso nicht, aber ich richte gerade mein Zimmer neu ein, und diese ganzen silbernen Scheiben an die Decke gehängt, sehen bestimmt toll aus. Ein Lächeln huschte über Laras Lippen als sie aus den Augenwinkeln die Geste ihres Redakteurs wahrnahm. Er bedeutete ihr mit einer Handbewegung unter dem Kinn, sie solle das Gespräch beenden. Allerdings tat Lara als habe sie ihn nicht bemerkt und fragte unbeirrt weiter: Kann ich dir vielleicht noch einen Musikwunsch erfüllen? Zwar wusste sie haargenau, dass der Sender nur dann Wünsche erfüllte, wenn diese im Vorfeld abgesprochen waren, sie würde sich aber nachher herausreden, sie habe dadurch nur das Gespräch beenden wollen. Klar, ich würde gerne ‚One night in NYC’ vom Horrorist hören. Bevor dieser Wunsch jedoch in die Welt hinaus gelangen konnte, wurde das Telefonat aus dem Regieraum heraus unterbrochen und Werbung eingespielt. Obwohl sie wusste, was passieren würde, erschrak Lara als ihr Redakteur polternd ins Zimmer stürzte und nach einer Erklärung verlangte. Betont teilnahmslos erklärte sie ihm, was sie sich zurechtgelegt hatte, nämlich dass sie mit der Frage nach einem Musikwunsch das Gespräch hatte beenden wollen. Außerdem, setzte sie hinzu, hieß es doch im Jingle immer, Flash FM sei der Sender, der keine Wünsche offen ließe. Durch ihren Kommentar noch wütender fluchte ihr Gegenüber vor sich hin und sah sie dabei aus funkelnden Augen an. Lara hatte plötzlich das Gefühl, sie habe aus Versehen ein Staatsgeheimnis ausgeplaudert, und dabei hatte sie doch nichts Verbotenes getan. Sie konnte doch nichts dafür, wenn die Hörerin sich einen Titel wünschte, den ihr Sender nicht spielte. Überhaupt hatte sie bis heute nicht verstanden, warum ambitioniertere elektronische Musik hier behandelt wurde als sei sie die Pest. Es kam schließlich immer wieder vor, dass Anrufer sich Tracks wünschten, die keine Chartplatzierung aufweisen konnten und nicht in den hier propagierten Einheitsmatsch passten. Genaugenommen wünschten sich sogar die meisten Hörer ausgefallene Titel, da sie die kommerziellen Hits ohnehin bis zu dreimal am Tag ertragen mussten. Lara verkniff sich allerdings jeden Kommentar und machte mit ihrer Arbeit weiter als sei der Vorfall nie passiert.
Sie war gerade neu im Sender und saß zum ersten Mal am Mikrofon als ihr ein Vorfall dieser Art zum ersten Mal passierte. Mit dem Anrufer war abgesprochen, er solle sich ein von einer großen Plattenfirma neu herausgebrachtes Lied mit guten Chancen auf eine Spitzenposition in den Charts wünschen, doch als er live auf Sendung war, wollte er einen ganz anderen Song hören. Lara entschuldigte sich und versprach nachzusehen, ob der Titel in ihrer Datenbank sei, und bis dahin wolle sie Werbung bringen. In dieser Pause schaute sie die im Computer festgehaltenen Listen durch und wunderte sich, dass nicht nur der gewünschte Track, sondern kein einziger elektronischer Titel auf der Festplatte zu finden war. Sie fragte ihren Chef danach und bekam zunächst keine Antwort. Erst beim nächsten Mal als ein Technosong gewünscht wurde, den sie nicht spielen konnte und sie in aller Öffentlichkeit verkündete, Flash FM spiele leider keine elektronischen Sounds, wurde ihr eine Antwort auf ihre Frage gegeben. Es passe zum einen nicht ins Konzept des Senders, sagte man ihr, zum anderen bestehe da draußen kein Interesse an elektronischer Musik, wie man ja auch den Hitlisten unzweifelhaft entnehmen konnte. Lara hingegen wusste, dass beinahe jeder zweite Musikwunsch, der im Sender einging, nicht erfüllt und durch einen nicht elektronischen ersetzt werden musste. Außerdem kannte sie Hunderte von Leuten, die technoide Musik hörten und sich auch die entsprechenden Platten kauften. Sie verstand also ganz und gar nicht, warum nichts davon an irgendeiner Stelle dokumentiert sein sollte. Interessehalber stellte sie Nachforschungen an und fand dabei heraus, dass Millionen von Menschen sich auf Technopartys vergnügten und allein bei ihrem Plattendealer die verkaufte elektronische Musik einen Anteil von sechzig Prozent ausmachte. Weitere Erkundigungen verrieten ihr, dass es anderswo ähnlich aussah, aber dennoch wurde das Phänomen Techno und die ganze dazugehörige Szene besonders in den letzten Wochen in ausnahmslos allen Medien erfolgreich verschwiegen und unter den Tisch gekehrt. Im Laufe der Zeit war sie in ihrem Sender zum unbequemen Zeitgenossen geworden, weil sie immer wieder gegen ungeschriebene Gesetze verstieß, die ihr aber draußen eine immer größer werdende Fangemeinde bescherten. Da sie ihre Meinung nie offen kundtat, sondern immer verschlüsselt, und da ihre Einschaltquoten um einiges besser waren als die ihrer meisten Kollegen, hatte man sie bisher noch nicht gefeuert und höchstens ab und zu stummgeschaltet, denn schließlich regierte Geld noch immer die Welt und entgegen aller ideologischen Kriterien konnte man es sich nicht erlauben, einen Einbruch der Quoten zu riskieren. Man bemühte sich aber, sie unter Kontrolle zu halten und die provokanten Entgleisungen, die sie sich erlaubte in überschaubare und risikoarme Bahnen zu lenken. Immer wieder warf man ihr Häppchen hin, die sie befriedigen sollten, weil man dachte, sie dadurch ruhig zu stellen. In Wirklichkeit reichten diese Häppchen Lara allerdings nicht aus, sie wusste nur noch nicht, wie sie die Macht, die ihr die Quote gab, nutzen sollte. Auch jetzt legte man ihr wieder eine Nachricht vor, die andere geflissentlich übersehen hätten. Nach Ende des letzten Songs vor den Verkehrsnachrichten, ergriff sie den Zettel, den ihr Redakteur ihr vorgelegt hatte und las die Nachricht vor. Die Worte, die auf diesem Zettel standen erschütterten sie zutiefst, doch sie ließ sich nichts anmerken und las mit professionell unbeteiligter Stimme die Schreckensmeldung vor. Gestern Nacht, teilte sie ihren Hörern mit, hatte es hier in Frankfurt im Club U60311 eine Explosion gegeben. Wie die Polizei mitteilte, sei offenbar Gas ins Innere des Clubs geleitet worden, kurz darauf sei ein Sprengsatz hochgegangen, der die Räume des U60311 total verwüstet, sonst aber keinen Schaden angerichtet habe. Man ging davon aus, dass es sich um einen präzise geplanten Anschlag handele.
Der gesamte Club sah aus wie ein einziges Schlachtfeld, dort, wo noch gestern eine der angeblich besten Discos der Republik war, lagen jetzt nur noch Trümmer, Staub und Schutt. Inzwischen waren auch endlich die Spezialisten angerückt und besahen sich den Unglücksort, um dann mehr über die Ursachen sagen zu können. Für Kommissar Färber war allerdings schon jetzt klar, was sich zugetragen hatte. Ganz offensichtlich war dieses Chaos die Auswirkung eines gezielten Anschlags, der genau dies zum Ziel hatte, nämlich den gesamten Club in Schutt und Asche zu legen. Das einzige, was ihm Kopfzerbrechen machte, war das absolute Fehlen von Verletzten oder Leichen. Er hatte in seiner Laufbahn als Ermittler bei der Polizei schon viel erlebt, Säuglinge, die in Mülltonnen aufgefunden wurden, Ehepaare, die sich wegen Kleinigkeiten gestritten und am Ende umgebracht haben, Firmenchefs, die ihre gesamte Existenz und damit ihre gesamte Vergangenheit niedergebrannt haben, nur um damit einer finanziellen Misere zu entgehen und etliches mehr. Aber einen präzise geplanten und ausgeführten Terrorakt, bei dem sämtliche potentiellen Opfer verschwunden waren, das war neu. Paulchen, schnauzte er seine Kollegin an, haben sie endlich den Betreiber erreicht? Cornelia Paul, seine attraktive und engagierte Kollegin hatte sich schon vor einer Stunde ans Handy gehängt und versucht, Details über den gestrigen Abend in Erfahrung zu bringen. Färber schätzte sie, und das nicht nur in beruflicher Hinsicht, doch das hinderte ihn nicht daran, sich in Stresssituationen ihr gegenüber immer wieder im Ton zu vergreifen. Er kannte Cornelia Paul inzwischen seit mehr als zwei Jahren und wusste, dass sie in jeder Hinsicht zuverlässig war. Damals als sie in sein Büro gekommen war, um sich für die Stelle zu bewerben – Färber suchte sich die Menschen, mit denen er am engsten zusammenarbeitete grundsätzlich selbst aus – hatte sie ihm geradezu ohne Umschweife ihre Vorzüge klargemacht, was nicht schwierig war, da er schon zuvor ein Auge auf sie geworfen hatte. Kurz nachdem sie ihre Stelle angetreten hatte, machten beide zum ersten Male gemeinsame Überstunden, und landeten ohne größeres Vorgeplänkel auf Färbers Schreibtisch. Sexuell erwies sich seine neue Kollegin als Glücksgriff, sie war genau wie er es mochte, nicht verklemmt, aber auch nicht zu leidenschaftlich, genau richtig für eine langandauernde Affäre also, bei der Gefühle störend gewesen wären. Auch an ihrer Loyalität gab es nichts auszusetzen, Cornelia hatte nie versucht, ihn damit zu erpressen, seiner Frau einen Wink zu geben und löste berufliche Diskrepanzen auch niemals durch Liebesentzug oder ähnliche weibische Spielereien. Färber war also durch und durch zufrieden mit ihr, was ihn nicht daran hinderte, sie zu behandeln wie alle anderen auch. Also Paulchen, was gibt es?, blaffte er und schnippte dabei seine Zigarette in einen Scherbenhaufen, der zuvor ein Spiegel gewesen sein musste. Angeblich sei der Laden gestern voll gewesen, berichtete Cornelia geschäftig, obwohl sie wusste, dass sie sich diese Aussage schenken konnte. Clubbesitzer und ähnliches Gesindel, und mehr waren diese Leute in Färbers Augen nicht, behaupteten immer, ihr Etablissement sei gut besucht. Ja, doch, gab er zurück, halten wir uns damit nicht auf, was sagt er, was uns weiterhelfen könnte? Cornelia Paul warf einen Blick auf ihre Notizen und zuckte dann mit den Schultern. Nichts. Der Club war gut gefüllt, er selbst habe sich nach Mitternacht zurückgezogen und sein Stellvertreter, der gestern Nacht hier gewesen sein müsste, ist nicht aufzufinden. Färber raufte sich die Haare und zündete sich eine neue Zigarette an. Wie konnte das möglich sein? Wie konnte ein gutbesuchter Club in alle Einzelteile explodieren, ohne das irgendjemand aufzutreiben war, der zur Tatzeit anwesend war? Es konnte ja schließlich nicht sein, dass der Attentäter vorher seine Opfer freundlich gewarnt hat, sich doch bitte in genügenden Abstand zu begeben, weil es hier gleich einen großen Rumms geben würde!
Wir gehen davon aus, verkündete zwei Stunden später einer der Spezialisten, aber er kam nicht weiter. Färber unterbrach ihn barsch und polterte: Ich will nicht wissen, wovon sie ausgehen, sondern was hier passiert ist, verdammt! Erschrocken und bestürzt über den Tonfall des Kriminalbeamten verstummte der andere, doch sein Kollege kam ihm zur Hilfe und erklärte, was sie herausgefunden hatten. Es müssen hier auf der Tanzfläche Sensoren angebracht worden sein, die auf jede Bewegung reagieren, und die so programmiert waren, dass sie, für den Fall, das keine Bewegung verzeichnet wurde, sie einen Impuls an den Zünder des Sprengsatzes weitergaben. Jenes Fehlen von Bewegung ist dadurch ausgelöst worden, dass durch die Belüftungsanlage ein Betäubungsgas ins Innere des Gebäudes geleitet wurde. Färber und Cornelia Paul lauschten den Ausführungen des Mannes und runzelten wie im Gleichklang die Stirn. Ist das denn nicht ziemlich umständlich, nur um eine Explosion hervorzurufen?, fragte Cornelia. Der Spezialist stimmte ihr zu, zuckte mit den Schultern und fuhr dann fort: Offenbar war dem Täter daran gelegen, seine eigene Handschrift zu hinterlassen, anders kann ich mir dieses Vorgehen auch nicht erklären. Noch bevor er oder jemand anders weitersprechen konnte, ergriff Färber wieder das Wort und fragte ungehalten: Handschrift oder nicht interessiert mich im Augenblick nicht, beantworten sie mir lieber, warum wir hier keine Leichen gefunden haben? Auf diese Frage konnte ihm leider vorerst niemand eine Antwort geben. Stattdessen kamen die Experten noch einmal auf die Handschrift des Täters zurück und wiesen Färber und Cornelia auf ein Symbol hin, das sie entdeckt hatten, und das ganz offensichtlich erst nach der Explosion an die Wand gesprayt worden war.

II

Das Zeichen zeigte zwei leicht schräge parallele kurze Striche und war mit roter Farbe auf eine Wand gesprayt, an der vor der Explosion noch ein Spiegel gehangen hatte. Was ist das?, wollte Färber wissen. Achselzucken. Das herauszufinden ist ihre Aufgabe, erinnerten ihn die Männer und sahen ihre Arbeit hier als erledigt an. Färber warf Cornelia einen Blick zu und besah sich die Schmiererei dann genauer. Dann drückte er seine Zigarette an der Wand neben diesem Symbol aus und verfluchte im Stillen den heutigen Tag. Viel lieber hätte er sich mit Routinearbeiten abgegeben und in seiner Mittagspause Cornelia auf seinem Schreibtisch durchgevögelt. Jetzt konnte er allerdings sowohl die Mittagspause als auch den Akt mit ihr vergessen, und das nur, weil ihm jemand mit der Explosion und dem Verschwinden etlicher dämlicher Raver ein Rätsel aufgegeben hatte, auf das sich die Presse noch heute wie eine Horde Aasgeier stürzen würde. Paulchen, was ist das?, fragte er seine Kollegin noch einmal, diesmal allerdings in einem versöhnlicheren Tonfall. Wie alle erfolgreichen Polizisten hasste er es, vor scheinbar unlösbare Aufgaben gestellt zu werden, und er war froh, in diesem Moment wenigstens nicht alleine dazustehen. Cornelia trat einen Schritt vor und besah sich das merkwürdige Symbol genauer. Färber allerdings blieb hinter ihr stehen und richtete seinen Blick auf ihren wohlgeformten Hintern und die schlanken Schenkel, die ihn wie immer anzogen und seine Phantasie anregten. Ich weiß nicht, stellte Cornelia fest, es könnte... ja, es könnte sich um eine römische Zwei handeln. Färber nickte. Habe ich mir auch schon gedacht, log er, aber was würde uns das sagen? Ihm war völlig klar, dass dies eine Art Erkennungszeichen des Täters war, sozusagen ein Bekennerschreiben, nur leider konnte er nichts damit anfangen. Und seine Kollegin war ebenso ratlos wie er. Auch sie hatte keine Ahnung, welche Schlüsse sie aus der Zahl zwei ziehen konnten, wenn es überhaupt eine darstellen sollte.
Er tappte völlig im Dunkeln, nichts, aber auch gar nichts gab ihm einen Punkt, an dem er sich orientieren konnte, und er wusste nicht, ich welche Richtung er sich wenden sollte. Die Dunkelheit kroch immer näher auf ihn zu, schien ihn zu umschließen, und ein ums andere Mal brach ihm der kalte Schweiß aus, die nackte Panik. Noch vor einer Stunde hatte er wenigstens die Hand vor Augen sehen können, manchmal sogar einen Lichtschein, inzwischen war die Finsternis erdrückend und bedrohlich geworden. Wie ein Mantel umschloss sie ihn, er hatte das Gefühl, die Dunkelheit sei eine große Fledermaus, die ihn immer tiefer in ihre schwarzen Flügel einwickelte und am Ende zu ersticken drohte. Dabei war er der Freiheit schon sehr nahe gewesen. Dem Tunnel, in dem er erwacht war, war er stur in eine Richtung gefolgt, Schritt für Schritt, immer weiter, bis er schließlich an eine Kreuzung und einen weiteren, größeren Tunnel gestoßen war. Es war zweifellos ein U-Bahntunnel, auf dem Boden liefen Gleise, und in der Ferne hörte er immer wieder das Rattern der Züge. Jetzt war er sich ganz sicher, er war in den unterirdischen Gängen von New York, ein Labyrinth aus U-Bahnschächten, Tunnel, durch die Stromkabel liefen, Abwasserkanäle, insgesamt ein riesiges Netz aus Gängen, die sich mehrere Stockwerke tief unter der Stadt ausbreiteten. Den letzten Funken Hoffnung nicht aufgebend folgte er den Schienen, denn er wusste, früher oder später würde er an einer U-Bahnstation ins Freie gelangen. Als er einen Zug heranrasen hörte, dessen Rattern immer lauter wurde und schließlich zu ohrenbetäubenden Gebrüll wurde, drückte er sich ganz eng an die Wand, um nicht erfasst zu werden. Dann setzte er seinen Weg fort, getrieben von der Gewissheit, dass es ein Licht am Ende des Ganges geben würde. Mühsam aber immer schneller stolperte er durch die Dunkelheit, wich erneut einem Zug aus und traf einmal sogar auf Menschen. Es waren Penner, von denen er wusste, dass sich einige von ihnen zum Schutz vor Kälte und Entdeckung draußen hier versteckt hielten. Er sprach sie an, wollte sie nach dem Weg fragen, doch die Männer, die in dreckige Lumpen gehüllt waren, erkannten ihn als Fremden, ignorierten ihn und zogen sich schnell zurück. Hier unten herrschten andere Gesetze, dessen war er sich sicher, nur konnte er sich immer noch nicht erinnern, wie er hierher gekommen war. Manchmal, aber nur selten, tauchten Blitze der Erinnerung in seinem Kopf auf, Bilder von Menschen, deren Gesichter er zu kennen glaubte, die er jedoch nicht zuordnen konnte, Bilder von Plätzen die er kannte, die ihm jedoch fremd erschienen und immer wieder das Bild einer Waffe, die auf ihn gerichtet war.
Er tappte weiter durch die Dunkelheit, tastete sich an der Wand entlang, hatte jede Orientierung und jedes Zeitgefühl verloren. Einzig und allein die Hoffnung hielt ihn aufrecht, er wusste, er würde diesem Gefängnis entkommen, früher oder später würde er den Weg nach draußen finden. Und dann passierte das unglaubliche, das, was jeden Funken der Hoffnung in ihm zerstörte. Als er gerade schon glaubte, einen Lichtschein zu sehen und die vertrauten Geräusche der Zivilisation zu hören, riss es ihm plötzlich die Beine weg und er stürzte in die Tiefe. Stürzte scheinbar eine Ewigkeit, bevor er schmerzhaft landete und für ein paar Minuten, vielleicht waren es auch Stunden, das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich kam, registrierte er, dass er in ein Loch gefallen war, über sich konnte er die Umrisse noch schwach erkennen, zu hoch aber, um es zu erreichen. Er war in eine tiefere Ebene gefallen, eine Ebene, in der es keine Schienen und keine U-Bahn mehr gab, eine Ebene, in der wer weiß was auf ihn lauern konnte. Panik überfiel ihn, denn jetzt wusste er nicht mehr, ob er jemals wieder lebend hier herausfinden würde. Dafür aber hatte er durch den Sturz seine Erinnerung wiedererlangt und sah jetzt alles glasklar vor sich. Wie ein Schleier, der endlich gefallen war, hüllte sich seine Vergangenheit aus der Vergessenheit, nur was nützte ihm das jetzt noch? Was nützte ihm das Wissen, wenn er keine Gelegenheit mehr bekommen würde, es anzuwenden? Was nützte ihm die Erinnerung, wenn es keine Zukunft gab?
Die Erinnerung kam plötzlich und hatte die Wirkung eines Faustschlags. Leon war in dem Club gewesen. Er war gestern Abend mit Freunden losgezogen und sie wollten in genau diesen Club, in dem die schreckliche Explosion stattgefunden hatte. Als Lara Friedrich diese Erkenntnis kam, saß sie gerade beim Mittagessen in der Kantine und hätte sich beinahe an einem Pfifferling verschluckt. Sofort sprang sie auf, kramte ihr Handy hervor und wählte Leons Nummer. Hey Leute, ihr wollt sicher mit Leon sprechen, doch der ist gerade nicht da. Wenn es aber dringend ist, dann hinterlasst eure Telefonnummer und am besten auch noch eure Kontonummer auf diesem Band, damit ich euch entweder zurückrufen oder euer Konto plündern und mich damit aus dem Staub machen kann. Scheiß Anrufbeantworter. Sie wählte noch einmal, diesmal seine Handynummer. Das Ergebnis war das gleiche. Dann rief sie bei der Polizei an und erkundigte sich nach den Ermittlungen. Dummerweise erwähnte sie, dass sie beim Radio arbeitete, und erhielt daher nur die Auskunft, dass man an die Presse keinerlei Informationen herausgab. Lara hätte sich ohrfeigen können. Warum hatte sie sich nicht geschickter anstellen können? Ohne weitere Erklärungen meldete sie sich bei ihrem Chef ab und nahm sich für den Rest des Tages frei. Sie fuhr zunächst zu Leons Wohnung, wenn auch nur um noch einmal bestätigt zu bekommen, dass ihr Freund nicht zuhause war, dann griff sie abermals zum Telefon und wählte die Nummer einer Freundin, die bei einer Presseagentur beschäftigt war. Sie erklärte ihr, was passiert war und warum es eilte und bat darum, möglichst bald zurückgerufen zu werden, wenn ihre Freundin etwas hatte in Erfahrung bringen können.
Die folgenden Stunden verbrachte sie in ihrer Wohnung mit quälendem Warten. Immer wieder rief sie bei Leon an und hörte sich die blöde Nachricht auf seinem Anrufbeantworter an oder schaltete die Nachrichten ein, ob sie endlich etwas über den Vorfall im U berichteten. Zwischendurch fixierte sie die Zeiger der großen Uhr in der Küche und sah wie die Zeit zäh und langsam dahinrann. Als endlich das Telefon läutete, war Lara mit ihren Nerven bereits am Ende und malte sich in allen erdenklichen Schreckensvisionen aus, was Leon passiert sein konnte. Zum Glück konnte ihre Freundin keine dieser Vorahnungen bestätigen, dafür hatte sie allerdings auch nur wenig brauchbare Informationen anzubieten. Nach der Explosion im U60311 hatte die Polizei keine Leichen gefunden und vorerst eine absolute Nachrichtensperre verhängt. Mutmaßungen gab es bisher keine, nur einen erstaunlichen Zufall, den Laras Freundin bei ihrer Recherche entdeckt hatte. Und zwar hatte es in den USA kürzlich zwei ganz ähnliche Fälle gegeben, einen in San Diego, den anderen in New York. Bei beiden Anschlägen habe es eine Explosion in einem Club, der für elektronische Musik bekannt war, gegeben, und in beiden Fällen habe die Polizei vor einem Rätsel gestanden, weil es keine Leichen gegeben habe. Während in San Diego der genaue Ablauf bis heute ungeklärt war, hieß es aus New York, dort sei ein Sprengsatz dadurch ausgelöst worden, dass zunächst ein Betäubungsgas ins Innere geleitet wurde. Zu dieser Zeit müssten sich laut polizeilichen Angaben mehrere hundert Menschen in dem Club aufgehalten haben, doch sei keine einzige Spur von ihnen bisher aufgetaucht. Politische Motive, auch wenn zunächst angenommen, für den Anschlag wurden ausgeschlossen, in den Medien kursierte bislang nur eine Theorie, der Fall könne mit illegalem Organhandel zu tun haben, eine Bestätigung oder Indizien gab es bislang nicht. Sofort nach dem Gespräch mit ihrer Freundin nahm Lara Kontakt zu einer Nachrichtenagentur in New York auf, und hatte ihr die Erwähnung, dass sie beim Radio beschäftigt war bei den hiesigen Behörden noch im Weg gestanden, öffnete sie ihr jetzt alle Türen. Ein junger Reporter einer Zeitung, deren Namen Lara noch nie gehört hatte, witterte sofort eine Story und gab ihr im Austausch alle Informationen heraus, die bis jetzt über den Fall bekannt geworden waren. Die Übereinstimmungen waren verblüffend. Sie kamen zu dem Schluss, dass es sich bei beiden Anschlägen um den gleichen Täter handeln musste, wodurch die Geschichte einen sehr pikanten Beigeschmack bekam. Gleich am nächsten Morgen, beschlossen sie schlussendlich, würde sowohl in der New Yorker Zeitung als auch bei Flash FM ein großer Bericht über die mysteriöse Verschwörung erscheinen, von dem sie sich große Wirkung in der Öffentlichkeit erhofften. Nachdem Lara aufgelegt hatte, machte sie sich sofort an die Arbeit und feilte an ihrer Reportage. Da in beiden Fällen Raver die Opfer waren, wollte sie es als großen Schlag gegen die Technoszene hinstellen, damit diese endlich die Aufmerksamkeit bekam, die sie verdiente. Aufgrund des Sommerloches gab es nicht viele interessante Themen, mit denen sie konkurrieren musste, und darum malte sie sich schon aus, wie ihre Geschichte in der Presse und im Fernsehen plattgewalzt wurde und sie als Initiatorin von einem Interview zum nächsten gehetzt wurde. Wenn sie es geschickt anfing, konnte dies ihr großer Durchbruch werden, nur musste sie zunächst Leon finden, denn ein Augenzeuge, der noch dazu mit der Reporterin liiert war, verkaufte sich immer gut. Jetzt schweiften ihre Gedanken ab und in ihre Euphorie mischte sich die große Sorge um ihren Freund. Bisher hatte sie keine Ahnung, was ihm passiert sein konnte, wusste nur, dass er nicht Opfer der Explosion geworden war. Oder? Wer versicherte ihr denn, dass die Menschen vor dem großen Knall aus dem U gebracht worden waren? Vielleicht hatte jemand erst hinterher alle Leichenteile aufgesammelt, um wer weiß was damit zu veranstalten. Entsetzt ließ Lara den Gedanken fallen und klammerte sich krampfhaft an die Vorstellung, dass Leon noch lebte, vor der Explosion aus dem Club geflohen war und im schlimmsten Fall Opfer einer Entführung geworden war. Nur, warum sollte jemand die Raver aus den Clubs entführen? Und selbst wenn es der Fall war, wer garantierte ihr, dass Leon alles heil überstehen würde? Ihre Phantasie spielte ihr jetzt böse Streiche und malte die schaurigsten Visionen. Sie sah Leon, wie er in einem muffigen, dunklen Kellerraum an einen Stuhl gefesselt war, sah ihn, wie er von grobschlächtigen tätowierten Männern gefoltert wurde und sah ihn wie er blutend und schmerzverkrümmt in einer nach Pisse stinkenden Ecke neben einer Mülltonne lag.
Als Leon aufwachte, fühlte er sich benommen und wusste nicht, wo er war. Sein Mund war trocken, sein Schädel brummte und außerdem war ihm schwindelig als hätte er stundelang in einer Achterbahn gesessen. Mühsam richtete er sich auf und sah sich in dem Raum um, in dem er sich befand. Das Zimmer war klein, kaum größer als der Innenraum seines alten Honda Civic, die Decke war niedrig, und die Wände glänzten metallen. Er selbst saß auf einem großen Bett, dass durch den beengenden Raum noch wuchtiger wirkte und merkte erst jetzt, dass er nackt war. Seine Kleidung lag neben ihm auf einem Sessel, der außer dem Bett das einzige Möbelstück war. Es war einer dieser runden Sessel aus den sechziger oder siebziger Jahren, die wie eine Kugel geformt waren. Erst jetzt fiel Leon auf, dass auch das Bett rund war, und auch das Fenster an der Wand gegenüber hatte die Form eines Bullauges. Leon bemühte sich aufzustehen, das Schwindelgefühl ließ allmählich nach, auch wenn er immer noch das Gefühl hatte, alles um ihn herum bewege sich, und er machte ein paar Schritte auf das Fenster zu. Dahinter war alles schwarz, kein Licht war zu erkennen. Mit einem Mal fühlte der junge Mann sich bedrückend einsam und verlassen. Der Raum wirkte jetzt auf ihn wie ein Gefängnis, eine Zelle, aus der es kein Entkommen gab, und er erwartete schon fast, die Tür verschlossen vorzufinden. Noch immer gelang es ihm nicht, sich zu erinnern, die vergangenen Stunden schienen aus seinem Gedächtnis gelöscht, endgültig verloren, auf nimmer Wiedersehen. Die Tür war nicht verschlossen, sondern ließ sich ganz einfach aufschieben und führte in einen Gang hinaus, der mit einem roten Teppich ausgelegt, ansonsten aber leer war. Ein Schauer lief Leon über den Rücken, er unterdrückte den Drang, um Hilfe zu rufen und sah sich stattdessen nach allen Richtungen um. Nichts. Auf der Hut vor unerklärlichen Gefahren, die er hier vermutete, setzte er sich in eine Richtung in Bewegung und achtete dabei auf jedes Geräusch, das ihm zu Ohren kam. Bis auf ein gedämpftes mechanisches Summen war es jedoch still, fast zu ruhig, und das beunruhigte ihn erneut.
Der Gang endete an einer schweren Metalldoppeltür, in die zwei runde Guckfenster eingelassen waren. Auch sie ließ sich leicht und geräuschlos öffnen. Als Leon hindurchtrat und sich in dem großen Raum dahinter umsah, vernahm er Schritte und spürte den Drang, sich zu verstecken. Doch wo? Es gab hier ja nichts, denn bis auf einen Tisch, um den einige Stühle standen, war der Raum leer. Die Schritte kamen näher, Leon presste sich instinktiv ganz nah an die Wand und wartete. Endlich öffnete sich eine Tür und eine dunkelhäutige Frau, die bestimmt an die zwei Meter groß war, trat gefolgt von zwei Männern in Uniformartiger Kleidung heraus. Ihr Blick heftete sich auf Leon, der erst jetzt feststellte, dass er immer noch nackt war. Peinlich berührt hielt er sich beide Hände vor den Unterleib, unfähig, die Situation einzuordnen. Leon, wie schön, dass sie aufgewacht sind, ergriff die schwarze Schönheit das Wort, wir haben schon auf sie gewartet. Irritiert fragte er sich, woher sie seinen Namen kannte, denn sie war ihm fremd, und er hatte sie noch nie zuvor gesehen. Kommen sie, fuhr die Frau mit rauchiger Stimme fort, die anderen sind schon beim Frühstück. Aber sie sollten sich zuerst etwas anziehen. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, eine Frage zu stellen, folgte er ihrer Aufforderung und ließ sich dann in einen großen Saal führen, in dem mehrere Menschen um einen festlich gedeckten Tisch saßen und sich mit Salaten, Calamares, Krabben- und Kaviarbrötchen und anderen Delikatessen voll stopften. Am Kopf der Tafel stand eine weißhaarige alte Frau in einem langen mit indischen Motiven bedruckten Gewand, die einen Vortrag zu halten schien. Sie nickte Leon freundlich zu, und die Frau, die Leon abgeholt hatte, wies ihm einen Platz zu. Von den anderen Menschen am Tisch glaubte er einige zu kennen, wusste bis jetzt aber noch nicht woher. Mein Name ist Arwen van Dyk, ergriff die weißhaarige Frau jetzt das Wort, und ich heiße sie alle herzlich willkommen. Wie einige von ihnen sicher schon bemerkt haben, befinden wir uns in einem U-Boot, der ‚Atlantis’, um genau zu sein, dem größten Unterseeboot, das je von Menschenhand gebaut wurde. Bevor ich allerdings zu weiteren Erklärungen ansetze, sollten sie sich erst einmal stärken, denn wir haben noch eine lange Reise vor uns. Erst jetzt bemerkte Leon, wie ausgehungert er war, und auch wenn ihm unzählige Fragen unter den Nägeln brannten, griff er zuerst bei den vor ihm aufgetürmten Köstlichkeiten reichlich zu und befriedigte seine niederen Bedürfnisse.
Stunden später hatte Arwen van Dyk ihn und die anderen auf der Atlantis herumgeführt, ihnen sämtliche Räume gezeigt, in denen sie sich aufhalten durften, und sie endlich auch über das Ziel ihrer Reise aufgeklärt. Bei dem Raum, in dem Leon aufgewacht war, handelte es sich um seine Kajüte, daneben gab es etliche Fitnessräume, eine Küche, aus der sie sich ständig bedienen durften, ein Kino, eine Disco und sogar ein kleines Shoppingcenter, in dem man alles kaufen konnte, was das Herz begehrte. Jetzt stand Leon auf der großen Aussichtsplattform, wie sie es nannten, und nur ein großes Panoramafenster trennte ihn von der faszinierenden Unterwasserwelt um sie herum. Er hatte erfahren, dass sie sich angeblich auf dem Weg zu einer Unterwasserpyramide befanden, die unentdeckt auf dem Grund des Atlantik liegen sollte. Alles kam ihm vor wie ein schlechter Traum, er hatte sich gefragt, ob er gestern zu viele Pillen geschluckt hatte und sich mehrmals gekniffen, doch es half nichts. Er war wach, hellwach sogar. Inzwischen schälten sich auch einzelne Erinnerungen aus der Umnachtung seines benebelten Gehirns, die Menschen, die beim Essen mit ihm am Tisch gesessen hatten, waren jene, mit denen er noch vor wenigen Stunden im U60311 gefeiert hatte, viele von ihnen kannte er vom Sehen, andere nicht. Der gestrige Tag, Frankfurt, das U, all das kam ihm plötzlich unendlich weit weg vor, und genaugenommen war es das ja auch. Noch vor wenigen Stunden hatte er ausgelassen getanzt und sein erstes freies Wochenende seit langem genossen, jetzt befand er sich weit unter dem Meer mit einem Ziel, dass ihm vollkommen surreal erschien, und er hatte keinen Schimmer, was dies alles zu bedeuten hatte. Man hatte sie entführt, um sie zu retten, hatte Arwen behauptet, würde sie einige Zeit versteckt halten und dann wieder nach Hause bringen. Die meisten anderen hatten sich mit dieser Erklärung zufrieden gegeben und schienen den Trip zu genießen. Nicht so Leon. Ihm war die Geschichte nach wie vor suspekt und sein natürliches Misstrauen war in höchster Alarmbereitschaft. Während er noch in das undurchdringliche Blau vor ihm hinausstarrte und Schwärme von Fischen, die langsam vorbeizogen, beobachtete, trat jemand neben ihn. Er drehte sich um und erkannte die Zwei-Meter-Frau wieder, die ihn heute morgen auf dem Flur aufgesammelt hatte. Du siehst besorgt aus, Leon, vermutete sie ganz richtig als sie neben ihn trat. Mit einem schnellen Seitenblick vergewisserte er sich, dass sie alleine waren, blieb aber trotzdem vorsichtig. Ist das vielleicht ein Wunder?, fragte er, Ihr entführt uns, erzählt uns irgendwelche Scheiße über eine versunkene Pyramide und erwartet auch noch, dass wir das alles gelassen hinnehmen? Seine aufkeimende Wut veranlasste die Frau zu einem Lächeln. Ich weiß, was du meinst, bestätigte sie ihn, mir ging es nicht anders als ich zum ersten Mal hier aufwachte. Weiter erklärte sie, dass man auch sie angeblich gerettet hatte, ihr Name sei übrigens Liz, aber nachdem sie alles verstanden hatte, sei sie von Arwens Idee überzeugt gewesen und unterstützte sie jetzt nach Kräften. Leon musterte Liz aus den Augenwinkeln, wobei ihm zum ersten Mal auffiel, wie hübsch sie war, schlank, mit unvorstellbar langen Beinen, feste, wohlgeformte Brüste und fein geschwungene Lippen. Dennoch hielt er Abstand, ordnete ihr Reden als Versuch der Beruhigung ein und war mit eigenen Worten sehr sparsam. Du brauchst keine Angst zu haben, fuhr Liz mit ihrer sexy rauchigen Stimme fort, wir sind gleich am Ziel, dann wird man dir alles weitere erklären, und ich versichere dir, du wirst endlich verstehen. Leon nickte ergeben und starrte dann wieder ins Wasser hinaus. Nur wenige Minuten später ging ein Ruck durch das U-Boot, und über einen Lautsprecher, den er zuvor nicht bemerkt hatte, wurde ihm mitgeteilt, dass man die Pyramide erreicht hatte und sie sich bereit zum Aussteigen machen sollten. Wie alle anderen fand sich auch Leon bald an der Einstiegsschleuse ein und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass sich Neugierde in seine abwehrende Haltung gemischt hatte. Durch die Fenster konnte er tatsächlich die Umrisse einer unwirklich erscheinenden Pyramide im Wasser erkennen, zumindest in diesem Punkt hatten sie also die Wahrheit gesagt. Einer nach dem anderen wurden sie jetzt durch die Schleuse geschickt und als Leon an der Reihe war, legte Liz ihm noch einmal die Hand auf die Schulter und raunte ihm zu, er solle keine Angst haben. Mit zitternden Knien schwang Leon sich durch die Öffnung und fand sich in einem Saal wieder, der der Eingangshalle eines luxuriösen Hotels glich. Ein Mann, der die gleiche Uniform trug wie die meisten Besatzungsmitglieder der Atlantis wies ihm den Weg und schickte ihn in seine ungewisse Zukunft, die wie ein schwarzer, undurchdringlicher Vorhang vor ihm lag.
Sein Weg führte durch einen langen, fensterlosen Gang auf eine Tür zu, die wie ein Wächter den gesamten Flur zu überwachen schien. Mit jedem Schritt wurden seine Beine schwerer und nur zu gerne wäre er auf der Stelle umgedreht und weggelaufen. Nur wohin hätte er fliehen sollen? Er konnte ihnen nicht entkommen, weil sie ihn überall finden würden, früher oder später. Was ihn jetzt erwartet, wusste er nicht, was ihn erwartete, wenn er floh, konnte er sich ausmalen. Bis jetzt war ihnen noch niemand entkommen, hieß es, und von niemandem, der nicht mit ihnen kooperiert hatte, hatte man jemals wieder etwas gehört. Er schluckte schwer, während er seinen Weg fortsetzte, und es kam ihm vor als ginge nicht er auf diese Tür zu, sondern die Tür auf ihn. Hinter dieser Tür, schoss es ihm durch den Kopf, lag seine Zukunft, eine verdammt ungewisse Zukunft, er wusste ja nicht einmal, ob er jemals wieder durch die Tür hinausgehen würde. Und die Tür schien ihn anzustarren, schien ihn zu erwarten, war voller Vorfreude, denn im Gegensatz zu ihm, wusste sie, was dahinter lauerte. Kurz bevor er eintrat, verharrte er, und ihm schoss abermals die Idee durch den Kopf, auf dem Absatz umzukehren und sich irgendwo zu verstecken. Dann verwarf er diesen Gedanken, warf einen letzten Blick auf das Zeichen auf der Tür, das nur dem Eingeweihten etwas verriet, und drückte die Klinke herunter.

Die drei Männer im Raum schienen ihn zu erwarten, zwei von ihnen standen rechts und links der Tür als würden sie zur Einrichtung gehören, der dritte saß hinter einem wuchtigen Schreibtisch aus Mahagoni und nickte knapp als David Neumann eintrat. Neo, kommen sie herein, wir haben sie erwartet, begrüßte er David, der mit zögernden Schritten näher trat. Bisher war David noch nie hier gewesen, aber er hatte schon vieles über den Mann gehört, der von vielen nur Pik Ass genannt wurde. Pik Ass bedeutete, er hatte den zweithöchsten Rang überhaupt inne, denn über ihm stand nur noch jener, den man Kreuz Ass nannte. Bisher hatte Neo seine Aufträge immer nur von Leuten bekommen, die höchstens den Rang eines Buben innehatten, doch selbst das war ihm schon als Auszeichnung vorgekommen. Dieser Besuch war jedoch alles andere als eine Auszeichnung. Der Mann hinter dem Schreibtisch wies David jetzt an, Platz zu nehmen und kam gleich zur Sache. Er war kein Mann der großen Worte, sondern liebte es, besonders unangenehme Dinge, schnellstmöglich und endgültig hinter sich zu bringen. Mir sind einige Details über ihren Anschlag in Frankfurt zugetragen worden, begann er, und wenn das stimmt, was ich gehört habe, dann ist die Aktion, wie sagt man, in die Hose gegangen, liege ich da richtig? David rutschte nervös auf seinem Stuhl herum und suchte in Gedanken nach einem Ausweg aus dieser für ihn brenzligen Situation. Nu ja, stammelte er, ich habe den Auftrag wie abgesprochen ausgeführt, und habe mich dann entfernt, um mich in Sicherheit zu bringen. Aber wie es aussieht, sind sie uns dazwischen gekommen und... Der Mann hinter dem Schreibtisch brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Ich weiß sehr wohl, was passiert ist, dazu brauche ich sie nicht, grollte er. David spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, aber er widerstand dem Drang, sich über die Stirn zu wischen. Dafür kullerte ihm nun ein Schweißtropfen über die Stirn und nahm Kurs auf seine Augenbraue. Hören sie, Neo, fuhr Pik Ass fort, wir können uns Missgeschicke dieser Art nicht mehr leisten, denn sie wissen sicher, dass dies nicht der erste Anschlag war, bei dem die Zielpersonen vor der Explosion verschwunden sind. Stumm nickte David und wagte es nicht, sein Gegenüber zu unterbrechen. Und sie wissen doch sicher, fragte Pik Ass und lehnte sich selbstgefällig in seinem Sessel zurück, was mit dem Mann passiert ist, der den Auftrag hier in New York verpatzt hat, oder? Wieder nickte Neo und spürte, wie es ihm bei dem Gedanken daran kalt den Rücken herunter lief. Ich nehme an, man hat ihn in den Hades gebracht. Seine Antwort entlockte dem Mann hinter dem Schreibtisch ein Lächeln, bei dem er seine gelben Zähne entblößte. Ganz richtig, er befindet sich noch immer in den Gängen unterhalb der Stadt, und sobald er die unterste Ebene erreicht hat, wird man die Säbelzahntiger loslassen. David konnte seinem Gesprächspartner nicht mehr länger ins Gesicht sehen, sondern ließ seinen Blick auf dem Boden herumirren und krallte sich dabei in die Lehne seines Stuhles. Er ahnte Schreckliches auf sich zukommen und bemühte sich vergeblich, seine Furcht nicht zu zeigen. Dennoch schien Pik Ass sich an dem Schrecken, den er verbreitete zu laben und es zu genießen, wenn sein Gegenüber sich wie ein Wurm wand und sich wünschte, im nächsten Loch für immer verschwinden zu können. Hören sie, Neo, ich will offen zu ihnen sein. Es gibt eine Schwachstelle, einen wunden Punkt in der Organisation, und jeder, der nicht absolut zuverlässig arbeitet, macht sich verdächtig. Er machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr: Aber ich will ihnen noch eine zweite Chance geben. Beweisen sie uns ihre Loyalität dadurch, dass sie diese Schwachstelle finden und den verantwortlichen unschädlich machen. Haben wir uns verstanden? David blickte vom Boden auf und ging in Gedanken die Worte, die er gerade gehört hatte noch einmal durch. Man gab ihm eine zweite Chance und zog ihn nicht sofort für sein Versagen zur Rechenschaft. Das war besser als alles, was er sich vor dem Besuch hier hatte ausmalen können. Und außerdem bedeutete es, dass sie viel von ihm hielten, denn bisher hatte er noch von niemandem gehört, der eine zweite Chance bekommen hätte. Sie trauten ihm also viel zu, gaben ihm sogar noch einen Auftrag, der wichtiger war als alles, was er bisher gemacht hatte. Neo würde die Erwartungen, die in ihn gesetzt wurden nicht enttäuschen.
Vorher aber wollte er seinen Trip nach New York genießen und ließ sich von einem Taxi zum Times Square bringen, von wo aus er seinen Ausflug ins Nachtleben begann. Aufgeputscht von seinem Auftrag hatte er den Drang, jedem, der ihm begegnete, davon zu erzählen, behielt sein Wissen dann aber doch für sich. Stattdessen ging er äußerst spendabel mit seinem Geld um, bestellte sich in nahezu jeder Bar einen Drink, leistete sich die teuersten Zigarren, die man hier bekommen konnte und fühlte sich ausgeglichen wie schon lange nicht mehr, fühlte sich wichtig. Sogar einem Penner, der ihn anbettelte, steckte er einen zehner zu, obwohl er dieses stinkende Gesindel hasste und am liebsten aus dem Stadtbild entfernt hätte. Als die Zeiger seiner Uhr auf Mitternacht zugingen, bekam er Lust auf Sex und sah sich gezielt nach käuflichen Liebesdienern um. Er musste nicht lange suchen, an einer Ecke unweit des Broadway entdeckte David schon bald einen Stricher, der ganz seinen Vorstellungen entsprach. Der Junge war sehr schlank, wahrscheinlich sogar magersüchtig, verlangte zweihundertfünfzig Dollar und war ein wenig gekleidet wie ein europäischer Raver, was David ganz besonders gefiel. Er folgte dem Jungen in ein nahegelegenes Hotelzimmer, eine billige Absteige, aber wen störte das schon. Ohne lange um den heißen Brei herumzureden fragte der Stricher, der sich als Jason vorstellte, wie David es gerne hätte und schälte sich dann aus seinen Klamotten. Keine Sorge, ich weiß schon, was ihr Schwulen gern habt, lockte er David als dieser zögerte, und für einen Moment verkrampfte Neo sich. Am liebsten hätte er die kleine Sau angebrüllt und ihm klar gemacht, dass er nicht schwul war, sondern nur ficken wollte, dann schluckte er seinen Ärger herunter. Es gab schließlich bessere Möglichkeiten, ihm Manieren beizubringen, und wer würde sich am nächsten Morgen schon für einen toten Stricher in einem Hotelzimmer wie diesem interessieren. Er würde ihn erwürgen, würde genau zusehen, wie er sich verzweifelt wehrte, wie er um Luft rang und wie ihm die Augen hervorquollen und sich dabei unendlich stark fühlen. Aber vorher würde er ihn noch ordentlich durchvögeln.
Immer schneller wurde sein Rhythmus, immer tiefer stieß er zu. Er spürte, wie er außer Kontrolle geriet, wie die Leidenschaft, die pure Lust jede Kontrolle übernahm. Wie immer genoss er das Gefühl, nicht mehr Herr seiner Sinne zu sein, sich nur noch von seinen Trieben leiten zu lassen und sich ganz in dieses Empfinden fallen zu lassen. Er schloss die Augen, sein Körper wurde von einem inneren Trieb gesteuert, und all seine Gefühle konzentrierten sich jetzt auf seinen Schwanz, der gleich explodieren würde. Dabei umfasste er den heißen Körper unter sich fester, krallte sich geradezu daran fest wie ein Ertrinkender am Rettungsring und stöhnte laut auf als er endlich kam. Erschöpft ließ er seinen Kopf auf ihre Brüste sinken und genoss das, was er die Stille nach dem Sturm nannte. Cornelia konnte diese Ruhe jedoch nicht genießen, sondern raffte sich schnell wieder auf und schlüpfte in ihr Kostüm, das er ihr erst vor wenigen Minuten leidenschaftlich vom Leib gerissen hatte. Dann stieß sie sich vom Schreibtisch ab, ordnete die wenigen Gegenstände darauf und bemühte sich wie immer alles Geschehene zu vertuschen. Jetzt zog sich auch Färber wieder an und fand sich mit dem Gedanken ab wieder an die Arbeit zu gehen als sei nichts geschehen. Ich wünschte, wir könnten endlich aufhören, es heimlich zu tun, klagte Cornelia resigniert, doch ohne die Spur eines Vorwurfs in der Stimme. Ja, ich weiß, aber ich habe eine resolute Ehefrau und eine elfjährige Tochter, die das verhindern, gab Färber müde zurück und band sich mühevoll die Krawatte. Natürlich bekam er den Knoten nicht hin, unter anderem einer der Gründe, warum er sich nicht längst von seiner Frau getrennt hatte, und bat Cornelia, ihm zu assistieren. Die jedoch reagierte nicht auf seine Bitte, sondern stürzte plötzlich zum Aktenschrank. Elf! rief sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Selbstvorwurf, es könnte genauso gut eine Elf sein! Färber band sich die Krawatte mit einiger Mühe selbst und schaute seine Kollegin fragend an. Die Zahl, die sie in der Disco entdeckt hatten, erklärte Cornelia aufgebracht, die beiden Striche an der Wand, sie musste nicht zwangsweise eine römische Zwei darstellen. Ebenso konnte es sich dabei auch um eine Elf handeln. Färbers Instinkt war von einer Sekunde auf die andere hellwach, und er machte sich sofort an die Arbeit, zu recherchieren, was es mit dieser Zahl auf sich haben konnte. Inzwischen standen sie unter Zeitdruck, obwohl es bisher keinerlei Ergebnisse gab. Aber heute morgen hatte es einen Bericht im Radio gegeben, so dass der Fall jetzt publik und zudem unheimlich aufgepuscht war. Die Polizei war unter Zugzwang und musste endlich Ergebnisse liefern, um nicht morgen in der Presse lächerlich gemacht zu werden.
Eine Stunde später stand Cornelia wieder in seinem Büro und präsentierte ihre Ergebnisse. Bisher habe ich drei Organisationen gefunden, auf die die Abkürzung E, L, F zutrifft, erstattete sie Bericht, keine von ihnen verwendet ein Symbol wie wir es in dem Club gefunden haben, aber auch sonst ist dieses Zeichen nach meinen Unterlagen noch nie in Verbindung mit einem Attentat aufgetaucht. Färber unterbrach sie barsch, zündete sich eine Zigarette an und forderte sie gereizt auf, endlich zum Punkt zu kommen und ihm zu sagen, um welche Organisationen es sich handele. Also gut, fuhr seine Assistentin fort, E, L, F, das ist zum einen die Abkürzung der Eisenbahnliebhaber Frankfurt, zum anderen steht es für die Essener Literaturfreunde, und dann gibt es noch die Europäische Linksfront, auf die die Buchstaben passen. Alle drei Organisationen sind bis jetzt strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten, doch das hat nichts zu sagen. Sie war ganz aufgeregt, ob der neuen Entwicklung des Falles, und ihre Nervosität ging Färber gehörig auf den Sack. Daher schickte er sie hinaus und ordnete an, sie solle sofort alle Hebel in Bewegung setzen, um nähere Informationen über die drei Organisationen zu bekommen. Er selbst beschloss, die Literaturfreunde und die Eisenbahnliebhaber außer Acht zu lassen und sich auf die Linksfront zu stürzen. Bei seiner Recherche erinnerte er sich an seinen ersten Fall als Kommissar, bei dem es auch um eine politische Partei gegangen war. Diese Partei, eine rechtsgerichtete kleine Gruppierung, versuchte mit allen Mitteln, auf sich aufmerksam und Schlagzeilen zu machen. Zum einen kauften sie eine bekannte Tageszeitung auf, um darüber positive Artikel zu verbreiten, zum anderen setzten sie eine Popband unter Druck, in ihren Songs verschlüsselte Botschaften zu verbreiten, und am Ende ging es sogar so weit, dass sie damit drohten, die politischen Verfehlungen aller Politiker öffentlich zu machen, was den Staat in eine Krise gestürzt hätte. Wenn die Bevölkerung erfahren hätte, wie Politik tatsächlich funktioniert und wer an den Fäden zog, es wirklich gewusst, statt wie bisher nur an manchem Stammtisch vermutete, wäre das Land im Chaos der Anarchie versunken. Um dies zu verhindern, wurden die Polizei und sämtliche anderen Organe eingeschaltet, um diese Partei letztendlich vernichtend zu schlagen. Färber hatte sie damals seine ersten Lorbeeren verdient, doch leider war seit jenem Tage viel Zeit vergangen, und seine weiteren dreiundzwanzig Dienstjahre waren weniger nervenaufreibend verlaufen. Auch jetzt glaubte er sich noch nicht an einem Fall von weitreichendem Interesse und umwälzenden Konsequenzen, immerhin war dieser Anschlag jedoch eine willkommene Abwechslung zu sonstigen Bagatellen und Standardverbrechen. Während seiner Nachforschungen stellte sich die Europäische Linksfront als wenig solvente Gruppierung heraus, die schon allein deshalb niemals für einen derartigen Anschlag in Frage kommen konnte. Auch die beiden anderen Organisationen schieden aus, denn sie alle verfügten nicht über die Mittel, ein geradezu perfektes Verbrechen ohne Spuren durchzuführen. Erst sehr viel später erinnerte sich Färber wieder an den Bericht im Radio, und dass darin auch von Anschlägen in den Staaten berichtet wurde. Sofort setzte er sich ans Telefon und ließ sich mit dem zuständigen Beamten in New York verbinden. Er schilderte ihm seinen Fall, hörte zu, was der Kollege zu berichten hatte und war einerseits erstaunt über die Gemeinsamkeiten der beiden Vorfälle, zum anderen erfreut, dass auch die Polizei Amerikas keinen Schritt weiter war als er. Erst gegen Ende des Gespräches erwähnte Färber auch das Symbol an der Wand, und war überrascht als am anderen Ende Schweigen herrschte. Was ist denn los?, fragte er, Sagt ihnen dieses Zeichen etwas? Der Mann am anderen Ende meldete sich wieder zu Wort und wirkte jetzt eingeschüchterter als vorher. Selbstverständlich sage ihm die Elf etwas, und es wundert mich, dass sie nichts damit anfangen können. Färber war für einen Augenblick verwirrt und hakte dann nach, was er damit meinte. Eleven ist einer der größten und mächtigsten Geheimbünde, die überhaupt im Universum existieren. Die Eliminate Evolution Enforcement hat überall ihre Finger drin, und ich sage es ihnen ganz ehrlich, wenn ich zuvor gewusst hätte, dass sie dahinterstehen, hätte ich meine Finger von dem Fall gelassen. Dann legte er auf und die Leitung war tot. Färber rieb sich die Schläfen, steckte sich eine neue Zigarette an und dachte angestrengt nach. Er hatte nie von einer Organisation namens Eleven gehört, doch die Angst in der Stimme des New Yorker Polizeichefs machte ihn nachdenklich. Allein die Erwähnung des Symbols hatte ihn in Schrecken versetzt, ein Schrecken, der seiner Reaktion nach zu urteilen begründet war. Aber wieso? Wieso verspürte auch er mit einem Mal eine Furcht, die langsam seinen Rücken hinaufkroch und sich dann fest in seinem Hinterkopf verankerte?
Inzwischen war die Angst das vorherrschende Gefühl, das alle anderen Empfindungen verdrängt hatte. Sie war wie eine kleine Idee aus einem Ei entsprungen, hatte sich dann aber blitzschnell ausgebreitet, war gewachsen und sich zu einem riesigen, alles verschlingenden Monstrum entwickelt. Gefühle wie Durst, Hunger und Heimweh wurden von ihr an die Wand gedrängt, hatten sich schließlich in einer Ecke zusammengekauert. Die Angst allein beherrschte sein Gehirn, ließ keinen Platz mehr für logisches Denken oder räumliches Vorstellungsvermögen. Noch immer irrte er ziellos hier unten umher, und er war jetzt sogar noch tiefer in dieses Labyrinth eingedrungen, war erst vor wenigen Minuten – oder waren es Stunden? – wieder gestürzt und damit in eine tiefere Etage vorgedrungen. Die Geräusche der U-Bahnen vernahm er jetzt nur noch gedämpft, auch Menschen kamen ihm schon seit geraumer Zeit nicht mehr entgegen, und mittlerweile glaubte er nicht mehr daran, jemals wieder das Licht an der Oberfläche zu erblicken. Am Anfang hatte er es ja wenigstens versucht, doch inzwischen wusste er, dass es kein Entrinnen geben würde, diese Gänge waren wie ein Gefängnis, waren schlimmer als ein Gefängnis, weil sie zunächst die Illusion vermittelten, man könne entkommen, aber nur zunächst. Inzwischen wurde er nur noch von seiner Angst weitergetrieben, keine lähmende angst, sondern eine, die ihn rastlos vorantrieb, die es ihm nicht erlaubte, zu verschnaufen, und er fragte sich, was danach kommen würde. Was kam nach der Angst? Der nackte Wahnsinn vielleicht? Würde er anfangen, sich selbst zu zerstören? Würde er nur noch apathisch dasitzen und auf sein langsames Ende warten? Noch fühlte er sich aber getrieben, getrieben, weil es überall Wege gab, überall Möglichkeiten. Und auch wenn er im Grunde seines Herzens wusste, dass sie ihn alle nicht weiterbringen würden, fühlte er sich getrieben, sie auszuprobieren, Gewissheit zu erlangen. Und über allem lag die Angst, die Angst vor etwas noch schlimmerem, die Befürchtung, er war noch nicht am Ende angekommen und eine weitere Hölle stand ihm noch bevor.
Der Raum war dreieckig, die drei Wände weiß und liefen nach oben hin spitz zusammen. Es war also im Grunde kein Raum, sondern das Innere eines Tetraeders, einer dreiseitigen Pyramide. Und in jede Wand war eine Tür eingelassen, durch die man in einen neuen Raum, der dem ersten auf Haar glich, gelangen konnte. Es war wie ein Irrgarten aus Tetraedern, ein unendliches geometrisches System, das in sich abgeschlossen war, und aus dem es kein Entkommen gab. Hinter jedem Raum wartete ein weiterer, dahinter noch einer und wieder einer. Diese Reihe ließ sich bis ins Unendliche fortsetzen. Das merkwürdigste aber war die Verlagerung der Schwerkraft. Es gab kein Oben und Unten, egal, wo man sich gerade befand, man landete immer auf den Füßen. Und wenn man an der Wand hochkletterte, um zum nächsten Durchgang zu gelangen, verlagerte sich ganz unmerklich die Schwerkraft und man hatte das, was eben noch Wand war, jetzt als Boden unter den Füßen. Am Anfang hatte das Herumklettern in diesem Gebilde ja sogar noch Spaß gemacht, doch die Erkenntnis, in einem unendlichen Gewirr aus Räumen gefangen zu sein, noch dazu allein, machte sie beinahe wahnsinnig. Die immer wiederkehrende Struktur der Tetraeder, die Einsamkeit, die Trostlosigkeit, all das erdrückte sie und ließ sie etwas wie Klaustrophobie spüren. Die Räume schienen mit einem Mal kleiner zu werden, die Wände kamen auf sie zu, und sie sah der Gewissheit ins Auge, in diesem Ding zerquetscht zu werden. Bevor sie von Panik gelähmt wurde, stieß sie einen letzten verzweifelten Schrei aus, einen Schrei, der die Wände der Pyramide zum Beben brachte, der in ihnen Ohren wiederhallte und sie schließlich aufweckte. Aufweckte? Lara Friedrich setzte sich in ihrem Bett auf und schnappte nach Luft, während die letzten Bilder des Alptraumes von ihr abperlten. Ganz in Gedanken griff sie neben sich, um dort Schutz bei Leon zu suchen, bevor ihr wieder einfiel, dass ihr Freund nicht hier war. Wahrscheinlich hatte sie auch nur deshalb schlecht geschlafen, weil sie sich immer noch Sorgen um ihn machte und sich die schlimmsten Visionen ausmalte, wo er stecken könnte. Dann endlich fasste sie einen Entschluss, erhob sich aus dem Bett und ging unter die Dusche. Vielleicht war ihre Idee vollkommen idiotisch, aber sie wusste, sie würde erst wieder ruhig schlafen können, wenn sie auch die letzte Möglichkeit ausgeschöpft hatte, und darum musste sie diesen Schritt wagen.
Eine halbe Stunde später stand sie in den Ruinen des ehemaligen U60311 und hielt nach jedem noch so kleinen Hinweis Ausschau. Um sie herum Trümmer, Schutt und Staub, stumme Zeugen der Explosion, während die lebendigen Zeugen, vorausgesetzt, sie lebten noch, nach wie vor unauffindbar waren. Lara drehte jeden Stein um, untersuchte jeden Winkel, doch sie entdeckte keine Spur von Leon, geschweige denn von irgendjemandem. Einen Augenblick lang sah sie auf das Zeichen an der Wand, das ihr bekannt vorkam, doch sie wusste nicht woher und verdrängte den Gedanken wieder. Es war gruselig, denn es sah nicht aus als seinen zum Zeitpunkt des Unglücks überhaupt Menschen anwesend gewesen, und wenn, dann waren sie wie von Zauberhand verschwunden, genau in dem Moment als die Bombe hochging. Lara erinnerte sich, dass auch sie schon oft hier getanzt hatte, inmitten von Massen ausgelassener Raver, ein Bild, das kein bisschen zu dem passte, das sich ihr jetzt bot. Sie erinnerte sich an die bunten Laserstrahlen, die wummerndes Bässe, die alles zum Beben brachten und den Nebel, der sie manches Mal eingehüllt hatte, so dass sie sich vollkommen allein, aber auch wie in einer noch größeren Menge als der tatsächlichen gefühlt hatte. Der Nebel hatte für sie teilweise die Form der Tanzenden angenommen, wirkte wie ein alles umschließender Tanzpartner, der sie alle zugleich zu einer Einheit zusammenschloss. Das Bild ging Lara nicht aus dem Kopf, während sie auf die Trümmer hinuntersah, die vom Club übriggeblieben waren. Aber einen Augenblick mal, sagte sie sich, in den Nachrichten hieß es doch, die Raver seien durch die Nebelmaschine mit einem Betäubungsgas betäubt worden, und die Bombe sei hochgegangen als keine Bewegung mehr herrschte. Wenn das stimmte und wenn ihre Erinnerung sie nicht betrog, dann dauerte es immerhin noch einige Minuten bis sich der Nebel verzogen hatte. Und wenn es stimmte, was sie immer empfand, dass der Nebel wirkte als tanze er, dann konnte auch der Bewegungsmelder der Bombe ihn nicht von den eingenebelten Ravern unterscheiden. Bis der Nebel sich also verzog, blieb genug Zeit, um noch vor der Explosion aus dem Club zu gelangen, beziehungsweise gebracht zu werden. Laras Gedanken überschlugen sich, und sie war mit einem Mal hellwach. Es war durchaus möglich, dass jemand die Gäste des U vor der Explosion gerettet und an einen sicheren Ort gebracht hatte. Nur wohin? Auf die Straße, das wäre zu auffällig, das hätte garantiert jemand bemerkt. Und auch nach hinten hinaus war unmöglich, folglich gab es nur noch die Möglichkeit, entweder aufs Dach zu steigen und von einem Raumschiff abgeholt zu werden oder aber in den Keller zu flüchten. Lara bahnte sich einen Weg durch die Trümmer und suchte nach der Treppe, die zum Keller und den Lagerräumen führte. Als sie sie gefunden hatte, stieg sie hinab und wunderte sich, dass dieser Teil des Gebäudes viel älter wirkte als der darüber liegende. Noch dazu wurde die Treppe offenbar selten benutzt, und auch die Räume hier unten standen leer. Aber sie waren vom Anschlag verschont geblieben und unversehrt. In jedem Raum sah Lara sich um, konnte aber nichts entdecken, was auf gerettete Raver hinwies und wollte schon aufgeben, als sie in einer Ecke eine weitere Treppe nach unten, entdeckte. Neugierig warf sie einen Blick hinunter, wo nur undurchdringliche Schwärze herrschte. Dann aber stach ihr etwas ins Auge, etwas leuchtendes, was auf der Treppe lag, und was sich bei näherem Hinsehen als ein nietenbesetztes Neonhalsband herausstellte, eines, wie es nur Raver tragen. Nachdem sie es aufgehoben hatte, setzte sie ihren Weg in die Tiefe fort und tastete sich an den Wänden entlang, weil es hier unten stockfinster war.
Die Wege schienen immer tiefer ins Innere des Erdballes zu führen, die Gänge glichen inzwischen Bauten von Tieren, und die Stille war geradezu hörbar. Es sah aus als wäre bisher noch nie eine Menschenseele hier unten gewesen, und dennoch war es noch gar nicht lange her, dass ein Mensch diesen Weg gegangen war. Dann plötzlich durchschnitt ein Geräusch die Stille, ein metallenes Rattern, aus weiter Entfernung zwar, aber nicht weit genug, um keine Gefahr auszustrahlen. Das Echo des Geräusches hallte von den Wänden wieder, und es schien von überall her zu kommen. Angstvoll sah er sich um, starrte in die Schwärze und bewegte sich dann schneller in eine Richtung, von der er hoffte, dass es die richtige war. Dunkle Gerüchte kämpften sich an die Oberfläche seiner Erinnerung und er musste alle Kraft aufbringen, um sie zu verdrängen und seinen Weg fortzusetzen. Ohne auf seine Umgebung zu achten hastete er los, von wilder Panik getrieben und klammerte sich an den letzten Funken Hoffnung, der ihm noch geblieben war. Von überall her glaubte er jetzt Schritte zu hören, Schritte, die näher kamen, die ihn einkreisten. In seiner blinden Angst stieß er sich immer wieder an Unebenheiten, stolperte alle paar Schritte über Steine und schürfte sich die Hände, die Ellenbogen und die Knie auf. Ein Gedanke flackerte in seinem Kopf auf, der Gedanke, dass sie sein Blut vielleicht riechen konnten, und er verband seine Wunden notdürftig mit dem, was einst seine Kleidung gewesen war. Doch es war zu spät. Schon hörte er hinter sich ein ohrenbetäubendes Fauchen, und als er sich umdrehte, konnte er die Gestalt eines Tieres ausmachen, das noch schwärzer war als die Dunkelheit, die ihn umgab. Das Tier, ein Panther, kam langsam und drohend auf ihn zu, seine Augen flackerten gelb und fixierten ihn. Wie gelähmt presste er sich an die Wand hinter ihm, wusste jedoch, dass es kein Entrinnen mehr gab. Sein Schicksal war besiegelt, seine letzte Stunde hatte geschlagen und war schon beinahe abgelaufen. Der Panther fauchte abermals und auch aus allen anderen Richtungen schlichen jetzt Raubkatzen auf ihn zu. Es waren die Säbelzahntiger, die er noch gestern für eine Erfindung, eine Legende gehalten hatte, doch nun standen diese Bestien vor ihm, schlichen in immer enger werdenden Kreisen um ihn herum und bleckten ihre messerscharfen Zähne. Die Sekunden krochen wie Ewigkeiten dahin und als der Panther auf ihn lossprang, fühlte er sich beinahe erleichtert. Die Zähne gruben sich tief in seine Haut, sein Körper wurde zerfetzt, und die Angst in seinem Kopf wich der traurigen Gewissheit, dass dies das Ende war. Kraftlos sank er in sich zusammen, zu schwach, um zu schreien und endlich legte sich eine Ohnmacht wie ein undurchdringlicher Nebel über sein Bewusstsein.
Plötzlich stand er mitten in einem großen quadratischen Raum mit gläsernem, pyramidenförmigen Dach. Um sich herum und über sich schimmerte glasklares blaues Wasser, wodurch das Licht im Raum ebenfalls blau wirkte und der ganzen Atmosphäre etwas unglaublich Beruhigendes verlieh. Das einzige Möbelstück im Zimmer waren ein wuchtiger stählerner Schreibtisch mit einem bequemen Ledersessel dahinter. In diesem Ledersessel saß Arwen van Dyk und versank geradezu in dem großzügigen Arrangement. Sie lächelte ihm zu und bat ihn, näher zu treten. Auf ihren Knopfdruck hin schnellten ein zweiter und ein dritter Sessel aus dem Boden, und Leon nahm darauf Platz. Keine Sorge, besänftigte ihn die alte Frau, ich werde dir gleich alles erklären, was du zu wissen verlangst. Aber vorher müssen wir noch auf jemanden warten. Leon nickte ergeben, weil ihm sowieso nichts anderes übrig blieb, und das schimmernde Wasser an allen Seiten verhinderte, dass er dem Unbehagen, das er verspürte, zu viel Bedeutung zumaß. Und auf wen warten wir?, verlangte er schließlich zu wissen. Arwen verzog ihren Mund zu einem gütigen Lächeln und drückte abermals auf einen Knopf auf ihrem Schreibtisch. Sofort erhob sich ein riesiger Monitor aus dem Boden und flackerte kurz, bevor er ein Bild zeigte. Ich werde es dir zeigen, Leon, kommentierte Arwen und fuhr dann einen Film ab, der zunächst ein leeres Gewölbe zeigte. Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Leon es als den Keller des U60311, und dann trat auch schon eine Gestalt ein, die er nur allzu gut kannte. Es war Lara, und sie tastete sich durch die Dunkelheit des Kellergewölbes. Leon wollte Arwen etliche Fragen stellen, sie brachte ihn jedoch zum Schweigen, indem sie den Finger auf den Mund legte und auf den Bildschirm deutete. Lara tastete sich noch immer durchs Dunkel, ihr Gesichtsausdruck spiegelte eine Entschlossenheit wider, von der Leon wusste, dass sie keinen Widerspruch duldete, und sie schien entschlossen, etwas zu finden, von dem sie genau wusste, dass es nicht weit weg sein konnte. Im Film gab es jetzt einen Schnitt, und Lara wurde aus einer anderen Perspektive gezeigt, vermutlich von einer anderen Kamera aufgenommen, wie sie aus dem Gang heraustrat und in eine schwach beleuchtete unterirdische Grotte eintrat. Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen, und sie machte einige Schritte weiter, bis sie vor einem großen unterirdischen See stand, deren entgegengesetztes Ufer die Kamera nicht mehr erfasste. Während Lara kaum glauben konnte, welches Bild sich ihr bot, geriet das Wasser plötzlich in Bewegung und ein metallener Gegenstand tauchte aus dem Wasser auf, der sich als ein kleines Tauchboot entpuppte. Kaum war es dicht vor Lara aufgetaucht, öffnete sich die Luke und einige Männer stiegen aus. Sie redeten kurz mit Lara, dann folgte sie den Männern ins Innere des Tauchbootes. Leon hätte zu gerne gewusst, über was gesprochen wurde, nur leider hatte der Film keinen Ton, und so musste er sich anhand von Laras Gesichtsausdruck darauf verlassen, dass sie freiwillig mitgekommen war. Die nächste Sequenz zeigte wie das U-Boot abtauchte, durch unterirdische Kanäle bis ins Meer tauchte und schließlich an einem größeren Schiff andockte. Bei jenem größeren Schiff handelte es sich zweifellos um die Atlantis, und allmählich begann Leon zu verstehen. Seine Freundin musste sich auf die Suche nach ihm begeben haben, diese Männer hatten ihr gesagt, sie würden sie zu ihm bringen, und wenn er richtig lag, dann war Lara jetzt auf dem Weg hierher. Arwen fuhr den Monitor wieder herunter und wies dann aus dem Fenster, wo Leon nach genauem Hinsehen die Umrisse der Atlantis erkennen konnte, wie sie auf die Pyramide zusteuerte.
Eine halbe Stunde später saß Lara neben Leon in Arwens Büro, und sie beide lauschten den Erklärungen, der weißhaarigen Frau. Diese Welt, begann sie ihren Bericht, wurde schon immer von mehr oder weniger mächtigen Organisationen regiert. Auch wenn es in der Geschichte vielleicht danach aussieht als hätten oft Einzelpersonen eine Veränderung herbeigeführt, ist dies ein Trugschluss, denn die wahren Drahtzieher blieben schon immer lieber im Hintergrund. Sie machte eine Pause und vergewisserte sich, dass Leon und Lara ihr folgen konnten. Und diese Geheimorganisationen oder Geheimbünde kämpfen seit jeher um die Vorherrschaft in der Welt, beziehungsweise bekriegen sich deswegen. Schon im Altertum wurde die Politik in Wirklichkeit von ganz anderen Mächten als den hinlänglich bekannten Herrschern gemacht, und das ist zum Beispiel auch der Grund für den Untergang des griechischen oder römischen Weltreiches. Einfach, weil die Geheimbünde andere Machthaber sehen wollten und ihre Macht von den jeweiligen Reichen abgewendet haben. Ein gutes Beispiel dafür sind auch die Kulturen der Azteken und der Inka, die ihrer Zeit weit voraus und damit vielen ein Dorn im Auge waren. Die mächtigste Organisation damals nannte sich Eliminate Evolution Enforcement, und hatte es sich zum Ziel gesetzt, keinen Fortschritt, keine Veränderung zuzulassen, die sie nicht abgesegnet hatten. Daher griffen sie schon bald die Azteken an und zerstörten deren Gesellschaft systematisch von inner heraus. Ein noch besseres Beispiel ist Atlantis, eine Kultur, die im frühen Mittelalter ihren Höhepunkt erreichte, und deren Forschung es ihnen sogar schon damals erlaubte, ins All zu fliegen. Sie jedenfalls wurden von der Eleven vollständig vernichtet, und sogar jeder Beweis ihrer Existenz wurde in den folgenden Jahrhunderten ausgelöscht. Dabei wuchs die Macht des Enforcement immer mehr, andere Geheimorganisationen wurden von ihnen unterwandert und schließlich sozusagen aufgesaugt, und doch gelang es der Organisation, über all die Jahre im Verborgenen zu bleiben und lediglich in aller Welt die Fäden zu ziehen. Arwen machte eine kurze Pause, die es Leon und Lara erlaubte, das eben gehörte zu verdauen, dann fuhr sie fort und ließ keinen Zweifel daran, dass die Geschichte, die sie erzählte, der Wahrheit entsprach, auch wenn sie schwer zu glauben war. Selbst die Kirche spurte damals genauso, wie Eleven es verlangte und sorgte weltweit dafür, dass die Menschen nicht aufmuckten, sondern sich dem Alltag ergaben. Ich glaube, ihr wisst selbst, wie viel Fortschritt die Kirche damals verhindert und blockiert hat. Dann, eines Tages tauchte wie aus dem Nichts jedoch jemand auf, der sich Martin Luther nannte, und dem es innerhalb kürzester Zeit – ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass auch er eine starke Rückendeckung hatte, nämlich eine Allianz aller anderen Geheimbünde – gelang, die Mauern der Ordnung der Eleven auf den Kopf zu stellen. Er sorgte mit seiner Reformation der Kirche für eine Aufhebung des Stillstandes, war im übrigen auch für die Literatur ein großer Wegbereiter, und war den Mitgliedern der Eleven natürlich ein Dorn im Auge. Trotz all ihrer Bemühungen dauerte es jedoch etliche Jahre, bis die Freiheit, die Selbstverantwortlichkeit und damit die Macht, die den Menschen verliehen worden war, gebrochen wurde. Mit Charles Darwin gelang es Eleven erst viel später, die Kraft der Kirche zu brechen und eine neue Theorie in die Welt zu setzen, nämlich die Evolutionstheorie. Sie besagt letztendlich nicht mehr als dass wir Menschen nur das Produkt einer Entwicklung sind, und damit Teil eines viel zu großen Systems, das wir sowieso nicht ändern könnten, selbst wenn wir es versuchten. Anstelle des Systems wollte natürlich Eleven treten und bemüht sich bis heute, die Menschheit davon zu überzeugen, dass sie nur ein Furz ist, der nichts bewegen kann und man als Konsequenz daraus wie eine Ameise innerhalb dieses Systems operiert, ohne es je zu hinterfragen. Und wenn ihr euch die heutige Jungend anseht, dann hat Eleven Erfolg gehabt. Wie viele gibt es denn, die resignieren, die keine Perspektive haben, die in ihrer Trostlosigkeit versinken? Wie viele Grufties gibt es, die den Tod herbeisehen, weil sie danach auf eine neue Chance hoffen? Wie viele geben sich auf und glauben Schlagertexten, dass diese Welt das beste ist, was wir erwarten können? Und wie viele hören sich Rapsongs an, die ihnen erklären, wie scheiße die Welt ist, aber dass sie nichts dagegen tun können? Also wenn ihr mich fragt, dann haben die meisten Menschen sich aufgegeben und leben nur noch scheinbar. Und dann plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, kam wieder eine Bewegung auf, die Eleven das Wasser abzugraben drohte. Die Raver. Die Technoszene. Eine Ansammlung junger Menschen, die trotzdem feiert und sich sagt, es ist scheißegal, ob das System in dem wir leben zu stark ist, es ist egal, ob wir nur ein Furz in der Unendlichkeit sind, wir feiern trotzdem und machen das beste daraus. Die Philosophie, die hier durchschimmerte ist für Eleven geradezu bedrohlich, denn sie sagt aus, dass man bei allem immer noch die Chance hat, nicht mitzumachen und mit der Konsequenz zu leben. Doch warum auch nicht, wenn es sowieso keine Aussicht auf eine Änderung des Systems gibt? Diese Auffassung ist es, die Eleven ihren Einfluss kosten könnte, eine Gesellschaft, die sich nicht mehr nach den ihr auferlegten Moralvorstellungen richtet, die keine Grenzen anerkennt, sich nicht unterkriegen lässt und damit frei ist. Arwen machte wiederum eine Pause und sah Lara und Leon an. Die beiden versuchten, die Informationen zu ordnen, was ihnen vermutlich erst nach einiger Zeit gelingen würde, waren aber zu beeindruckt und zu sprachlos, um etwas zu sagen. Arwen lächelte gütig und setzte dann zum letzten Teil ihrer Erklärung an. Da wir das Potential dieser Technobewegung erkannt haben, nahmen wir uns ihrer an und unterstützen sie. Wir, das sind die letzten Überlebenden aus Atlantis, die wir seit Jahrhunderten im Verborgenen leben und uns Unterstützung bei den anderen noch existierenden Geheimbünden holen. Wir wollen der Jugend wieder klar machen, dass sie nicht in einem starren System lebt, sondern diese Welt nach ihren Ideen und ihren Vorstellungen verändern kann, und auch, wenn es eine schwierige Mission ist, erzielten wir in den letzten Jahren immer wieder kleinere Erfolge und untergraben die Macht von Eleven. Ich selbst habe eine Organisation gegründet, die sich Electronic Evacuation Enterprise nennt, und die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Angriffe von Eleven zu vereiteln. Unseren Erfolg sehe ich darin, dass auch wir uns abgekürzt Eleven nennen und daher oftmals unerkannt agieren können, da die Eliminate Evolution Enforcement so groß und so unübersichtlich geworden ist, dass es ihnen oft unmöglich ist, bei allen Aktionen festzustellen, ob eine Aktion von ihnen oder von uns initiiert ist. Daher haben wir euch auch vor der Explosion aus diesem Club herausholen können, ohne Aufsehen zu erregen. Noch dazu haben wir einige unserer Leute in die höheren Positionen des Enforcement einschleusen können und verfügen damit über wichtige Informationen, während unsere Existenz bisher noch weitgehend unentdeckt geblieben ist. Leon und Lara war inzwischen beinahe schwindelig, und als Arwen das bemerkte, hielt sie inne und versprach, sie nicht weiter zu überfordern. Sie empfahl ihnen, sich auszuruhen, und dann in aller Ruhe darüber zu entscheiden, ob sie der Electronic Evacuation Enterprise beitreten wollten. Wenn ja, würde Arwen schon bald einen Auftrag für sie beide haben, wenn nicht, würden all jene Informationen, die sie erhalten hatten, aus ihrem Gedächtnis gelöscht werden, und man würde sie umgehend in ihr altes Umfeld zurückbringen.
Und ich wünsche, dass alle ausgelöscht werden. Dieser Auftrag hat allerhöchste Priorität. Schicken sie unseren besten Mann und sorgen sie dafür, dass diesmal nichts schief geht. Wir dürfen uns keine Fehler mehr erlauben. Das Gespräch wurde abrupt beendet, und der Mann, den man Pik Ass nannte, legte den Hörer auf. Der Auftrag war klar, und er wusste, was er zu tun hatte. Warum hätte er Zeit damit vertrödeln sollen, erst untere Abteilungen einzuschalten, wenn er selbst genau wusste, was zu tun war? Er hatte war in einer Position, in der er selbst Entscheidungen treffen konnte, war nahezu unantastbar. Jahrelang, nein, jahrzehntelang hatte er daran gearbeitet, sich diese Stellung zu verschaffen, Jahrzehnte der Loyalität, Jahrzehnte der Zuverlässigkeit, Jahrzehnte harter Arbeit, die sich schließlich ausgezahlt hatte. Und sogar besser noch als er es sich je erträumt hatte. Er hatte immer schon den Wunsch gehabt, irgendwann einmal in die Königsränge der Eleven aufzusteigen, und jetzt hatte er es bis zum zweithöchsten Rang geschafft, war, ohne zu übertreiben, der zweitmächtigste Mann dieser Welt. Allerdings hatte er auch viel dafür aufgeben müssen, hatte sein Leben lang nur für seine Ideologie, für die Organisation, für sein Fortkommen gelebt und dabei mehr als nur seine Frau hinter sich zurückgelassen. Auch wenn er heute der Welt befehlen könnte, ganz Europa in Schutt und Asche zu legen oder den Mond zu sprengen, hatte er einen hohen Preis dafür bezahlt und war im Grunde arm. Alles, was er hatte, war die Macht, ansonsten war er leer, eine Hülle, leblos. Er wusste heute nicht mehr, was ihn getrieben hatte. War es eine Art Patriotismus? Märtyrertum? Die Suche nach einem Sinn im Leben? Und dennoch war es wichtig, dass es Menschen wie ihn gab, Menschen, die bereit waren, alles für eine Idee aufzugeben, denn ohne sie würde diese Welt im Chaos enden. Sämtliche Despoten in der Geschichte waren von einer Idee besessen und hatten alles für sie aufgegeben, und darum musste es auch auf der anderen Seite Fanatiker geben, damit die Welt im Gleichgewicht blieb. Nicht immer war es ihm leicht gefallen, und manches Mal hatte er Dinge wie Freude, Glück und Liebe in seinem Leben vermisst. Inzwischen sah er sich als Gefangener, als Gefangener seines Schicksals, der wenigstens die Gewissheit hatte, für die richtige Seite zu arbeiten und noch dazu einen Job zu machen, der unbedingt notwendig war. Ohne zu zögern griff der Mann wieder zum Telefon und wählte eine Nummer. Als am anderen Ende abgehoben wurde, gab er den Auftrag weiter wie er ihn von ganz oben empfangen hatte und gab seine Anweisungen. Setzen sie sich umgehend mit Neo in Verbindung und erklären sie ihm, was er zu tun hat, ordnete er an, Ach und weisen sie ihn darauf hin, dass dies seine letzte Chance ist. Er wird schon verstehen, was damit gemeint ist. Dann ließ er den Höher wieder auf die Gabel fallen und lehnte sich zurück. Der nächste Anschlag war von jetzt an nicht mehr aufzuhalten, und er wusste, dass er die Blicke der Öffentlichkeit auf sich ziehen würde. Selten in der Geschichte von Eleven hatte es derart offene Attacken gegeben, und dennoch konnte er sich sicher sein, das man früher oder später eine plausible Erklärung dafür finden würde, die man der Öffentlichkeit präsentierte. Zur Not mussten eben wieder einmal arabische Terroristen herhalten, und es musste ein Krieg geführt werden, um die Welt von der Existenz von Eleven abzulenken. Es wäre ja nicht das erste Mal in der Geschichte, dass haarsträubende Geschichten erfunden wurden, um eine Aktion des Enforcements zu erklären. Pik Ass lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte. Wenn er schon alles in seinem Leben für die Macht aufgegeben hatte, konnte er die wenigstens genießen. Denn wenn er es sich recht überlegte, war er keinesfalls nur die Nummer Zwei in der Welt. Sein Wissen konnte ihn schon bald unweigerlich zur Nummer Eins machen, und dann brauchte er endlich keine Spielchen mehr spielen, sondern hatte die uneingeschränkte Entscheidungsgewalt und würde sie auch für sich und nur für sich nutzen. Vielleicht hatten die Jahre ihn hart gemacht, aber sie hatten ihm auch die hohen Positionen schmackhaft gemacht und ihm gezeigt, dass man alles erreichen konnte. Noch hatte er Verpflichtungen und war in gewisser Weise zwei Menschen Rechenschaft schuldig, doch sobald dies vorbei war, würde er nur noch an sich denken und beide ausschalten. Immer noch lächelnd griff er ein weiteres Mal zum Telefon und zündete sich entspannt eine Zigarre an.
Er blies den Rauch aus und raufte sich die Haare. Wenn es stimmte, was er eben gehört hatte, dann bekam diese Sache eine ganz neue Qualität. Leider verstand er es noch nicht und wusste daher auch nicht, wie er es bewerten sollte. Nur eines wusste er ganz sicher, er ließ sich nicht einfach etwas verbieten. Er hatte hier einen Job zu verrichten, und genau das würde er auch tun. Wütend drückte er die Zigarette in den Aschenbecher und zog eine neue aus der Schachtel. Dann raufte er sich die Haare und rief nach Cornelia. Seine Kollegin kam sofort, und er hatte das Gefühl, ihr Gesicht zeige einen Ausdruck, den er bisher noch nicht kannte. Sie lächelte wie stets und fragte, womit sie ihm helfen könne. Färber blies den Rauch in einer fahlen Wolke aus, dann bestimmte er: Machen sie sich bereit, Paulchen, mit mir zur Mayday zu fahren. Cornelias Augen weiteten sich, und sie schien nicht zu verstehen, was er meinte. Das ist eine große Technoparty, erläuterte Färber, wo Tausende Verrückte zu dieser grässlichen Musik herumhüpfen, und wir werden auch dort sein, um zu beobachten, ob etwas geschieht, was uns in unserem Fall weiterhelfen kann. Jetzt riss die junge Frau mit den umwerfend langen Beinen sich aus ihrer Erstarrung und fragte: Aber woher wollen sie denn wissen, dass dort etwas passiert? Und überhaupt dachte ich, man hat sie von dem Fall abgezogen... Färber setzte ein vielsagendes Lächeln auf und bestätigte ihr dann, dass er gerade eben einen Anruf erhalten habe, er solle sich von dem Fall und besonders von Eleven fernhalten. Doch er war lange genug Polizist, erklärte er weiter, als dass er sich vorschreiben ließ, welche Ermittlungen er zu machen und welche er zu lassen hatte. Und was die Mayday angeht, fügte er resolut hinzu, nennen sie es einfach Spürsinn. Darauf hatte Cornelia keine Antwort, und sie verließ auf dem schnellsten Wege sein Büro, um nicht auch noch Ziel seiner Wut zu werden. Als sie den Raum verlassen hatte, lächelte Färber zufrieden und steckte sie eine neue Zigarette an. Er ließ sich nicht den Mund verbieten und auch eine mysteriöse Organisation, über die niemand etwas wusste, und vor der offenbar jeder Angst hatte, jagte ihm keinen Schrecken ein. Außerdem hatte er das Gefühl, nah dran zu sein, nah genug jedenfalls, um weitere Schritte zu gehen und zu nah, um jetzt aufzugeben. Wenn er das richtig sah, und er wusste, er sah das richtig, denn er hatte einige Jahre Berufserfahrung auf dem Buckel, dann hatte es Eleven darauf abgesehen, Technoveranstaltungen in Schutt und Asche zu legen und die Besucher vorher zu entführen. Warum, wusste er nicht und konnte es sich auch nicht vorstellen. Vielleicht wollte er es auch nicht wissen. Er wollte die Sache nur aufklären, den Fall zu einem Abschluss bringen und einen weiteren Erfolg verbuchen. Selbst wenn sich hinter Eleven eine große Organisation verbarg, und das tat es scheinbar, denn niemand sonst wäre zu derart sauberen Verbrechen fähig gewesen, ließ er sich davon nicht einschüchtern. Er wusste, er stand auf der richtigen Seite, und die gewann am Ende immer. Und er konnte sich in die Verbrecher hineindenken, glaubte zu wissen, was sie vorhaben. Zwar kannte er nicht ihr Ziel, doch ihre Vorgehensweise war für ihn wie ein offenes Buch. In aller Welt entführten sie Raver und zerstörten deren Versammlungsorte. Und als nächstes würden sie sich eine noch größere Veranstaltung aussuchen, einen bedeutenderen Coup landen, denn ihrer Vorgehensweise entnahm er, dass sie ihre Attentate nicht nach Effizienz, sondern nach einem bestimmten Muster, nach ästhetischen Aspekten planten. Und darum glaubte er, könnte diese riesige Veranstaltung, die sich Mayday nannte, ihr nächstes Ziel sein. Selbstverständlich agierte er keinesfalls aus einem Mitgefühl für die Opfer, nein, er mochte diese ausgeflippten, dem Hedonismus frönenden jugendlichen Tänzer genauso wenig wie vermutlich Eleven. Dennoch handelte er aus seinem Pflichtbewusstsein heraus, weil es nun einmal seine Aufgabe war, und weil er sie zu erfüllen hatte. Wenn jeder nur täte, was er mochte, oder sich von etwas abhalten ließ, weil es ihm Angst machte, würde dieses Land früher oder später im Chaos versinken. Niemand kam ohne eine Aufgabe auf die Welt, jeder hatte eine Bestimmung, einen Auftrag, den er auszuführen hatte. Jedenfalls war das früher der Fall gewesen, und war es auch heute noch, egal, was manche Jugendlichen sich einbildeten und wie viel Scheiße sie im Hirn hatten. Und seine Aufgabe war es, diesen Fall zu lösen und hinter das Geheimnis von Eleven zu kommen. Nicht mehr und auch nicht weniger.
Nur wenige Stunden später hatten Färber und Cornelia Paul Dortmund erreicht und bahnten sich einen Weg, vorbei an den Schlangen vor den Westfalenhallen. Dumpf dröhnende Bässe empfingen sie, und überall hüpften junge Menschen ausgelassen um sie herum. Von einigen wurden sie angesehen als kämen sie von einem anderen Stern, denn ihr Alter lag deutlich über dem Durchschnitt, und auch Färbers ansonsten unauffälliger dunkelgrauer Anzug mit weinroter Krawatte zog hier die Blicke auf sich. Überall um sie herum Jungs und Mädchen mit perfekt zuckenden Körpern, über allem Nebelschwaden, zuckende Lichter und diese unerträgliche und unerträglich laute Musik. Färber hatte keinen Schimmer, wie er sich dazu bewegen sollte und ließ sich von Cornelia Feuer geben, um seine Unsicherheit zu überspielen. Es war lange her, dass er sich an einem Ort vollkommen deplaziert vorgekommen war, doch in diesem Vorhof zu Hölle traf genau das zu. Er fühlte sich wie ein Guppy inmitten von Piranhas, unfähig, dem schnellen Rhythmus zu folgen, nicht in der Lage, Schritte und Bewegungen zu imitieren, umwirbelt von einer homogenen Masse, zu der er nicht gehörte. Die Musikböen fegten alles aus dem Hirn, er wurde hilflos umhergewirbelt in diesem Orkan aus Sound, Licht und Ravern, fand keinen Halt und dachte daran, sich zu übergeben. Ein Blick herüber zu seiner Kollegin verriet ihm, dass es ihr nicht anders erging, und dennoch schaffte sie es, in der Menge unterzutauchen, sich anzupassen und nicht zur Zielscheibe geringschätziger Blicke zu werden. Und dennoch war er sich sicher, das Richtige zu tun. Wenn hier etwas passieren sollte, betonte er selbstsicherer als er sich fühlte, dann wird es uns auffallen, und wir werden es verhindern. Cornelia zog ihn mit sich in eine Ecke, in der es weniger laut war, und in der man sich nicht bei jedem Schritt auf die Füße trat. Zwar war es immer noch laut genug und jeder Ton tat in den Ohren weh, aber im Vergleich zu vorher war die Lautstärke hier eine Wohltat. Cornelia erklärte ihm, sie müsse mit ihm reden, und er trat näher an sie heran, um sie besser verstehen zu können. Bevor er wusste, was geschah, spürte er, wie die Mündung einer Waffe sich gegen seine Hoden drückte, und das Gesicht seiner Mitarbeiterin erstarrte zu einer eisigen Maske. Aber... aber Paulchen, was..., stammelte Färber und versuchte zu verstehen, was hier vor sich ging. Du hättest auf den Rat hören sollen, Färber. Wenn du wie geraten deine dreckigen Finger von der Sache gelassen hättest, wäre alles in bester Ordnung gewesen. Aber Eleven mag es nun einmal nicht, wenn man der Organisation zu nahe kommt. Färber ließ seine Zigarette fallen und wagte es nicht, sich zu bewegen, denn die Pistole seiner Kollegin drückte nach wie vor in seine Weichteile. Mit einem raschen Blick sah Cornelia um sich, vergewisserte sich, dass niemand auf sie aufmerksam geworden war, dann drückte sie mehrmals ab. Die Schüsse wurden vom lauten Knallen der Bässe übertönt und niemand bemerkte, wie der Polizist in einer Ecke leblos zusammensank. Alle tanzten sich in eine andere Realität und nahmen nichts mehr wahr außer den Vibes, von denen sie hofften, sie würden sie in eine bessere Welt transportieren.
Tausende von Menschen sprangen, zuckten, tanzten als gäbe es kein Morgen, feierten als sei das der Inhalt ihres Lebens und als könnten sie dabei alles, was sie sonst bedrückte, vergessen. Und das schlimmste daran, sie sahen tatsächlich glücklich aus. Ausnahmslos alle hatten ein Lächeln im Gesicht, kreischten vor Freude und die positiven Schwingungen, von denen sie dauernd sprachen schienen hier greifbar zu sein. In diesem Augenblick, in dieser Nacht waren sie alle eine große Familie, gehörten alle zusammen und waren unbesorgt glücklich. Der Floor war eine Zone, in die nichts Negatives eindringen konnte, eine Enklave der Lebensfreude, Ausdruck der Sorgenfreiheit. David sah ihnen zu, und eine nicht benennbare Beklemmung stieg in ihm auf. Zuerst nur ein bleierner Klumpen im Magen, dann ein Kloß im Hals und schließlich ein Surren in seinem Kopf, von dem er nicht wusste, woher es kam und was es bedeutete, das er aber auch nicht abstellen konnte. Doch ihre primitive Freude am Leben würde er abstellen können, diesmal würden ihm keine Fehler unterlaufen, dafür hatte er gesorgt. Dafür hatte Eleven gesorgt. In seiner Hand hielt er die ultimative Waffe gegen die Raver, er würde sie mit ihren eigenen Waffen schlagen, Waffen, von denen er selbst bis gestern nicht gedacht hatte, dass sie existierten. Am Nachmittag rief sein Auftraggeber bei ihm an und erklärte ihm, was er zu tun hatte. Der Auftrag lautete, die Mayday, jene riesige Technoparty, in ein Blutbad zu verwandeln, das Leben dieser tobenden Masse mit einem Schlag aushauchen. Als er hörte, wie er vorgehen sollte, konnte er es zunächst nicht glauben, hielt es nicht für möglich. Dabei wusste er nur zu gut, Eleven war mächtiger als alles, was er kannte und zu allem fähig. Das Enforcement war es, das weltweit den technischen Fortschritt überwachte, vorantrieb und zu seinen Zwecken nutzte. Der Plan war einfach und genial. Man hatte ihm einen Satz Schallplatten zukommen lassen, die auf den ersten Blick aussahen wie ganz normales Vinyl. Auf den zweiten Blick oder besser beim Hinhören waren sie aber die perfekte Waffe für seine Mission. Die Scheiben waren schon vor Monaten in einem Forschungslabor in Japan entwickelt worden, und sein Auftrag bestand lediglich darin, sie gegen andere Vinyls der DJs auszutauschen und darauf zu achten, dass sie hier aufgelegt wurden. Er würde sich auf jedem Floor zum DJ-Pult schleichen, eine Platte aus der Hülle nehmen und durch seine ersetzen. Dabei musste er zwar vorsichtig sein, um nicht gesehen zu werden, weil das Fragen aufwerfen würde, aber er hatte schon weit kompliziertere Missionen erfüllt. Und wenn der DJ seine Scheibe dann auflegte, geschah das, womit niemand rechnete und wogegen sich niemand wehren konnte. Die Töne auf der Platte waren nämlich so konstruiert, dass sie durch den Gehörgang aller sofort ins Gehirn drangen und dort zur sofortigen Überlastung führten. Neo hatte es selbst nicht glauben wollen, erst als ihm ein Video mit Versuchsreihen geschickt wurde, konnte er sich selbst von der Wirksamkeit überzeugen. Sobald die dortigen Testpersonen den Klängen ausgesetzt wurden, fingen sie wild an zu zucken, verdrehten die Augen, und nur wenige Sekunden später schossen Fontänen von Blut aus ihren Ohren. Sie brachen zusammen und jede Rettung kam dann zu spät. Man hatte erklärt, die unterschwelligen Töne bewirkten eine sofortige Auflösung der Hirnmasse und sorgten damit für einen schnellen, aber qualvollen Tod. Neo musste nach dem Austausch nur zusehen, dass er schnell wegkam, alles weitere erledigte sich praktisch wie von selbst. Da niemand von dieser Technik wusste oder sie auch nur für möglich hielt, würde ihn auch niemand aufhalten können, und sobald die Scheiben aufgelegt waren, gab es kein Zurück mehr. David besah sich die Vinyls noch einmal, bevor er zur Tat schreiten wollte.

☻ ELEVEN ☻

Der Schriftzug Eleven zwischen zwei schwarzen Smileys stand auf jeder von ihnen, ansonsten unterschieden sie sich durch nichts von den Scheiben, die hier ansonsten aufgelegt wurden. Er bahnte sich einen Weg durch die Menge, einerseits siegessicher, andererseits besorgt, weil er sich auch beim letzten Auftrag gesagt hatte, es könne nichts schief gehen. Hey, hast du Bock zu tanzen?, fragte ihn plötzlich ein Mädchen und stellte sich in seinen Weg. David schüttelte stumm den Kopf und wollte sich an ihr vorbeidrängen als sich noch jemand vor ihm aufbaute. Komm schon, du siehst angespannt aus. Tanz mit uns. Das befreit. Mühevoll unterdrückte Neo den Impuls, die beiden anzubrüllen und versuchte ihnen auszuweichen. Er wusste genau, was sie wollten, nämlich zuerst freundlich zu ihm sein, und ihn dann auslachen, weil er nicht war wie sie, weil er nicht dazugehörte. So war es immer gewesen, zuerst taten sie freundlich, und am Ende ließen sie ihn fallen, weil er niemals genauso schön, locker, glücklich, sorglos und frei sein konnte wie sie. Ich bin kein Raver, stellte er fest und hoffte, die beiden damit loswerden zu können. Na und? Das macht doch nichts, entgegnete das Mädchen lächelnd, du bist hier, wir sind gut drauf, und wir wollen einfach mit dir feiern, damit du auch gut drauf kommst. Zuerst überlegte David, ob sie ihm vielleicht Pillen verticken wollten, aber das verneinten sie und behaupteten, sie seinen leider nur zu zweit und darum auf der Suche nach netten Leuten, mit denen sie abfeiern konnten. Daraufhin stellten sie sich als Lara und Leon vor, und Lara ergriff sofort Davids Hand und schüttelte sie. Komm schon, bat sie noch einmal, tanz mit uns. Und Leon setzte hinzu: Suchst du etwa nie neue Freunde? Komm schon, gib dir einen Ruck. Die beiden waren entweder komplett durchgeknallt oder stupide genug, um das, was sie da abließen echt zu glauben. Pappen, Teile, weißer Schnee, bis ich grüne Männchen seh, sagte David sich und versuchte wiederum, den beiden Durchgeknallten auszuweichen. Die ließen aber nicht locker, hielten ihn jetzt sogar fest und fragten nach dem Grund, warum er denn hier sei, wenn er nicht tanzen wolle. Wer sich nicht bewegt, spürt auch seine Fesseln nicht, warf Leon ihm an den Kopf und schenkte ihm ein wissendes Lächeln. Komm schon, David, du weißt doch selbst, wie gerne du aus dir herausgehen würdest. Tu es einfach. Vergiss alles andere und trage die Konsequenzen. Um ein Haar hätte David lachen müssen. Die Konsequenzen tragen. Als wenn das in seiner Situation einfach wäre. Sicherlich konnte er sich schöneres vorstellen als ständig den Racheengel zu spielen. Doch er hatte nun einmal einen Auftrag, und den musste er erfüllen, weil ihm sonst eine Strafe drohte, eventuell sogar die Verbannung in die New Yorker Unterwelt und der grausame Tod durch die Säbelzahntiger oder was immer es noch da unten gab. Wenn er ein Raver hätte werden sollen, dann hätten diese beiden Gestalten früher zu ihm kommen müssen, vor jenem Tag an dem er beschlossen hatte, dass es nicht möglich war, in diese Szene hineinzukommen. Inzwischen hatte er seinen Platz gefunden, war ein Rädchen in einem System, das stärker war als sie alle, und hatte nicht vor, die Sicherheit, die er dadurch gewann, aufs Spiel zu setzen. Jetzt hör mir mal zu, redete Lara weiter auf ihn ein, Eleven ist auch nicht allmächtig. Es gibt andere, die Eleven den Kampf ansagen, und bei denen du nicht fürchten musst, bei jedem Missgeschick den Ratten zum Fraß vorgeworfen zu werden. Wie vom Blitz getroffen blieb David erstarrt stehen und sah die beiden fassungslos an. Wer waren sie? Woher wussten sie dinge, die sie nicht hätten wissen sollen? Wie viel wussten sie über ihn und den Grund, aus dem er hier war? Leon und Lara ließen ihm jedoch keine Zeit, seine Fragen zu stellen, sondern klärten ihn darüber auf, was ihre Mission war, und dass diese etwas mit der Rettung tausender Menschenleben zu tun hatte. Sie erzählten ihm, was sie über Eleven wussten, sprachen von der Pyramide unter dem Atlantik, von U-Booten und davon, dass sie ihn mit allem Wissen, was er über Eleven hatte, gut gebrauchen konnten. Denk drüber nach, überleg dir, auf welcher Seite du stehen willst, David. Das Surren in seinem Kopf verstummte plötzlich, er würgte den Kloß hinunter, und auch der Klumpen in seinem Magen löste sich langsam auf. Dann hob er die Platten, die er noch immer in der Hand hielt in die Luft, ließ sie mit einer schnellen Bewegung niedersausen und zerbrach sie über seinem Knie. Danach folgte er Leon und Lara auf die Tanzfläche und spürte zum ersten Mal die Verbundenheit unter den Tänzern, nach der er sich immer gesehnt hatte. Gemeinsam mit Leon und Lara ließ er sich in die Musik fallen, tauchte darin ein und fühlte die Vibes, die ihn auf sanften Wellen forttrugen.
Sich ihren Weg durch die Wellen bahnend steuerte die Atlantis auf die Pyramide zu und entließ ihre Fahrgäste schließlich in deren Inneres. Lara schaute belustigt zu, wie David den Mund vor Staunen nicht mehr zubekam, immer noch guckte er hinaus in die unendlichen Tiefen des Meeres und ließ die Schönheit dieser Welt auf sich wirken. Lara fühlte, wie Leon ihre Hand ergriff und sie sanft zu sich zog. Sie schmiegte sich an ihn und erwiderte seine Küsse, die ihr noch immer und in dieser unwirklichen Umgebung erst recht einen Schauer über den Rücken laufen ließen. Sie war froh, dass sie ihre erste Mission erfolgreich hinter sich gebracht hatten. Anfangs hatte sie daran gezweifelt, dass David sich umstimmen lassen würde, doch Arwen war von vorneherein davon überzeugt gewesen, dass sich hinter dem Killer Neo jemand verbarg, der sich nach menschlicher Wärme sehnte und im Grunde nur seine Schwächen zu kompensieren versuchte. Trotzdem hatte Laras Herz auf der Mayday bis zum Hals geschlagen, weil sie wusste, was auf dem Spiel stand, und sie wusste, Leon war es nicht anders ergangen. Jetzt aber wurden sie von der dunkelhäutigen Schönheit, die Leon schon bei seinem ersten Besuch empfangen hatte, abgeholt und freudig begrüßt. Mit einem Seitenblick auf David stellte Lara fest, dass dieser von dem schönen Körper, der da vor ihm stand, völlig fasziniert war und seinen Blick kaum in eine andere Richtung lenken konnte. David, ich freue mich, dich endlich kennen zu lernen. Dann führte sie die drei in Arwens Büro unter der Glaskuppel, wo sie Bericht über ihre Mission erstatteten. Während Lara und Leon redeten, starrte David noch immer auf ihre schöne Begleiterin, und Lara entging nicht, dass auch sie nicht abgeneigt schien. Später würden die beiden sich vermutlich in eine der Kabinen zurückziehen und auf einem der runden Betten die heißeste Liebesnacht verbringen, die David sich je erträumte. Ihr würde es gelingen, die letzten Zweifel an seinem Frontenwechsel zu vertreiben, denn letztlich gab es nichts wirksameres als Sex, um Männer für eine Sache zu begeistern oder um sie zu überreden. Zuvor aber wollte Arwen den neuen Mann in ihren Team noch gebührend empfangen, und Lara freute sich schon jetzt auf das Festmahl mit dem die zelebriert werden würde. Wir haben einen wichtigen Sieg errungen, erhob die weißhaarige Frau ihre Stimme, es ist uns gelungen, das Leben tausender Menschen zu retten und Eleven eine schwerwiegende Niederlage beizubringen. Etwas in ihrem Tonfall störte Lara und ließ sie hellwach aufhorchen. Und wirklich, als Arwen weitersprach, stellte sich ihre Ahnung als wahr heraus, und die folgenden Worte erschütterten sie zutiefst. Aber leider hat Eleven auf der anderen Seite auch einen Sieg über uns errungen, indem sie herausgefunden haben, wer unser Spion, die undichte Stelle in ihrem System war. Der Mann, über den wir über alles unterrichtet wurden, was Eleven plante, nannte sich Pik Ass und hatte beim Enforcement eine Position inne, die ihn beinahe über jeden Zweifel erhaben machte. Beinahe. David, Leon und Lara blickten betreten zu Boden, denn sie ahnten, wie Arwens Rede weitergehen würde, ahnten, was mit jenem Mann geschehen war oder geschehen würde. Doch es war nicht nur das, es war noch schlimmer, und Lara lief ein Schauer über den Rücken als Arwen weitersprach. Jener Pik Ass wurde vor dreißig Jahren auf meinen Auftrag hin bei Eleven eingeschleust, und ich versichere euch, wenn ich damals geahnt hätte, welches Ende diese Geschichte nimmt, hätte ich mich anders entschieden. Keine Ideologie und keine Organisation der Welt ist es wert, dass man sein Leben dafür gibt, denn es ist das einzige, das wir haben. Bitte nehmt euch das zu Herzen und denkt immer daran, dass ihr in euren Entscheidungen frei seid. Trotzdem wird unser Kampf weitergehen, wir werden uns auch in Zukunft darum bemühen, Eleven zu bekämpfen und die Menschheit vor der Knechtschaft zu bewahren. Aber jetzt feiert euren Sieg und genießt euren Erfolg. Damit wandte sie sich ab und verließ den Raum. Lara folgte Leon und David betreten in den großen Saal, in dem schon ein üppiges Festmahl aufgebaut war. Sie konnte noch immer nicht verarbeiten, was in den letzten Tagen alles passiert war und erwartete noch immer, jeden Moment aus ihrem Traum hochzuschrecken und in ihrem Bett aufzuwachen. Später dann verriet Leon ihr, dass es ihm ganz genauso ging.
Als er erwachte, hatte er keine Ahnung wo er sich befand oder wie er hierher gekommen war. Er schlug die Augen auf und sah sich um wie ein Tier, das man über nacht in einen Käfig gesperrt hatte. Sein Nacken schmerzte als er den Kopf drehte, unverkennbar ein Überbleibsel einer harten Nacht, nur das die Ereignisse sämtlich im Dunkel seiner Erinnerung verschollen waren. Dunkel war es auch um ihn herum, kein Licht drang durch ein Fenster, es gab noch nicht einmal Fenster. Tastend und suchend erkundete er seine Umgebung, immer auf einen Hinweis wartend, der ihm als Anhaltspunkt für seine Erinnerung dienen konnte. Er hatte auf dem Boden gelegen, rappelte sich jetzt hoch und stellte erneut fest, dass er jeden verdammten Muskel seines Körpers spüren konnte, weil ihn alles schmerzte. Einiges war sicher auf seine harte Ruhestätte zurückzuführen, doch bei weitem nicht alles, denn diese Art von Schmerzen kannte er bis jetzt nicht und sie rührten von äußeren Einflüssen her. Mühsam kam er auf die Beine, stützte sich mit einer Hand an der dreckigen Wand ab und drehte den Kopf in alle Richtungen. Genaugenommen gab es nur zwei Richtungen, eine nach links, die andere nach rechts, hinter ihm und vor ihm befand sich in geringer Entfernung eine Mauer, die sich nach oben hin wölbte und schließlich zu einem Tunnel schloss. Nach rechts und links hin aber erstreckte sich der Tunnel scheinbar in die Unendlichkeit. Ein langer, dunkler Tunnel, sonst gar nichts, nur ab und zu eine Lampe an der Decke, die einen Teil der Dunkelheit mit ihrem fahlen Licht erfüllte. Eine Ratte huschte nur wenige Zentimeter an ihm vorbei, und er kramte in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen, die er nicht finden konnte. Auch hier herrschte absolute Dunkelheit. Nichts, er konnte sich an nichts erinnern. Nicht, wie er hierher gekommen war, nicht, was gestern passiert war, nicht einmal an das Leben, das er geführt hatte, bevor er in diesem Tunnel aufgewacht war. Es war als habe er seine gesamte Identität verloren, und es gab nur noch die dreckigen Wände dieses Tunnels und die Schmerzen seiner geschundenen Gliedmaßen. Und die Ratten. Überall sah er sie jetzt und es schien als beobachteten sie ihn, warteten vielleicht darauf, dass er in Panik geriet und zusammenbrach. Diesen Gefallen würde er ihnen jedoch noch nicht tun. Er hatte ein Leben da draußen, Menschen, die auf ihn warteten, ein Zuhause, in das er zurückkehren konnte. Plötzlich hörte er ein Geräusch aus der Ferne, ein dumpfes Grummeln, eine Art Rauschen, etwas, das klang, ja, etwas das klang als würde ein Zug vorbeifahren. Das Rauschen schwoll zunächst an, dann ebbte es langsam wieder ab und entfernte sich. Mit einem Mal war er sich sicher, dass es ein Zug gewesen sein musste, ein Zug oder eine U-Bahn, die nicht weit von ihm vorbeigerauscht war. Und mit einem Mal hatte er auch eine Idee, wo er sich befand, nämlich in einem der Tunnels unter der Stadt New York. Er konnte nicht sagen, woher ihm dieser Geistesblitz kam, doch er war sich ziemlich sicher, das dieser Tunnel zu dem großen System unterirdischer Gänge unter dem Big Apple gehören musste. Und wenn es so war, dann würde es auch einen Weg nach draußen geben, einen Weg ans Licht, das ihm vielleicht seine Erinnerung zurückbrachte. Ohne weiter zu überlegen, wandte er sich nach links und tat den ersten Schritt. Es war egal, ob er sich nach links oder rechts hielt, beide Wege konnte falsch sein, und wie oft im Leben kam es nur darauf an, dass man sich entschied und einen Weg ging. Früher oder später würde ihn dieser Weg nach draußen bringen. Einen Fuß vor den anderen setzend und sich an der Wand entlang tastend, kam er vorwärts, Schritt für Schritt.


THE END

 

Hi!
Danke für deine Kritik. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Geschichte so schnell gelesen wird, denn die Szenenwechsel sind ja doch etwas gewöhnungsbedürftig. Nach den Fehlern werde ich bei Gelegenheit noch mal suchen.
Kennst du "Illuminatus" eigentlich? Mich würde nämlich mal die Meinung von jemandem interessieren, der das gelesen hat. Und auch sonst würde ich zu gerne noch einige Kommentare hören.

 

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