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atemlos-
Erschöpft seufzend, aber mit einer umso energischeren Bewegung, schleuderte Sina den ausgefransten Rucksack von der Schulter. Er landete mit einem Rappeln und einem beunruhigendem Klirren auf dem Holzboden, wo er unschuldig dreinschauend liegen blieb. „Ernsthaft jetzt?“ Gereizt bückte Sina sich hinunter, um mit ungeduldigen, aber möglichst behutsamen Handgriffen die Tasche zu durchwühlen. Hinaus zog sie mehrere Bücher, eine Wasserflasche aus Glas, Laptop und dazu passendes Kabel, ein Mäppchen mit Stiften, drei Lakritz Bonbons mit speckig aussehender Verpackung und schließlich ihr Portemonnaie, was sie alles achtlos beiseitelegte, als sie die Schweinerei entdeckte. Etwas ekelhaft schmieriges, was ursprünglich mal der Inhalt einer Tupperdose mit Lauchsuppe gewesen sein musste, klebte zwischen den Seiten ihres vollgekritzelten Collegeblocks, in dem unter anderem eine Bescheinigung über ihr FSJ, für die Kindergeldkasse, gesteckt hatte. Angewidert versuchte Sina den Block aus der Tasche zu nehmen, ohne die klebrigen Suppenreste zu berühren (un-identifizierbare Klumpen, grau und matschig kleben sie an ihrer Hand, werden Teil ihrer Haut, werden ein Teil von ihr, sie ist nur grau-und-matschig, seltsame Gerüche, erstickende-Enge. Er-stickt; er stickt ihre Kehle zu, zu nah, zu nah-von innen, kein Entkommen, wo-ist-die-Luft?), und legte ihn auf den Terrassenboden. Die sahnige Flüssigkeit zog sich vor allem an der rechten Seite entlang, und die Blätter hatten bereits angefangen sich leicht zu wellen. Sie öffnete den Block vorsichtig und verzog das Gesicht, als sie bemerkte, dass zusätzlich zu den fleckigen Rändern ihre Schrift an vielen Stellen, wo sie mit Füller oder Fineliner geschrieben hatte, nun unleserlich war. Sie blätterte weiter und zog schließlich ihre Bescheinigung aus dem hinteren Teil des Blockes. Sie war zwar noch lesbar, aber an den Rändern zerknickt und wellig und hatte einige leicht bräunliche Wasserflecke. Sina hoffte nur, dass sie das Dokument trotzdem würde nutzen können.
(Und wenn nicht? Sie spürte ihr Herz gegen die Bauchdecke schlagen, merkte wie es klopfte und immer nur schneller klopfte; bis zum Hals, durch ihren Mund, sodass es vor ihr auf dem Boden lag, ein ekelhafter Klumpen, mit sich windenden blutroten Strängen, deren Pulsieren immer schwächer wurde. Und da!- ein verzweifeltes Schnappen nach Luft, das den Klumpen einen Augenblick wie von innen heraus leuchten ließ, aber keinen Bestand hatte, keinen Bestand haben konnte, weil er leblos war; leblos wie die pergamentene, gelblich bleiche, schwache; so schwache Hand von-) Mit scharfen Zügen versuchte sie Luft in ihre Lungen zu quetschen, die nicht spüren wollten; atmete durch ihre Panik hindurch, bevor sie sich mit aller Kraft wieder auf das Dokument in ihren Händen zu konzentrieren versuchte und es ein wenig von sich und den anderen Gegenständen entfernt, in die Sonne zum Trocknen legte. Mir geht es gut. Mir geht es gut. Mir geht es gut! Sie stand einen kurzen Moment auf, um die schmerzenden Beine zu strecken. (Sie atmete, sie lebte, sie spürte die Wärme der Sonne beinahe schmerzlich auf ihren bloßen Armen.) Dann erst kniete sie sich wieder auf die geriffelten Holzplanken und machte sich daran, den schmutzigen Inhalt des Taschenbodens (alte Kassenbons von H&M, Aldi, Thalia…, Bonbonpapiere und die geöffnete, aber immer noch halb volle Dose mit der Suppe) heraus zu kramen, bevor sie ein weiteres Mal ächzend aufstand, den nun leergeräumten Rucksack hoch nahm und die zwei Treppenstufen der Terrasse hinunter tapste. Die Schluchzer, die sich aus der Tiefe ihrer Brust einen Weg nach draußen bahnten, erschreckend laut in den stillen Nachmittag hallten, ihren Körper zerrütteten, gab es nicht. Es gab sie nicht, es gab sie nicht, es gab sie nicht, denn- ihr ging es gut! Dann leerte sie die Tasche über den um die Ecke stehenden Mülltonnen, klopfte die Reste hinein und wusch sie schließlich mit dem Gartenschlauch aus.
Sie versuchte an nichts zu denken; nicht an den anstrengenden Arbeitstag, nicht an Ines zittrige, von Alterslinien umwobene Hände, mit den hervorstehenden Venen, nicht an die aufdringlichen Gesten von Max, nicht an Luft-die-nicht-mehr-zum-atmen-reicht, nicht an die abgearbeitete Beatrix, oder an die schmerzhaften Worte von Marina. Nicht an die Blicke, Geräusche, Schreie, das Weinen, die Krankheit, die Angst, nicht den Hass, die Depressionen, nicht an die verlorenen Blicke, die ihr den-Boden-.unter-den-Füßen-wegzogen. Nicht an sich selbst. (sie weinte nicht, es ging ihr gut; sie dachte nicht. an. Kar-) Nein!
Nur auf die ruhigen, zielstrebigen Handlungen versuchte sie sich zu konzentrieren. Wasserhahn aufdrehen, aber nicht zu doll, so dass das Wasser nicht spritzt, vorwitzige Haarsträhne hinters Ohr zurückstreichen, eiskaltes Wasser über ihre klebrigen Hände laufen lassen und sich schließlich den Schweiß von der Stirn wischen. Den offenen Rucksack unter den Wasserstrahl halten, mit den Händen den gröbsten Schmutz säubern (was die schon alles gesehen, kartographiert, aufgenommen, abgestoßen haben; nicht mehr meine Hände, kein Teil von mir nicht mehr ich, nicht ich, nicht ich!) ,sich in die andere Richtung drehen, sodass die untergehende Sonne sie nicht blenden kann, das Wasser aus drehen, mit großen Schritten über den grünen Rasen gehen –nicht die Luft des Spätfrühlings einatmen; nicht weinen!- den Rucksack an die Wäscheleine hängen, sich die Hände an der engen Jeans abwischen. Und dann das Haargummi vom dünnen Arm nehmen, den Kopf erst nach vorne und dann nach unten werfen, einen Zopf machen.
Erst als sie sicher war, sich ein wenig beruhigt zu haben, ging sie zurück nach vorne, zur Terrasse vor der Haustür, wo ihre ganzen Sachen liegen geblieben waren. (Die lauten Schluchzer, die nicht von ihr waren, nicht ihre waren, nicht sie waren, hatten sich zu einem erschöpftem Schluckauf gedämpft, der den Rucksack in ihrer rechten Hand bei jedem Stoß hochhüpfen ließ.)
Erschöpft betrachtete Sina das Chaos auf der Terrasse; ignorierte es und legte sich etwas davon entfernt auf den Boden, um die letzten Strahlen der Sonne genießen zu können. Sie merkte kaum, wie sie einschlief, versuchend auf nichts zu achten, als auf das Rauschen der Bäume, die weit entfernten Autos, das Lachen von spielenden Kindern. Sie war eigentlich gar nicht mehr da…
Als sie erwachte, war Sina kalt. Mit reibenden Kreisbewegungen, versuchte sie etwas Wärme in ihre Arme zurück zu kriegen und setzte sich auf, bevor sie sich einen Pulli über zog, der seit heute Morgen vergessen auf dem Gartentisch lag. Gähnend rieb sie sich den Schlafsand aus den Augen und überlegte widerwillig sich nach drinnen zu bewegen. Aber drinnen hieß- denken und schreien und Chaos im Zimmer und Enge und Angst und Max an den sie nicht denken wollte. Drinnen bedeutete Illusionen von niemand-will-dich und von Beklemmung, von Nicht-vorhandenen-Umarmungen, von einer Unruhe so tief, von Wo-ist-dein-Gott-jetzt-Hä? Bedeutete Gedanken an Leere und Enge und unechtem Lachen, an einen zu schwachen Händedruck und Husten-Husten-Husten, der nicht aufhören will, Krampf ist, Kampf ist, Atem-der-nicht-geht, an Keine-Luft, an Angst, an Leblosigkeit, an Bitte-bitte-bitte; an-
Ihr war kalt, aber sie wollte noch nicht reingehen, die Enge noch einen Moment hinauszögern, noch einen Moment atmen. Sie war müde, erschöpft. Immer noch innerlich aufgewühlt und sie sehnte sich nach Ruhe. Sie dachte an Mama. Als sie klein war, vielleicht sechs oder sieben, war sie beim Klettern von den Ästen eines Baumes abgerutscht und hingefallen. Mama nahm sie in die Arme, pustete über die Wunde am Knie, setzte einen Kuss auf ihren Haarschopf. Sie hätte das längst vollkommen vergessen, wenn Mama nicht sanft gesagt hätte. „ Guck mal nach oben.“ Sina hatte den Kopf in den Nacken gelegt, so erstaunt, dass ihre Schluchzer aufhörten und nur noch die Tränen warm an ihren Wangen hinabtropften, und schaute nach oben. „Was ist denn da?“ wollte sie wissen und Mama lachte. „Siehst du den Himmel?“ hatte sie gefragt. Sina nickte. Sie betrachtete den strahlend blauen Horizont, über dem sich ein paar kleinere weiße Schäfchen tummelten. Die Luft war klar und angenehm. „ Er ist wunderschön oder?“ Sina nuschelte ein „Ja.“ „Und er ist immer da“, erklärte Mama. „Immer wenn du weinst und auch wenn du lachst. Wenn du traurig bist, guck nach oben, atme tief ein und aus und stell dir vor, dass da oben jemand ist, der auf dich aufpasst.“ Sina lächelte.
Und jetzt- wann immer sie melancholisch, traurig, ausweglos, erschöpft, verloren ist, legt sie den Kopf in den Nacken und weint und lacht. Und lacht und weint. Und riecht.
Mit tiefen Atemzügen, die kaum in der Lage sind, die Schwere ihrer Kehle zu ersticken, atmet sie den Himmel, die Luft, nicht warm, nicht kalt und sieht-
Diesen faszinierenden Farbton, eines Abendhimmels im Frühling, der noch nicht wirklich wirkt wie ein Abendhimmel, weil seine Farbe kein dunkles Blau, nicht Indigo, aber auch nicht das zärtliche rosa, das berauschende Karmesinrot eines Sonnenunterganges ist, sondern nichts als ein verblüffend eintöniges, verwaschenes Graublau. Irgendwie nicht richtig blau, aber längst nicht grau, ein Farbton Nuancen heller als hellblau, aber vielleicht nur wegen des Lichts, dass von irgendwo oben noch scheinen muss, obwohl die Sonne schon lange nicht mehr zu sehen ist.
Sie heißt Siyan. Sie ist eine Träumerin, eine Lebensliebhaberin, eine Denkerin.
Sie ist eine Genießerin, die jeden Augenblick wahrnimmt, aufnimmt, annimmt, tief in die verborgenen Winkel ihres Herzens einschließt.
Sie heißt Siyan. Sie lacht. Sie atmet. Sie weint. Sie schreit. Sie lebt.
Nicht verloren, nicht gefangen, sondern vollkommen befreit, losgelöst im Augenblick.
Sie heißt Siyan und sie atmet und ist traurig und glücklich zugleich.
Die Vögel zwitschern beruhigend in der Ferne. Es ist angenehm, sich auf nichts, als den Himmel zu konzentrieren, mit jeder Pore ihrer Haut die kühle Luft, beinahe einer Liebkosung gleich zu spüren, sie so tief in sich einzuziehen, dass sie ein Teil von ihr selbst wird.
Und endlich gelingt es ihr los zulassen-
Ihre wirbelnden, chaotischen Gedanken einen Moment nur einfach sein zu lassen.
Einen Augenblick inne zuhalten.
Sie ist dankbar für die Ruhe, als sie versucht mit etwas Abstand an die Geschehnisse des Tages zu gehen: Sie ist bei der Arbeit angekommen, wurde gleich von Irina und Max in deren Mitte genommen (als wär sie eine Puppe!), hat einen ganz normalen Vormittag erlebt, überlebt (noch ein Tag weniger!) ,bevor sie von der Mittagspause belebt ins Zimmer von Karl ging und-
(leblos, bleich, blass, kalt, wächsern, weiß, starr, atemlos -los atme, bitte!- verblasst, verloren, zu leicht, zu knöchern, zu steif- seelenlos?-) nichts.
Sie rannte schreiend aus dem Zimmer. Und seitdem ist sie-
Stumpf, müde, erschöpft, aber zugleich auch hysterisch, aufgewühlt, fassungslos. Seitdem ist sie atemlos. (Nur das sie noch atme-los sagen, los atmen kann, nicht nur da liegt!)
Obwohl sie gerade all das analysiert ist ihre Gedankenwelt doch klar, so ruhig wie den ganzen Tag über nicht. Denn sie ist Siyan. Sie schaut in den Himmel und lacht und weint. Und weint und lacht. Sie lebt im Augenblick. Genau da, wo sie jetzt ist, mit der kalten Luft, die sie in tiefen Zügen einatmet und die Gänsehaut an ihren Händen entstehen lässt, mit dem ruhigen Rauschen und Rascheln des Abends. Aber sie kann hier nicht für immer bleiben.
Also nähert sie sich mit gemessenen, beinahe vorsichtigen Schritten der Haustür, wirft einen letzten Blick auf die Holz Terrasse, das dort liegende Chaos nicht beachtend, sich eine letzten Impression des Himmels mit Widerwillen verwehrend. Sie ist halb Sina, halb Siyan und der Himmel ist ihre Freiheit, ihre Flucht und er gehört nicht hinein, nicht in ihr gestresstes Leben, ihren Alltag. Er gehört nicht nahtlos zusammen mit den stummen Schreien, der Gedankenachterbahn des Tages. Ebenso wie Siyan ist er nichts als ein Augenblick losgelöster Zeit und doch mehr ihr wahres Ich, als es Sina jemals sein könnte. Aber wenn sie ihn mit hineinnähme- würde es ihr vorkommen, als würde sie ihn beschmutzen, auch wenn sie als Siyan weiß, dass dieser Gedanke nur einer der weiteren unsinnigen, seltsamen Gedankengänge ist, die Sina von Zeit zu Zeit durch den Kopf wandern.
Sie schüttelte abrupt den Kopf, den Augenblick des Unverbundenseins mit der Welt und des vollkommenen Einklanges mit sich selbst abschüttelnd wie Wassertropfen. Sie war wieder Sina Merwald. Nicht Siyan, die Träumerin, sondern Sina, die Über-Denkerin, die einfach nur dem heutigen Tag entkommen wollte, der sie gefangen nahm, wie ein Spinnennetz. Gegen das sie, die Fliege; Sina-Fliege, Fliegen-Sina, Flina-Siege, Sieg-Flinae; die nicht siegen konnte, geflogen war- vollkommen machtlos auf ihr Ende wartend. Die wilden Fluchtversuche gleich Sinas wirren Gedanken, in alle Richtungen- weg von hier! Mir geht es gut, gut, gut! wo ist der Himmel? Wo bist Du?- die Luft-die-sie-nicht-atmen-kann, Angst, die sie lähmt, paralysiert, gefangen nimmt, als sie erstarrt, haltlos, nicht sie selbst, auf die Spinne wartet, die sie –beenden, verschlingen, in Nichts auflösen wird. Nicht Sina, Nicht Siyan, nichts. (Wie Du.) Nichts als eine Hülle, leblos wie eine Puppe an seidenen Fäden, Spinnenfäden, die alles verloren hat, was sie ausmacht. Nicht nicht-mehr-atmen-kann, sondern nicht zu atmen braucht.