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- 01.09.2005
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Atemlos verliebt
Zum ersten Mal hatte Hans ihren herrlichen Körper in Ecuador gesehen. Sie hatte einen Ochsen gefressen und wurde von aufgebrachten Dorfbewohnern über den Marktplatz geschleift. Dreizehn Männer hatten sie gebraucht, um die Naturgewalt, die sie war, von der Stelle zu bewegen. Der Bauer, dem der Ochse gehört hatte, schwang eine Sense und schrie in einem Spanisch, das sich hohl klingend einen Weg durch faule Zähne an die Freiheit bahnte, man möge ihr den Gar aus machen, schon zu lange habe man sie toleriert, als nächstes würde sie womöglich die Kinder angreifen, die unten am Fluss spielten, egal, wie oft man es ihnen bereits verboten hatte.
Als derjenige der Männer, der ihren Kopf halten sollte, einen Moment unaufmerksam war, biss sie ihn mit der Kraft, die ihr geblieben war – die meiste würde sie noch mindestens einen Monat lang zum Verdauen des Ochsen brauchen – in den Oberschenkel. Hans wusste, dass ihre Art entgegen einer populären Vorstellung durchaus über Zähne verfügte, auch wenn sie nicht giftig waren. Es waren nicht die Primärwaffen, die sie und ihresgleichem nutzten, um sich ihre Mitgeschöpfe Untertan zu machen. Sie waren keine schmutzigen Schlächter wie Löwen, die keine Mahlzeit nehmen konnten, ohne die Erde in Blut zu tränken.
Hans verehrte ihre pure Körperlichkeit. Sie tötete Haut an Haut, schloss Venen und Arterien und löschte das Leben einfach aus, wie jemand, der ein Glas über eine Kerze stülpt. Sie war so wunderbar anders als der Mensch, der von frühesten Tagen an bemüht gewesen war, seine Freude am Töten zu verschleiern, das Ende des anderen auf Distanz zu bringen, mit einem Stein, einem Schwert, einer Lanze, bis hin zum Zeitalter der Vernunft, in dem ein Knopfdruck sowohl den Erwerb eines Schokoriegels als auch die Vernichtung ganzer Städte bewerkstelligen konnte.
Und doch hatten diese ungewaschenen Bauern sie dazu gebracht, sich auf ihr Niveau herabzulassen. Sie war ein Engel, dem hinterhältige Dämonen Pfeile durch die Flügel gebohrt hatten, um ihn zum Kampf auf unwürdiger Augenhöhe zu zwingen. Der Gebissene schrie und hielt sich das Bein, durch seine Finger sickerte Blut und vermischte sich mit dem bakterienverseuchten Schlamm und Wasser, in das seine Kleidung getränkt war. Hans wusste, dass das Bein in dieser Ecke der Welt höchstwahrscheinlich verloren war, selbst wenn sie es schafften, den Verletzten in ein Krankenhaus zu bringen, bevor sich Seuchen und Tierchen aller Art an der Wunde zu schaffen machten. Aufgebracht trat der Träger hinter dem Gebissenen nach ihrem Kopf, während sich ein offenbar angetrunkener Mann mit einer Machete näherte, um seinen Blutdurst feige im Schutz der Mehrheit an der geschwächten Gefangenen zu stillen. Hans musste eingreifen.
Zunächst reagierten sie kaum auf sein Geschrei in gebrochenem Spanisch. Vermutlich hielten sie ihn für einen der verrückten Umweltschützer aus den reichen Ländern, die die Natur bewahren wollten, indem sie ihr fundamentales Gesetz aufhoben: das Recht des Stärkeren. Als er aber mit Geldscheinen winkte, ließen sie von ihrem Opfer ab und traten auf ihn zu, ohne Zweifel überlegend, wo sie seine Leiche entsorgen sollten, nachdem sie ihn ausgeraubt hatten. Hans begriff, dass er nun nicht nur um ihr Leben feilschte, sondern auch um das seine.
Er überzeugte sie. Er hatte good, hard American dollar, er war ein hombre muy rico, und wenn sie ihm halfen, die serpiente außer Landes zu schmuggeln, dann würde er ihr Dorf ebenfalls rico machen, mit Impfstoffen für die Kinder und Schnaps für die Männer. Selbst der Mann mit der Sense, der so lautstark Wiedergutmachung für seinen Ochsen gefordert hatte, ließ von seinen Forderungen nach der Todesstrafe für Hans’ Liebchen ab, nachdem er einen Fünfziger gegen die Sonne gehalten und auf Reißfestigkeit geprüft hatte.
Um seine Göttin nach Hause zu bekommen, hatte Hans viele Leute in drei unterschiedlichen Währungen ein kleines bisschen rico machen müssen. Erwartungsgemäß wurden die Forderungen unverschämter, je näher die Fracht seinem wenig bescheidenen Anwesenden in der Lüneburger Heide kam. Er bedauerte es, sie nicht den ganzen Weg begleiten zu können. Fast zwei Monate lagerte er sie in einem Ort in der Nähe von Rotterdam zwischen, einem El Dorado für Tierfreunde mit außergewöhnlichen, meist illegalen Geschmäckern. Ein Ort, an dem außer seiner wunderschönen Königin Zähne und Stacheln hausten, die innerhalb von Sekunden lähmen und erblinden oder das Herz regelrecht explodieren lassen konnten.
Hans musste sie allein lassen. Er hatte die Arbeiten am Thronsaal zu beaufsichtigen, den er ihr im Keller errichten ließ. Ein viele hundert Liter fassendes Bassin wurde eingerichtet, dazu eine Vorrichtung zur Regelung der Temperatur, so dass eine Fauna wachsen konnte, die ihrer Heimat entsprach. Er wollte ihr den Trennungsschmerz über das verlorene Reich so leicht wie möglich machen. Mehr als einmal bemerkte er, wie die Arbeiter hinter seinem Rücken den Kopf schüttelten, flüsterten oder ihm einen Vogel zeigten. Sollten sie ihn ruhig für einen der unerträglich oberflächlichen Geldsäcke aus ihren Klatschspalten halten, der sein exzentrisches Wesen mit einem ungewöhnlichen Bau zur Schau stellen wollte. Hans wusste, dass seine Gefühle für sie alles andere als oberflächlich waren. Zum ersten Mal in seinem knapp dreißigjährigen Leben war er wirklich verliebt.
Die letzte Etappe des Transportes bewerkstelligte er mit einigen Gehilfen von der tätowierten Sorte, die bei ausreichend hoher Aufwandsentschädigung keine Fragen stellten. Im Idealfall. Einer jedoch konnte seine Neugier nicht zügeln, nachdem sie die Holzkiste in den Keller geschafft hatten.
„Was is'n eigentlich da drin?“ Er atmete schwer. „Mein verdammter Rücken brennt.“
Hans zuckte mit den Schultern. „Sie kriegen viel Salbe für den Betrag, den ich Ihnen zahle. Und zu Ihrer Frage … Hatten wir uns nicht auf keine Fragen geeinigt?“
Der neugierige Gehilfe sah Hans ungläubig an. „Und wenn ich dir einen Arm breche, um es rauszufinden?“
„Und wenn ich die Polizei rufe?“
„Und wenn ich dir sage, dass ich nicht blöd bin, und mir denken kann, dass du kein Interesse an der Polizei hast, wenn du Leute wie uns holst?“
Nur einer der anderen Träger widmete dem aufflammenden Streit seine Aufmerksamkeit. Die anderen waren zu sehr damit beschäftigt, den von Hans erschaffenen Garten Eden zu bewundern.
„Ich hab’ kein Bock auf so’n Scheiß, Olli“, wandte er sich an seinen streitlustigen Kompagnon. „Bin gerade erst raus. Das Geld stimmt, also lass es uns nehmen und einen trinken gehen.“
Olli schubste Hans, so dass der zurückstolperte und mit dem Fuß auf der Linie ausrutschte, wo das Wasser begann und abschüssig immer tiefer wurde wie in einem Schwimmbad. Er fiel auf die Knie und brachte damit Olli und seine Freunde zum Lachen. Einer von ihnen gab ihm einen Schlag auf den Hinterkopf, als sie durch die schwere Eisentür den Raum verließen. Hans war sicher, dass einige die Gelegenheit nutzen würden, oben noch ein paar Dinge einzustecken, die sie für wertvoll hielten.
Nichts war ihm in jenem Moment mehr egal als der Verlust materieller Güter. Die Vorfreude ließ seine Finger zittern und schien die Kraft aus seinen Armen zu saugen, so dass er die Brechstange zweimal fallen ließ, während er sie aus ihrem hölzernen Gefängnis befreite.
Sie war so wunderschön. Einen furchtbaren Augenblick lang glaubte er, die Strapazen der Reise wären zu viel für sie gewesen. Dann sah er eine feine Kontraktion ihren gewaltigen Körper durchzucken, diesen einzigen gigantischen Muskel, in den er sich so sehr verliebt hatte. Er wusste genau, was sie jetzt brauchte.
Der Hund aus dem Tierheim war den ganzen Heimweg über laut kläffend an ihm hochgesprungen und hatte sich jedes Mal schwanzwedelnd in Bereitschaft geduckt, um ad hoc loszurennen, wann immer Hans etwas zur Hand nahm, das so aussah, als könnte man es werfen. „Jimmy“ hatten sie das Tier im Heim genannt, wo es lethargisch durch einen Gitterzaun die Welt beobachtet hatte, um dann keine Sekunde mehr still halten zu können, als ihm offenbar klar wurde, dass tatsächlich jemand gekommen war, um ihn mit sich in die Freiheit zu nehmen.
Hans schloss die eiserne Tür hinter sich und spürte durchaus Bedauern, als er Jimmys Kratzen und Winseln dahinter vernahm. Aber er hatte eine Göttin zu besänftigen, und wie Jakob war er bereit, wirklich alles zu tun, um sich hoch in ihrer Gunst zu stellen.
Jimmy bellte jedes Mal, wenn Hans die Luke in der Tür zu seinem Kerker öffnete und ihn mit einem Stück Fleisch versorgte. Er kläffte erst fragend und schließlich enttäuscht, wenn die Öffnung sich wieder schloss, ohne dass er eine Antwort erhalten hatte. Am dritten Tag glaubte Hans zu hören, dass Jimmy panisch kläffte. Er drückte seine Schnauze durch die Luke, so als wolle er ihm etwas mitteilen. Offenbar hatte der Hund in all den Gerüchen der fremden Vegetation, die seine Nase abgelenkt hatten, schließlich eine Entdeckung gemacht. Hans schlug Jimmy mit der Faust auf die Schnauze, damit er die Luke wieder schließen konnte. Er spürte Erleichterung, als er Jimmys Winseln durch die fast schalldichte geschlossene Tür nur noch dumpf wahrnahm.
Am vierten Tag sah Hans hellbraunes Fell. Jimmy hatte sich liegend fest gegen die Tür gepresst, so wie auch Hunde es tun, die während eines Gewitters versuchen, Einlass ins Haus ihres Herrn zu erflehen. Hans tastete Jimmys Körper ab und spürte das Zittern. Er schlug die Luke zu und ging erst zwei Tage später wieder in den Keller. Diesmal war Jimmy verschwunden.
Hans fand sie unter einem Baum. Sie hatte gegessen. Etwa in der Mitte ihres Körpers konnte er einen Klumpen erkennen, der Jimmys Proportionen entsprach. Sein Verstand war zu sehr von gleißendem Verlangen geblendet, als dass er Mitleid beim Gedanken an die angsterfüllten letzten Stunden des Hundes empfunden hätte. Jetzt war es an ihnen, sich zu umarmen. Er wusste, dass ein ausgiebiges Mahl ihr Geschlecht über Wochen oder gar Monate gnädig und zufrieden stimmen konnte. Er entkleidete sich und legte sich neben sie, streichelte die Stelle, an der sie Jimmys Lebenskraft in sich aufnahm. Gesättigt, wie sie war, ignorierte sie ihn völlig. Höriger Sklave, der er war, war es ihm Ehre genug, toleriert zu werden.
Er schob das nächste Mahl so lange vor sich her, dass er sich nicht länger traute, Stunden der Zärtlichkeit mit ihr zu verbringen, aus Angst, sie könnte ihn für seine Nachlässigkeit strafen. Als Entschuldigung musste er ihr ein ganz besonderes Opfer bringen. Eine Seele, komplexer als alle anderen, die sie je verschlungen hatte, wollte er ihr bieten. Er besorgte sich ein Betäubungsmittel und begann, die Nähe von Spielplätzen zu suchen.
Die Entführung war erleichternd einfach gewesen. Späte Stunde, ein liebes Wort, ein bunter Ball und ein grundsätzliches Vertrauen in die Erwachsenenwelt, das noch nicht aberzogen worden war, halfen ihm dabei, schon bald mit der passenden Opfergabe die Tür zum Gemach seiner Geliebten öffnen zu können.
Hans entkleidete das ohnmächtige Mädchen, um der von ihm Begehrten das Verdauen zu erleichtern. Er legte sie in die Nähe des Wassers, schloss die Tür hinter sich und begab sich nach oben, wo er im Kamin ihre Kleidung verbrannte. Was danach geschah, unterschied sich zunächst nur unwesentlich vom Martyrium Jimmys. Doch beim Gedanken an ihren festen, muskulösen Körper, konnte er an keine Qual denken, die nicht zu rechtfertigen gewesen wäre, um diese zwei zusammenzuführen. Zusammenzuführen in einer Liebe, die eine Welt, in der die affenartige Masse bestimmte, welche Liebe gut ist und welche nicht, niemals begreifen können würde.
Der Unterschied zu Jimmys letzten Tagen und Stunden war, dass es unendlich viel länger dauerte. Und dass Hans sich Ohropax kaufen musste, da er die Inhalte des Winselns diesmal verstand und es auf jeden Fall zu vermeiden galt, dass die Schreie nach der Mutter oder dem Vater sein Herz erweichten. Die Strafe für diese Schwäche wäre ihre Missachtung gewesen, und wäre es so weit gekommen, hätte er gar kein Herz mehr gebraucht.
Einmal war er sogar bereits entkleidet in den Keller gegangen, in der vermeintlichen Gewissheit, dass sie nach all diesen Tagen einfach gespeist haben musste, und ihn zum Liebesspiel erwartete. Als er jedoch die Tür öffnete, kam das Opferlamm mit einem zur irren Grimasse verzerrten Gesicht kreischend auf ihn zugerannt. In seiner erschrockenen Überraschung trat er es mit seinem bloßen Hacken vor die Brust, so dass es von den Füßen gerissen wurde und mit dem Hinterkopf aufschlug. Zitternd verschloss er die Tür wieder hinter sich und presste die Handflächen gegen die Ohren, um das verheulte Kreischen auf der anderen Seite nicht mehr hören zu müssen.
Er hatte keine andere Wahl, als dieses furchtbare Kind, dass ihn vom Pfad der Liebe abbringen wollte, mit Nahrung am Leben zu erhalten. Hätte er seine Göttin aus selbstsüchtiger Bequemlichkeit heraus Aas fressen lassen, hätte er sich das niemals verziehen. Nach drei Wochen schließlich war er sicher, des Rätsels Lösung gefunden zu haben: Sie war sich ihrer eigenen Stärke noch nicht bewusst genug. Er musste die Mahlzeit dahin locken, wo die Empfängerin der Gabe ganz in ihrem Element war, wo sich ihre Kräfte vervielfachten, weil sie kämpfen konnte, ohne dass das eigene Gewicht ihr eine unwürdige Schwerfälligkeit verlieh. Hans öffnete die Futterluke.
„Wasch dich.“
„Was?“, antwortete von der anderen Seite der Tür eine raue Kinderstimme, die unüberhörbar viele Tage und Nächte durchgeweint hatte.
„Geh ins Wasser und wasch dich. Dann lasse ich dich nach Hause.“
„Das Wasser ist dunkel und ich kann den Boden nicht sehen. Ich kann nicht schwimmen.“ Die Stimme auf der anderen Seite klang, als würde sie ihm trauen. Die Hoffnung hatte offenbar den Intellekt außer Kraft gesetzt.
„Es ist nicht sofort tief. Geh so weit rein, dass nur noch dein Kopf aus dem Wasser guckt. Dann warte, bis du richtig sauber bist.“
„Wie lange dauert das?“
„Das sage ich dir dann.“
Schluchzen. „Und wenn ich das mache, lassen Sie mich nach Hause?“
„Nur, wenn du jetzt sofort ins Wasser gehst.“
Er kniete vor der Tür und beugte sich vornüber, um durch die Luke zu beobachten, was passierte. Zuerst sah er nur ihre nackten Füße, dann wurde sie in seinem Guckloch kleiner und er konnte mehr erkennen, als sie sich von der Tür entfernte und auf das Wasser zuging. Auf ihrem Rücken war getrocknetes Blut, das ihr aus den Haaren zu laufen schien.
Die Bereitwilligkeit, mit der sie sich durch den großen, an vielen Stellen unübersichtlich zugewucherten Raum bewegte, verriet Hans, dass sie noch nicht herausgefunden hatte, dass sie nicht allein war. Sie wurde langsamer, ihre Bewegungen waren kaum noch wahrnehmbar, als sie schließlich mit den Zehen das Wasser berührte. Hans wartete, bis es ihr zur Hüfte ging, dann öffnete er die Tür.
„Dreh dich zu mir um und geh rückwärts weiter, bis dir das Wasser ans Kinn reicht.“
Zögernd tat sie, was er ihr befohlen hatte. Keine Sekunde zu früh. Einige Meter hinter ihr, am anderen Ufer des künstlichen Tümpels, sah er, wie ein eleganter Körper anmutig und lautlos ins Wasser glitt.
„Dreh dich ja nicht um“, wiederholte er, als er bemerkte, dass der Atem des Lamms schneller wurde. Sie hatte etwas gespürt. Nur wenige Zentimeter hinter ihr ragte der wohlgeformte Kopf seiner Geliebten aus dem Wasser und beobachtete das Geschenk still.
„Bleib drin!“, schrie er, als sie plötzlich mit den Armen um sich schlug, um wieder aus dem Wasser zu kommen, das ihr nun bis zur Brust ging. Zum Glück war es bereits zu spät. Zähne gruben sich in ihre Schulter und sie schrie, als ein Körper, vielleicht viermal länger als der ihre, sich fest um sie legte. Sie verlor das Gleichgewicht und tauchte ins Wasser, wo sie sich zu drehen begann wie ein Karussell, was Hans erst zum Lächeln, dann zum Lachen brachte. Er tanzte und applaudierte, als ihr Schrei aufflammte und wieder erlosch, aufflammte und wieder erlosch, in Sekundenabständen, während ihr Kopf unter- und wieder auftauchte. Bald war ihr Gesicht dunkelrot und Hans konnte sehen, wie sie mit dem Mund versuchte nach Luft zu schnappen, wie Fische auf dem Teppichboden, auf dem ihr Aquarium zersplittert war. Ihre Augen wurden genauso rot wie ihr Gesicht und sie streckte ihre Zunge weit heraus, so als würde sie Hans ein schmutziges Angebot machen, was er mit einer empörten Geste quittierte, in der er die Luft zu ohrfeigen schien.
Er wartete einen Tag, bis er sich wieder zu ihr legte.
In seiner Euphorie war er der weiteren Nahrungssuche zu unvorsichtig nachgegangen. Zwar konnte sie von der Energie eines Menschenkindes Monate zehren, so dass er nach Kaufmannsart überschlug, dass er sich auf keinen Fall öfter als dreimal im Jahr der Gefahr aussetzen musste, ertappt zu werden. Aber liebestrunken, wie Hans war, erkannte er die Gefahr nicht, die darin lag, die Kinder von Spielplätzen und Schulwegen aus einem viel zu engen Radius um seine Stadt herum zu entführen. So schmachtete zehn Monate nach dem Fest des ersten Menschenopfers, das sie gemeinsam in fünf Tagen und Nächten voll zarter Berührungen und heißem Samen begangen hatten, das dritte Kind im Keller, harrte der Transformation seiner Lebensenergie in etwas Bedeutendes, als es an der Tür klingelte und Hans in Erwartung des Postboten stattdessen zwei Polizisten vor sich fand.
„Hans Nolte?“, fragte die Polizistin, unter deren Mütze hinten ein blonder Pferdeschwanz heraushing. Sie war jung, ihr Kollege wohl mindestens in den Vierzigern, das gängige Alter-Hase-/Jungspund-Duo, wie es sich meist auf Streife befindet.
„Ja?“
„Hätten Sie gerade Zeit, ein paar Minuten mit uns zu reden?“
„Ehrlich gesagt nicht, nein, ich hab' …“
„Es ist sehr, sehr dringend. Es geht um die drei Kinder, die innerhalb der letzten Monate in der Gegend verschwunden sind.“
Hans spürte seine Gesichtszüge entgleisen und sah die Polizisten aufmerksam werden.
Der Ältere sagte: „Lassen Sie uns bitte kurz rein, Herr Nolte. Wir sind dazu berechtigt, und zwar …“
„Ist ja gut, ist gut, bloß kein böses Blut.“ Hans lachte verkrampft, unsicher, unecht. „Im Ernst, das mit den Kindern ist so schrecklich, da hilft doch wohl jeder, wo er kann.“
„Ja.“ Der Polizist musterte beim Betreten des Hauses misstrauisch Hans’ Inneneinrichtung. Seine Augen blieben an einem schwarzweißen Foto hängen, auf dem Indianer eine Schlange hielten, was sie offenkundig einige Anstrengung kostete.
„Ist das eine Fälschung?“, fragte der Polizist. „Fotomontage? Ich meine, das Vieh müsste ja über zehn Meter lang sein.“
„Die grüne Anakonda wird nicht als Riesenschlange bezeichnet, weil die Namenszusätze ‚Brillen-’ und ‚Wasser-’ schon vergeben waren.“
Der Polizist grinste. „Wir sind die Beamten Kroner und Schmidt erstmal, hallo.“
„Tja, wie ich heiße, wissen sie ja schon.“ Wieder entfuhr Hans das offensichtlich falsche Lachen. Sein Kopf fühlte sich heiß an und auf seiner Stirn bildete sich Schweiß. „Wie kann ich Ihnen denn nun weiterhelfen?“
Kroner sprach. Schmidt, die Frau – eigentlich noch ein Mädchen – hatte sich plötzlich hinter Hans postiert. Während Kroner die Zeitungsberichte der vergangenen Monate zusammenfasste, entnahm Hans der Art, wie sie ihn beide ansahen, dass sie hier hergekommen waren in der Überzeugung, den Täter ausfindig gemacht zu haben. Kroner erzählte, dass sie von seinem Keller wussten. Olli – vermutlich saß er gerade im Knast und hatte einen guten Handel für sich herausgeschlagen. Hans versuchte zu denken wie ein Polizist. Er war um die dreißig, alleinstehend, exzentrisch, hatte einen Mikrodschungel in seinem Keller, den man durch eine schwere Eisentür erreichen konnte. Kinder verschwanden, zum mittlerweile dritten Mal in derselben Gegend. Er selbst hätte sich wohl auch verhört.
Was hieß, dass er handeln musste. Er sah immer wieder so unauffällig wie möglich vom ihm gegenüber sitzenden Kroner zu Schmidt, die von ihrer offensichtlichen Aufgabe, ihn im Auge zu behalten, ständig abgelenkt wurde durch die Artefakte, die er auf seinen Reisen gesammelt hatte. Als ihr Blick an einem hüfthohen peruanischen Schlangentotem haften blieb und Kroner bei seinen Ausführungen kurz zu Boden schaute, um sich zu sammeln, ließ Hans einen Brieföffner in seinem rechten Pulloverärmel verschwinden, mit einer Behändigkeit, um die Olli und seine Kumpane ihn wohl beneidet hätten.
„Könnten wir diesen Keller also wohl mal sehen? Es heißt ja nicht, dass wir glauben … Aber in solchen Fällen funktionieren die Ermittlungen nun mal so, dass man alle Möglichkeiten nacheinander hundertprozentig ausschließt, so dass man sich unweigerlich langsam der Wahrheit nähert.“
„Mein Keller ist eine Art Biotop, ein Experiment. Sehen Sie sich um. Ich interessiere mich für Tiere und Pflanzen.“
Schweigen. Hans stand auf und versuchte, so zu tun, als handele es sich bei seinem Besuch nur um eine geringfügig belästigende Unterbrechung des Tages. Er seufzte. „Mir nach also.“ Er sah, wie Kroner Schmidt einen warnenden Blick zuwarf.
Sie ließen ihn die Tür öffnen. Beide hatten ihre Hände an den Waffen in ihren Seitenhalftern. Mit links drehte Hans den Schlüssel, bereit, in der Sekunde der Überraschung, wenn sie den Jungen, den man zuletzt als vermisst gemeldet hatte, vor sich liegen sahen, mit dem Brieföffner zuzustechen. In den Hals. Als erstes der Mann.
Doch da lag nichts auf dem Boden direkt hinter der Tür, wo sich ihre Mahlzeiten für gewöhnlich am liebsten aufhielten – so nah an der Freiheit wie es ihnen erlaubt war. Vielleicht ergab sich hier und jetzt die Möglichkeit, die Ermittlungen von seiner Fährte abzulenken. Wahrscheinlich schlief das Balg irgendwo zwischen den Bäumen, den Büschen, nichts ahnend, dass es beobachtet wurde. Vielleicht war es bereits …
„Sie sehen, nichts Besonderes“, sagte Hans und wies mit der linken Hand gebieterisch über das Reich, das er in höherem Auftrag verwaltete.
„Naja“, sagte Kroner. „Nichts Besonderes mitnichten. Was haben sie sich dieses kleine Stück Regenwald kosten lassen? Sieht aus, als könnte ich mich da drin verlaufen. Was ist in dem Wasser. Piranhas?“
Wieder lachte Hans unsicher. „Alles legal, Herr Wachtmeister.“
Kroner sah ihn pikiert an. „Herr Kroner“, wiederholte Hans ernst.
„Also gut“, sagte er. „Sie sehen, nur die zugegebenermaßen teure Spielerei eines Naturfans. Wir können also …“
„Wir müssen uns noch umsehen“, unterbrach Schmidt.
Kroner nickte ihr mit einem Anflug von Stolz im Gesicht zu. „Stimmt“, sagte er. „Sonst wären wir ja schön blöd, wo wir schon mal hier sind.“ Er sah in Richtung der Bäume. „Schwingen da irgendwo Affen drin 'rum, die mir Kokosnüsse auf den Kopf werfen könnten?“
„Nein.“
„Dann mal los“, sagte Kroner und machte achtlos einen Schritt an Hans vorbei. Er hatte keine Gelegenheit mehr, diesen Fehler zu bereuen. Hans rammte ihm den Brieföffner zweimal in den Hals und wendete sich dann sofort Schmidt zu. Während sie noch versuchte, die Pistole aus dem Halfter zu ziehen, hatte Hans ihr bereits in die Schulter gestochen. Schmidt ließ die Waffe fallen.
„Kommen Sie hier 'rüber!“, rief eine Kinderstimme aus dem Grün. Schmidt folgte ihr mit einer raschen Bewegung. Ebenso schnell setzte Hans ihr nach, rutschte jedoch auf der Blutlache aus, die sich aus der Wunde in Kroners Hals auf die Fliesen ergossen hatte. Er krachte aus dem freien Fall auf den Steiß und schrie auf.
Zwischen dem bunten Gestrüpp saß schwitzend ein nackter Junge, den Schmidt sofort als den Jungen erkannte. Das Kind führte den Zeigefinger an die Lippen. Schmidt verstand und schwieg. Ihr minderjähriger Retter nahm sie bei der Hand und führte sie, während er durch die Blätter seinen Entführer beobachtete, der mit gequältem Gesicht, mit einer Hand seinen Rücken streichelnd, wieder auf die Beine fand. Er bückte sich und griff nach dem Brieföffner, sah Schmidts Pistole, ließ den Brieföffner fallen und beschloss, der Schusswaffe den Vorzug zu geben.
Hans entsicherte die Waffe und schoss zweimal in die Bäume, ohne zu zielen. Nachdem er den zweiten Schuss abgefeuert hatte, fuhr er zusammen. In seiner Wut auf die verständnislose Welt draußen, die seine Liebe für falsch erklärt und ihm deshalb diese beiden Häscher geschickt hatte, hatte er die Möglichkeit nicht bedacht, versehentlich sie zu treffen. Er behielt zwar die Pistole, nahm jetzt aber den Brieföffner in die Linke. Dann begab er sich auf den schmalen Pfad zwischen Flora und Wasser. Sein Wald war dicht, aber nicht so dicht, dass man sich auf ewig darin verstecken konnte. Aufmerksam wartete er auf die geringste Bewegung.
Schmidt und das Kind lagen auf dem Boden und beobachteten Hans’ Füße beim zaghaften Auf- und Abgehen. Das Kind presste seinen Mund so dicht an Schmidts Ohr, als wolle es sie küssen: „Er muss ins Wasser.“
Schmidt schüttelte den Kopf, weil sie nicht verstand.
„Ich glaube, sie ist sehr hungrig“, sagte der Junge. „Sie ist riesig, aber sie kann sich kaum bewegen. Nur im Wasser … ich habe sie schwimmen sehen.“
Hans kam jetzt direkt auf sie. Der Junge hatte zu laut gesprochen.
„Ich wickle mich um seine Beine“, sagte er. Sein Atem wurde schneller und er gab sich jetzt keine Mühe mehr, leise zu sprechen. „Sie stoßen ihn vor die Brust, dann fällt er ins Wasser.“
„Warte!“, rief Schmidt noch, als der Junge bereits losgestürmt war. Sie sah durch Blätter, wie der Lauf der Waffe in Richtung Boden zielte. Sie sprang auf und schrie, und wie beabsichtigt wurden sowohl Hans’ Augen als auch der Lauf der Pistole von ihrem Ziel abgelenkt. Beide waren jetzt auf sie gerichtet.
Ein Schuss übertönte eine Sekunde lang das Dröhnen aller Pumpen und Ventilatoren. Schmidt spürte etwas in ihrer Schulter explodieren. Sie schrie lauter, als könnte sie den Schmerz übertönen.
Hans blinzelte überrascht, als sich etwas um seine Beine wickelte. Er zielte auf den Kopf des Kindes. Das Gewicht der Polizistin, die ihn ansprang wie ein wütendes Raubtier, riss ihn von den Füßen. Gemeinsam stürzten sie ins Wasser. Das Kind hatte rechtzeitig losgelassen.
„Kommen Sie da raus!“, war das erste, was Schmidt hörte, als sie aus der tauben, nassen Dunkelheit aufgetaucht war. Sie stöhnte vor Anstrengung, als sie sich mit einem Arm aus dem Wasser zu ziehen versuchte, das ihr fast bis zum Hals ging. Der Kleine zog an ihr, war aber zu schwach, um eine große Hilfe zu sein.
Hans tauchte hinter Schmidt aus dem Wasser auf und legte ihr die Hände auf die Schultern. Er suchte nach dem frischen Loch in ihrem Fleisch und steckte seinen Finger hinein. Schmidt schrie. Sie versuchte, den Angreifer hinter ihr mit dem Ellbogen im Gesicht zu treffen, wie sie es in der Ausbildung gelernt hatte. Dann nutzte sie den Schwung des Ellenbogenhiebs, um sich umzudrehen, unter Schmerzenschreien den verletzten Arm zu heben und dem überraschten Hans, der mit einem solchen Angriff nicht gerechnet hatte, den Daumen ins Auge zu bohren.
Hans ließ von ihr ab und hielt sich beide Hände vor das Gesicht wie ein Kind, das die schlimmste Stelle in einem Horrorfilm selbst zensiert. Er schrie auch „Aua!“ wie ein ebensolches Kind und ließ mal mit der einen, dann mit der anderen Hand von seinem Gesicht ab, um nach Schmidt zu schlagen.
Dann war er verschwunden. Sein Kopf war so schnell unter die Wasseroberfläche geschossen, dass Schmidt schützend die Hände unter Wasser vor ihren Bauch hielt, in Erwartung eines Angriffs.
„Kommen Sie 'raus, schnell!“, rief der Junge Diesmal folgte Schmidt dem Ruf. Mit beiden Armen zog sie sich aus dem Wasser, wobei sie den Schmerz in ihrer Schulter stückchenweise in aggressiver Stoßatmung durch ihre Zähne entweichen ließ. Mit dem Kind in den Armen beobachte sie das Ende von Hans Nolte.
Sie hatte sich um seine Oberschenkel gewunden und sich dann schnell zärtlich zu seinem Brustkorb hochgearbeitet. Sie spielte das Liebesspiel hart, vermutlich, um sich bei Hans für die Entführung und die Gefangenschaft zu rächen. Es war ihm Recht. Ihr Wille sollte geschehen. Er versuchte, einen Arm frei zu bekommen, um sie zu streicheln. Aber für jede noch so geringe Bewegung jedes noch so kleinen Muskels seines Körpers umarmte sie ihn nur noch fester. Hans spürte kurz Panik, als er seinen Brustkorb nicht mehr ausdehnen konnte. Dann überwältigte ihn Freude beim Gedanken daran, dass er bald mit ihr verschmelzen würde, ein Teil von ihr sein würde. Sie drückte ihn fest wie eine liebende Mutter. Er würde in ihrem Schoß ruhen wie ein Sohn.