Asyl der Träume
Asyl der Träume
"Ich war schon immer ein Beobachter dieser Welt, die mir in meinem Träumen realer erschien, als in dem, was wir Wirklichkeit nennen. Die meisten Wege des Lebens blieben ein fremder Ort für mich, ein schreckliches Ödland unersättlicher Phantasmagorien. Ich zeigte kein Interesse an Menschen und ihren Beziehungen, betäubte meinen Verstand nicht mit der üblichen Zerstreuung kleingeistiger Insekten, welche vor dem gewaltigen Gewicht des Kosmos in Trugbilder einer kümmerlichen Existenz flüchten.
Schaue ich jetzt zu den Sternen auf, dann blicke ich tief in die Vergangenheit und denke daran, dass auch wir über den Tod hinaus leuchten können. Die meisten Menschen hinterlassen freilich nichts als wimmelndes Gewürm und ihre bleichen Knochen verrotten vergessen in einsamen Gräbern einer einsamen Welt. Niemand erinnert sich mehr an sie. Es ist, als hätte es sie nie gegeben. Gelegentlich kommt es jedoch vor, dass das geistige Vermächtnis über den Tod triumphiert. Und so fand ich eines Tages ein sonderbares Schriftstück, dessen Idee umso mehr zum Leben erwachte, als meine Faszination für den seltsamen Text wuchs. Ein unstillbares Verlangen setzte sich in mir fest und brachte etwas hervor, das schon seit langem in mir ruhte. Aus dem Unterbewussten stieg es empor und machte aus einem weltfremden Träumer einen ruhelosen Wanderer. Tage, Wochen, ja Monate folgte ich dem Paradoxon bis an den äußersten Rand menschlicher Vorstellungen. Dabei hatte ich immer wieder denselben Traum:
Ein Raum, und ich darin. Vollkommene Leere. Nur von Wänden umgeben. Keine Fenster, keine Tür. Einzig ein Spiegel. Blickte ich hinein, sah ich in Nichts. Doch ein grässliches Geräusch ließ mich zusammenfahren. Eine entsetzliches Kratzen, als ob Fingernägel über Tafelholz fahren würden. Dann füllte sich der Spiegel von oben herab mit Blut. In langen, klebrigen Schlieren floss es herab, bis die gesamte Fläche in purpurrot gefärbt war und ich ein schreiendes Spiegelbild erkennen konnte. Stets erwachte ich mit vor Entsetzen geweiteten Augen, einen stummen Hilferuf auf den Lippen. Natürlich versuchte ich das Wesen des Nachtmahrs zu ergründen, aber sein Geheimnis blieb mir verschlossen. Was ich einst so sehr gesucht hatte, war nun zu mir gekommen. Auf einen schmalen Pfad des Bewusstseins drohte mein Geist in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Jegliche Gedanken bewegten sich auf labyrinthischen, ausweglosen Bahnen. Verzweiflung umfing mich jede Nacht und der Tag brachte nur ein neuerliches Grausen vor dem, was mich auf der anderen Seite meiner Wahrnehmung erwarten mochte. Lange Zeit kämpfte ich gegen den Schlaf an und verharrte in geistiger Ausgezehrtheit in jenem Reich, dessen Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit mir zutiefst zuwider war. Meine frühere Zuflucht wurde von einem Dämon pervertiert, dessen Ängste vollends über mich herrschten. Seine alpentstellte Fratze brannte mit solch unbändiger Kraft auf mich nieder, dass ihr Anblick mich zu vernichten drohte.
Am Ende ergab ich mich meinen Schicksal, schloss die Augen und ließ mich willenlos fallen. Abermals umfassten undurchdringbare Mauern mein Traum-Ich. Und abermals wurde mein Blick zum Spiegel gepresst, in dem ein krankes Gemüt in nihilistischen Tönen sichtbar und gleichsam unsichtbar hervortrat. Eine kreischende Kakophonie zerriss den Moment und die Welt färbte sich rot. Ein Lied aus Schmerz, Leid und Agonie durchflutete meinen Geist. Das Spiegelbild krümmte sich, riss gepeinigt den Kopf zurück und schrie in derart schriller Weise, dass Augen, Sehnen, und Adern in Wahnsinn verkrampft hervortraten. Mir blieb keine Kraft mehr, um den Weg zurück zu finden und ich wollte es auch nicht mehr. Gequält hielt ich mir die Ohren zu, brach auf die Knie zusammen und wartete auf das Ende, das Ende, das Ende...
Nein!
Noch nicht...
Ein letztes Mal öffnete ich die Augen. Ich blickte die gemarterte Kreatur an und eine riesenhafte Stille begann sich in mir auszubreiten, die jedes Geräusch aussparte. Dann erhob ich mich. Zögernd berührte meine Hand das Glas. Meine Finger tauchten in Blut und darüber hinaus. Ich spürte, dass diese Seele frei sein wollte, nur einem Weg nach draußen suchte.
Langsam zog ich meine Hand zurück...
Mit aller Wucht zertrümmerte ich den Spiegel, der in unzählige Reflektionen zerbarst. Zwei Bruchstücke jedoch wurden wieder zusammengefügt."
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Es kam selten vor, dass eine solche Aufregung im Haus herrschte, obgleich der Gegenstand der hektischen Betriebsamkeit die Ruhe selbst war. Seine entspannten Gesichtszüge mochten sagen: "Beruhigt euch, es ist doch nicht passiert". Und das selige Lächeln der blutleeren Lippen schien auf eine gewisse Amüsiertheit des Verstorbenen hinzudeuten.
Ein Mann in fleckigen, weißen Kittel beugte sich über den leblosen Körper, leuchtete in die gebrochenen Augen und schüttelte kaum merklich den Kopf.
"6:58 Uhr, Tod durch Gehirnschlag", diktierte er seinen Kollegen.
Bevor er hinausging, ließ er den Blick noch mal über die im ganzen Raum verstreuten Papiere streifen. Die Schizophrenie seines ehemaligen Patienten hatte in den letzten Wochen immer absonderlichere Ausmaße angenommen. Ein Blatt an der Wand erregte seine Aufmerksamkeit. Es war nicht mit der üblichen engen, krakeligen Schrift bedeckt, sondern enthielt nur einige wenige Worte. Beim Näherkommen runzelte er besorgt die Stirn und ließ das Geschriebene auf sich wirken.
Noch lange Zeit später sinnierte er über den merkwürdigen Denkspruch, ...denn nicht wir leben in der Welt – nein! - die Welt lebt in uns.