Aswang
Die technische Ausrüstung der Polizei von Alburquerque war nicht die neueste und vor allem nicht die beste. Der Motor des Polizeijeeps begann lautstark zu protestieren, als der Wagen die steile Auffahrt nehmen sollte. Überdies war der ungepflasterte Weg immer noch nicht ganz trocken. Erst vor einer Viertelstunde hatte ein starker Platzregen den Boden aufgeweicht. Nun brannte zwar wieder die Sonne über Bohol und die düsteren Wolken zogen jetzt irgendwo draußen über dem Meer weiter, aber die lehmige Zufahrt trocknete nur langsam. Jose Calipan trat das Gaspedal durch, das Auto machte einen Satz vorwärts und schaffte dann doch noch das letzte Wegestück. Jose stoppte den Jeep und Chrispolo Dayon stieg auf der Beifahrerseite aus. Mit einem Tuch trocknete er seine Stirn. Heute war es wieder besonders heiß.
Bewundert betrachtete Chrispollo die Villa, die einem Schweizer gehörte. Für ihn und Jose würde ein solches Haus für immer nur ein Traum bleiben. Er lebte mit seiner Familie – fünf Kinder zählte er als stolzer Vater - in einem kleinen angemieteten Häuschen mit zwei Zimmern und einer Küche. Die Toilette, oder vielmehr das, was hier für ärmere Filipinos das Äquivalent darstellte, befand sich auf den Hof, ebenso wie die „Dirty Kitchen“, die Küche fürs Grobe.
Auch Jose liess seine Augen nicht von dem Haus. „Da haben sie so ein Leben und bringen sich dann um“, flüsterte er leise seinem Kollegen zu. Chrispolo zuckte mit den Achseln und ging auf eine junge Filippina von vielleicht 16 Jahren zu, die sie beide offenbar erwartete. „Du bist hier das Hausmädchen?“ fragte Chrispolo. Die junge Frau nickte.
Chrispolo trat neben das Mädchen. „Wo ist sie?“
Die Filipina zögerte kurz und sagte dann leise: „Sie liegt im Garten neben den Pool.“
„Ist der Arzt schon da?“
Wieder nickte die junge Frau.
„Gut, dann bringe uns zu ihm.“
Die beiden Polizisten folgten ihr um das Haus herum durch einen gepflegten Garten, als ein älterer, glattrasierter Mann mit modischer Brille, Strohhut, kurzen Hosen, Sandalen an den bloßen Füßen und einen engen T-Shirt, dass sich über einen deutlichen Bauansatz spannte, ihnen entgegenkam. Wie fast alle westlichen Ausländer war er bedeutend größer als die beiden Polizeibeamten. Der Mann sprach Englisch in typisch amerikanischer Weise und streckte ihnen die rechte Hand entgegen. „Ich bin Doktor Frank Baseler“, der Leiter des Grabungsteams“, begrüßte er sie.
Chrispolo ergriff die Hand und schüttelte sie. „Mein Name ist Chrispolo Dayon. Ich leite die Untersuchungen.“ Chrispolo zeigte auf seinen Kollegen. „Das ist mein Fahrer Jose.“ Der Amerikaner bot ihm auch die Hand. Gemeinsam gingen die drei dann weiter. Die Filipina blieb zurück.
„Ihre ganze Gruppe wohnt hier?“ fragte Chrispolo den Amerikaner.
Der nickte. „Ja, wir haben für die Grabungskampagne das gesamte Anwesen gemietet. Der Eigentümer hält sich zurzeit wieder in Europa auf.“
Sie gelangten zum Pool. Mehrere Männer und Frauen standen davor und versperrten Chrispolo anfangs den Blick auf die Gestalt, die am Rand des Schwimmbeckens lag. Er drängte sich an ihnen vorbei und musterte die Gestalt dann eingehend. Es war eine hübsche Frau mit blonden Haaren gewesen, mit einem hässlichen roten Fleck auf der Brust. Der Griff eines Messers schaute daraus hervor. Sie muss so um die 30 Jahre alte gewesen sein, schätzte Chrispolo und sah anerkennend auf ihre tadellose Figur. Die Leiche der Frau trug nur einen einfarbigen knappen weißen Bikini.
Frank Baseler wandte sich an die Umstehenden. „Das ist der zuständige Polizeioffizier“, stellte er Chrispolo vor und dann an ihm gewandt mit einen ausladenden Handbewegung: „der Rest meines Grabungsteams.“
Ein Mann kniete neben der Leiche. Als er die Stimme von Frank Baseler hörte, drehte er sich um. „Ah, Leutnant Dayon. Die Frau ist erstochen worden. Ich schätze, sie ist seit etwa einer halben Stunde tot.“
„Wir haben gleich nachdem wir sie gefunden haben, den Arzt gerufen und sie alarmiert“, fiel Baseler ein.
Chrispolo schob seine Dienstmütze gedankenverloren etwas beiseite und kratzte sich am Kopf. „Wer ist sie?“
„Michelle. Das ist Michelle Kaufmann. Doktor Michelle Kaufmann. Eine gute Archäologin.“
„Auch Amerikanerin?“
„Nein, nein. Sie ist Französin. Wir sind ein internationales Team.“
Chrispolo kratzte sich wieder am Kopf. „Ich weiß zwar nicht viel von der Welt, aber Kaufmann klingt mir nicht sehr französisch.“
Frank Baseler nickte zustimmend. „Sie ist mit Welf, einem Deutschen, verheiratet, deshalb der Name.“
Chrispolo blickte auf. „Wer ist Welf?“
„Welf Kaufmann, er arbeitet auch bei uns.“
„Kann ich ihn sprechen?“
Frank Baseler zögerte einen Moment. „Er ist nicht da. Verschwunden seit vielleicht einer halben Stunde.“ Dann hob er wie abwehrend leicht die Hände. „Ziehen bitte aber keine voreiligen Schlüsse! Ich kenne Welf, er würde niemals jemanden töten, schon gar nicht seine geliebte Frau.“
„Wir müssen alles in Erwägung ziehen,“ antwortete Chrispollo.
Jose grinste. „Wenn ein Mann seine Frau umbringt, gibt es immer einen guten Grund.“ Er wollte noch etwas sagen, schwieg dann aber, als er Chrispolos missbilligenden Blick auf sich gerichtet fühlte.
Der Polizeioffizier wandte sich an den Grabungsleiter. „Wie auch immer, ich muss den Mann sehen und sprechen. Geben Sie bitte Jose eine Beschreibung von ihm. Haben Sie etwas, was er angefasst hat? Wegen der Fingerabdrücke, obwohl – ich weiß nicht, ob am Messer nach diesem Regen noch viele Spuren vorhanden sind. Wie es auch sei. Wir werden diesen Herrn Kaufmann suchen müssen. Wenn er sich abgesetzt hat, ist er wohl nach Tagbilaran unterwegs. Woanders fällt ein Ausländer doch sofort auf. Hat er einen Wagen?“
Baseler schüttelte den Kopf. „Nein, wir haben nur zwei Autos zur Verfügung. Und die sind alle beide noch da.“
„Dann hat er wohl den Bus oder einen Jeepney genommen. Aber wir werden ihn finden.“
Chrispolo trat nun neben den Arzt. „Können wir sie wegbringen lassen, Doktor?"“
Der Angesprochene nickte. „Ja, aber lassen Sie sie ins Krankenhaus schaffen. Ich möchte sie vorsorglich obduzieren. Bei Americanos und anderen Ausländern sollten wir ganz sorgfältig die Untersuchungen führen.“
„Okay“, grummelte Chrispolo und fingerte nach seinem Handy, um den Abtransport der Leiche in die Wege zu leiten. Dann blickte er auf die Anwesenden.
„Ich möchte alles von Ihnen hören. Wer sie gefunden hat, wer alles in letzter Zeit hier im Haus war, eben alles.“
„Maria, das Hausmädchen, hat sie gefunden“, warf Dr. Baseler ein. „Mein Gott, wie die Kleine geschrieen hat.“
„Das Hausmädchen oder sie hier?“ fragte Chrispollo und deutete auf die Tote.
„Das Hausmädchen, natürlich. Michelle haben wir nicht gehört. Es muss wohl sehr schnell gegangen sein.“
„Wo waren Sie gerade zu der Zeit, Dr. Baseler?“
Der dicke Amerikaner zeigte mit der Hand zum Haus. „In meinem Zimmer. Ich habe gerade am letzten Bericht gesessen und die Formulierungen ausgefeilt. Davon hängt ab, ob wir weitere Gelder für unsere Grabungen hier bekommen und ...“
„Gut“, unterbrach ihn der Polizist. „Wissen Sie, wo sich der Ehemann der Toten in dieser Zeit aufgehalten hat?“
Dr. Baseler zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Einige von uns waren im Wohnzimmer, Mike schlief, glaube ich, oben in seinem Zimmer, aber fragen Sie die anderen, vielleicht hat jemand von ihnen Welf gesehen.“
„Und die Tote hier badete im Pool?“
„Muss wohl, weshalb sollte sie sonst den Bikini tragen? Sonnen wollte sie sich bestimmt nicht. Das hat sie eigentlich nie gemacht. Ihre Haut war sehr empfindlich, wissen Sie und sie hatte immer große Angst vor einem Sonnenbrand. Geregnet hat es vorhin auch noch nicht. Die ersten Tropfen fielen gerade, als wir versuchten, einen Arzt zu erreichen. Ja, sie wollte wohl im Pool schwimmen gehen.“
Crispollo Dayon nickte. „So, ich brauche eine Beschreibung von dem Ehemann. Wir müssen die Polizei in Tagbilaran informieren. Die Fährverbindungen zu den anderen Inseln müssen überwacht werden. Sonst setzt sich der Mann möglicherweise noch nach Cebu oder zu einer anderen Insel ab.“
Später – nachdem der Doktor und Jose mit einigen Helfern die Leiche auf den Weg zu einem Krankenhaus in die Provinzhauptstadt gebracht hatten, blieb Chrispollo bei den Archäologen und nahm sich Zeit, für ein längeres Gespräch mit dem Grabungsleiter. Die beiden saßen auf der offenen Veranda der Villa, das Hausmädchen brachte Gläser mit einem Cola- und Tanduai-Rum-Gemisch und bot etwas zu essen an. Das junge Filippina hielt aber den Blick hartnäckig gesenkt und vermied es, auch nur aufzuschauen und zum Pool herüberzublicken, wo die Tote gelegen hatte.
Chrispolo lehnte zuerst höflichkeitshalber die angebotenen Speisen ab. Dr. Baseler wusste jedoch um Eigenarten des Lebens auf den Philippinen und lud ihn nachdrücklich noch einmal ein. Nun konnte Chrispolo die Einladung annehmen ohne unhöflich zu sein. Es gab eine Art Adobo, dazu reichte das Hausmädchen gekochten Reis und Pansit. Diese Glasnudeln waren eine philippinische Spezialität und schienen auch den Ausländern zu munden. Der Polizist war dankbar für das Essen, Wenn er hier aß, dann brauchte er es zu Hause nicht zu tun und seine Frau konnte wieder ein paar Peso sparen.
Crispolo nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und lies das Rum-Cola-Gemisch langsam in seine Kehle laufen. Nachdenklich schaute er dann in das Trinkgefäß. „Ich habe von Ihren Grabungen schon gehört, natürlich.
Aber was genau haben sie da unten am Strand gefunden, Doktor?“
Baseler zuckte die Schultern. „Wenn ich wüsste, was da vom Meer freigespült wurde, wären wir schon einen ganzen Schritt weiter. Es sind meterdicke Grundmauern, die sich ins Meer hineinziehen. Ich vermute, es sind die Reste einer Siedlung, die, als sich das Land senkte oder der Meeresspiegel anstieg, dann im Wasser versanken.“
Chrispolo nahm einen weiteren Schluck. „Aus spanischer Zeit? Ein Fort gegen Piraten?“ fragte er.
Vehement schüttelte der Archäologe den Kopf. „Nein, nein, bestimmt nicht. Von einer Siedlung mit solchen Ausmaßen müssten wir dann schriftliche Quellen haben. Die freigelegten Reste erinnern außerdem in keiner Weise an spanische Architektur, auch nicht an arabische Bauten. Die Mauern müssen viel älter sein, vermute ich. Vorspanisch. Vielleicht aus der Sri-Vijaya-Zeit, oder sogar noch früher. Solange wir keine datierbaren Funde machen, tappen wir aber ziemlich im Dunkeln.“
Chrispolo konnte zwar mit der zeitlichen Einordnung des Archäologen nichts anfangen, er nickte trotzdem zustimmend. Nie hätte er offen zugegeben, dass er den Begriff Sri-Vijaya nicht kannte. Damit hätte er sein Gesicht verlieren können.
Sein Gesprächspartner schien aber zu ahnen, dass er nicht allzu viel Fachwissen voraussetzen durfte. „Sri-Vijaya war ein buddhistisch-hinduistisches Reich so in der zeit um 800 bis 1377 und die Philippinen gehörten zum“, begann er zu dozieren.
Chrispollo winkte ab. Für Geschichte interessierte er sich nicht. Das brachte keinen Nutzen. Klar, als Fischer damals berichteten, dass am Ufer dicke Mauern freigespült worden waren, war er, neugierig wie die anderem aus seinem Bario, hinunter zum Strand gegangen. Die starken Steine waren beindruckend, sicherlich. Und Chrispollo hatte sich gefragt, wie viele Männer es wohl gebraucht hatte, um sie aufeinander zu türmen. Aber damit war dann für ihn die Sache auch erledigt gewesen. Er konnte nur den Kopf schütteln, über die abergläubischen Geschichten, die in der Folgezeit im Ort erzählt wurden. Spuken sollte es da. Böse Geister fühlten sich gestört und es sei gefährlich, sich hier am Meer aufzuhalten. Den Archäologen, die dann von der Regierung ins Land gerufen wurden, war allerdings nichts geschehen. Vielleicht konnten die Ruinen sogar für immer dem Meer abgerungen werden und es kamen zahlungskräftige Ausländer nach Alburqueque. Immerhin war auch Baclayon mit der ältesten Kirche der Philippinen nicht weit und zudem lag Albur auf dem Weg von Tagbilaran zu den bekannten Chocolat Hills. Wenn Touristen kamen und hier einen Stopp einlegten, konnte seine Frau vielleicht einen kleinen Store eröffnen und ...
Der Polizeioffizier verdrängte die Gedanken und konzentrierte sich wieder auf den Fall. Chrispollo lehnte sich in den Korbsessel zurück. „Erzählen Sie mir von der Toten und ihrem Mann“, forderte er seinen Gesprächspartner dann auf.
„Wo soll ich anfangen“, überlegte Dr. Baseler, „Michelle und Welf haben sich auf einer Grabung im Jemen kennengelernt. Sie waren – jedenfalls bis vor kurzem – immer ein Herz und eine Seele.“
„Bis vor kurzem?“ wiederholte Chrispollo gedehnt. „Gab es Streit? Grund zur Eifersucht? Sie war eine hübsche Frau. Sicherlich hat sie auch anderen Männern im Team gefallen.“
Dr. Baseler winkte ab. „Nein, da liegen Sie bestimmt verkehrt. Michelle war nur, nun ja, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, sie hat sich etwas seltsam verhalten, seit dem Vorfall vergangene Woche. Ich vermute, sie hatte Schwangerschaftsbeschwerden. Michelle und Welf erwarteten ein Kind, müssen Sie wissen. Die Hitze hier auf den Philippinen“ – Dr. Baseler unterbrach sich, als hätten seine Worte ihn an etwas erinnert, griff dann in die Hosentasche und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn, bevor er fortfuhr: „Die Hitze ist nicht sehr angenehm für eine schwangere Frau. Aber Michelle wollte, solange es irgendwie ging, beim Team bleiben.“
Chrispollo Dayon blickte interessiert auf. „Von was für einem Vorfall sprechen Sie, Doktor?“
„Ich weiß nichts Genaues. Es ist jetzt sieben Tage her. Michelle muss bei der Grabung schlecht geworden sein. Wir fanden sie bewusstlos neben einer kleinen freigelegten Steinkammer im Zuge eines Mauerrestes. Sie muss wohl den Deckstein allein beseitige geschoben und sich dabei überanstrengt haben. Jedenfalls, nach kurzer Zeit war sie wieder bei sich.“
„Was sagte der Doktor?“
„Sie wollte nicht zum Arzt. Und dann ging es ihr ja wieder soweit ganz gut. Und vor zwei Tagen war sie in Tagbilaran-City bei ihrer Frauenärztin. Da ich nichts gehört habe, muss wohl alles in Ordnung gewesen sein. Nur – seit eben jenen Tag vor einer Woche reagierte sie immer etwas unbeherrscht und war im Gegensatz zu früher herrisch, eben ganz anders als wir sie kannten. In dieser Situation gab es natürlich häufiger nun mal einen kleinen Streit, obwohl Welf alles tat, um die Situation zu beruhigen. Aber das waren wohl die Hormone bei ihr, Sie verstehen? Das sah Welf auch so. Er war nie ernstlich ärgerlich oder so. Und – ach, das ist nicht so wichtig.“
„Alles ist wichtig, Dr. Baseler. Was wollten Sie erzählen?“
„Michelle, nun, sie trug plötzlich den ganzen Tag eine Sonnenbrille. Auch am Abend, wenn es dunkel wurde. Ich weiß, viele junge Leute finden es cool, ständig so ein Ding auf der Nase zu haben. Aber Michelle war eigentlich nicht so.“
Der Polizeioffizier beugte sich leicht vor, nahm einen dritten Schluck aus seinem Glas und fragte: „Was war in der Steinkammer, die die Tote geöffnet hatte, Doktor?“
Dr. Baseler blickte erstaunt auf. „Nichts. Was sollte den schon darinnen gewesen sein?“
Die Befragung der anderen Hausbewohner brachte Chrispollo Dayon nicht weiter. Die früher als sehr sanftmütig beschriebene Tote musste sich in den letzten Tagen ihres Lebens sehr unmöglich benommen haben und zu einer wahren Furie geworden sein. „Es wurde immer schlimmer mit ihr“, berichtete Romeo Similar, ein philippinischer Archäologe aus Manila, „zuletzt genügte eine Kleinigkeit, die ihr nicht passte, dann schrie und tobte sie herum. Ihr Mann war am verzweifeln. Er suchte wohl die Schuld für ihr Verhalten bei sich. Und dann, das war seltsam, er sagte mir, er habe Angst um ihr ungeborenes Kind. Auch Michelle selbst schien, in Augenblicken, wenn sie wieder die Alte war, sich irgendwelche Sorgen darum zu machen. Marie, das Hausmädchen, hat mir erzählt, dass sie einmal die beiden zufällig beobachtet hat, als Michelle sich nach einem hysterischen Anfall wieder beruhigte. Michelle weinte sich bei ihrem Mann aus, und sprach immer nur von ihrem Kind, das langsam verschwinden würde. Seltsam, nicht wahr? Am nächsten Tag fuhren sie dann nach Tagbilaran zu ihrer Frauenärztin. Aber es muss wohl alles in Ordnung gewesen sein. Denn als sie zurück kamen, schien sie sich wegen ihrer Schwangerschaft keine Sorgen mehr zu machen.“
Chrispollo nickte nur und fragte sich, was er sich von all dem notieren sollte. „Gab es da noch irgendetwas, mhm, irgendetwas Besonderes, ich meine irgendetwas Auffälliges?“fragte er dann laut.
Der Archäologe überlegte kurz. „Vielleicht, ja, da war etwas. Wir hatten an einem Wochenende ein paar Ausflüge eingeplant. Man muss ja auch einmal ausspannen und vor allem die Langnasen wollten etwas von der Insel sehen. Am Sonntag waren wir nach Antequerra gefahren, wegen der Mag-Aso-Falls und wegen des Marktes. Meine Kollegen wollten dort die berühmten Korbwaren kaufen. Anschließend stand der Punta-Cruz-Watchtower auf dem Programm. Wenn Sie diesen spanischen Festungsturm bei Maribojoc sehen, dann wissen Sie, dass das da unten am Strand hier in Albur etwas ganz anderes sein muss. Kein Vergleich.“
Chrispollo lächelte und versuchte den Redefluss seines Gegenübers in geordnete Bahnen zu lenken. „Bitte, was war da so besonders auffällig?“
„Nun, Michelle, war seit ihrem Schwächeanfall verändert. Zwei Tage lang wurde sie danach zunehmend launischer. Dann kam der Sonnabend, der erste Tag unseres Ausflugsprogrammes. Am Nachmittag hatten wir einen Trip nach Carmen zu den Chocolat-Hills eingeplant. Und da plötzlich wirkte sie eigentlich wieder wie früher. Sie schien zwar etwas besorgt, aber sie zeigte wieder ihr freundliches Wesen, schwamm sogar bei den Mag-Aso-Falls, lachte wie früher. Dann, als wir auf den Rückweg am Markt von Antequerra stoppten, schrie sie plötzlich auf, fasste sich an ihren Kopf und sagte etwas wie: „Es kommt zurück, es tut weh, es ist kalt“, oder so ähnlich. Sie vermischte Französisch mit Englisch, und ich konnte nicht alles verstehen. Wir kümmerten uns sofort um sie, besonders natürlich Welf und dann war sie wieder abweisend, sagte, es sei alles in Ordnung, wir sollten uns zum Teufel scheren, sie in Ruhe lassen und noch mehr in dieser Richtung. Es war, wie vor unserem Besuch bei den Hügeln.“
„War am Sonnabend etwas besonders geschehen?“ hakte Chrispollo nach.
Romeo schüttelte verneinend den Kopf. „Nein, es war nur unser erster Ausflugstags. Vormittags mieteten wir uns ein Boot und fuhren etwas den Luboc-River hinunter. Dann stiegen wir in unsere beiden Autos und es ging nach Carmen. Michelle war anfangs wie in den zwei Tagen davor auch mürrisch und unfreundlich. Erst als wir bei den Chocolat-Hills waren und wie alle Touristen über die Entstehung dieser seltsamen Landschaft rätselten, schien Michelle irgend wie erleichtert und freier zu sein. Sie war wieder nett und freundlich. Vielleicht löste unser gemeinsamer Ausflug ihre Anspannungen. Vielleicht war es auch der Zauber dieses Naturphänomens. Wissen Sie, ich bin zwar Wissenschaftler. Aber ich glaube, dass bestimmte Plätze auf dieser Welt eine besondere Ausstrahlung haben. Und die Chocolat-Hills sind so ein Ort. Ja, Michelle war wieder wie früher. Bis, ja eben bis zum Nachmittag des nächsten Tages. Meinen Sie, dass hat etwas mit ihrem Tod zu tun?“
Chrispollo Dayon überlegte kurz. „Wohl nicht direkt, es waren wohl nur die Launen einer Frau im Stress. Aber vielleicht sind gerade wegen dieser Launen jemand anderes die Nerven durchgegangen und er hat zugestochen. Mehr wissen wir wohl erst, wenn ihr Mann wieder aufgetaucht ist.“
Zwei Tage später hatte Chrispolo immer noch keine Spur von Welf Kaufmann. Er war der einzige des Grabungsteams, der als Täter in Frage kam. Nur das Ehepaar Kaufmann badete allein am Pool. Alle anderen hatten entweder ein Alibi – sie saßen zum fraglichen Zeitpunkt zusammen, bis auf Dr. Baseler, der an seinem Bericht schrieb und dem Hausmädchen, das in der Küche allein war. Aber den Grabungsleiter schied Chrispollo als möglichen Täter aus, ebenso das Hausmädchen. Es gab keinen Sinn, weshalb die beiden die Frau hätten angreifen und töten sollen, gerade dann, wenn deren Ehemann daneben stand. Gut, es war möglich, dass sich irgendjemand anderes, der sich unbefugt auf das Anwesen geschlichen hatte, der Mörder war. Aber was war dann mit dem Deutschen geschehen? Weshalb hatte der Mann nicht eingegriffen, seiner Frau geholfen? Nein, entschied Chrispollo für sich, es sprach alles für den Ehemann als Täter, vor allem der Umstand, dass der Mann sich offenbar abgesetzt hatte.
„Ein Deutscher muss doch in Tagbilaran zu finden sein“, brummelte er von seinem Schreibtisch zu Jose herüber, der sich gerade heißes Wasser für seinen Pulverkaffee aufsetzte. Dann blätterte er lustlos in dem Bericht des Arztes, las
oberflächlich, stutzte, las noch mal, blickte dann auf. „Ich muss den Doktor sprechen. Der Archäologie-Doktor sagte, die tote Frau habe ein Kind erwartet. Davon steht aber nichts im Arztbericht.“
Chrispollo setzte sich in den Jeep und kurvte ein paar Straßen weiter zum Haus des Arztes. Der Mediziner schwor Stein und Bein, dass die untersuchte Tote keinerlei Anzeichen einer Schwangerschaft aufwies. Chrispollo fuhr anschließend noch einmal zum Strand hinaus, wo die ausländischen Archäologen bei der Arbeit waren. Als er die Grabungsstätte erreichten, waren die Wissenschaftler gerade dabei, einheimische Helfer herumkommandieren, die neue Sandsäcke aufstellen mussten, um die aufkommende Flut zurückzuhalten.
Der Polizist blickte sich suchend um und winkte dann Dr. Baseler zu, der sich aus dem Schlick aufrichtete und langsam auf ihn zu watete. „Bitte denken Sie nicht, wir seien pietätlos. Aber die Arbeit muss weiter gehen. Dafür werden wir schließlich bezahlt. Haben Sie Welf Kaufmann schon gefunden?“
Chrispollo schüttelte den Kopf. „Nein, Doktor. Sagen sie, ein Deutscher und eine Französin, Herkunft aus unterschiedliche Kulturen, könnte darin vielleicht die Ursache von Spannungen liegen?“
Dr. Baseler lachte kurz auf. „Und ich dachte immer, für Filipinos seien alle Ausländer gleich. Aber nein, bestimmt nicht, die beiden verstanden sich prima und überhaupt, Michelle entstammte doch einer alten Familie aus dem Elsass.“
„Bitte?“ fragte Chrispollo, doch Frank Baseler winkte ab. „Ich wollte damit nur sagen, dass kein Mentalitätsunterschied bestand.“
„Wo hatte die Frau damals ihren Schwächeanfall?“
Der Archäologe zeigte ein kleines Stück weiter den Strand hinunter. „Dort, kommen sie mit.“
Etwas ratlos stand Chrispollo dann vor einem kleinen gemauerten Viereck, welches aus dem Schlick herausragte. Daneben lag eine Steinplatte. Dr. Baseler zeigte darauf. „Die muss sie ganz alleine heruntergeschoben haben. Sie hat sich damit bestimmt überanstrengt.“
Chrispollo blickte in die Öffnung. „Es ist alles leer“, stellte er fest.
„Was dachten Sie denn?“, fragte der Amerikaner
Chrispollo schaute noch eine Weile den Grabungsarbeiten zu. Die Mauern im vom Meer abgetrennten Teile des Strandes legten Arbeiter mit Schaufeln frei. Der ausgehobene Schlick wurde anschließend gesiebt, um nach verborgenen kleinen archäologischen Artefakten zu suchen. Ein Teil der Archäologen vermaß unterdessen die freigelegten Steine und zeichneten sie penibel auf Millimeterpapier maßstabsgetreu nach. Schließlich ging er zu einzelnen Mitgliedern des Grabungsteams und fragte sie nach der Schwangerschaft ihrer Kollegin.
Alle waren sich sicher, dass die Tote tatsächlich ein Kind erwartet hatte. Zwar habe man es ihr noch nicht so direkt ansehen können, die Tote und ihr verschwundener Mann hätten aber oft davon gesprochen, hieß es übereinstimmend. Darüber hinaus konnte sich eine junge spanische Studentin daran erinnern, dass Michelle Kaufmann auch einmal den Namen ihrer Frauenärztin in Tagbilaran erwähnte hatte. Nach etwas Grübeln fiel der Studentin der Name wieder ein. Befriedigt setzte sich Chrispolo in seinen Jeep und fuhr zur Polizeistation hinaus.
Chrispollo vermied es, über die Hauptstraße zu fahren. Ein paar NPA-Leute waren angeblich am Markt gesehen worden. Ihnen wollte er aus dem Weg gehen. Eigentlich hätte er sie festnehmen müssen. Doch er wusste, dass sie über kurz oder lang wieder frei wären, weil handfeste Beweise fehlten und er und seine Familie anschließend Probleme erwarten durfte. Und da die Leute von der New People Army sich damit begnügten, in den Bergen ein bisschen kommunistische Guerilla zu spielen, von den Bauern dort, die sie angeblich aus der Unterdrückung befreien wollten, Lebensmittel erpressten, ansonsten aber es auf keine Konfrontation mit der Staatsmacht ankommen ließen, ging man sich eben gegenseitig aus dem Weg. Chrispollo hatte schon einmal in seiner Laufbahn den Fehler gemacht, zu sehr an den Vorschriften zu kleben und damit beinahe seiner Karriere ein abruptes Ende bereitet. Damals tat er als Polizist in einem kleinen Ort nahe Cotabato auf Mindanao Dienst. Er begann den Fehler, gegen einen korrupten Bürgermeister zu ermitteln, der mit einer Moro-Organisation in Verbindung stand. Die Islamisten zählten offiziell als Staatsfeinde, weil sie einen unabhängigen moslemischen Staat forderten. Doch vor Ort wurde ein konsequentes Vorgehen gegen diese Leute nicht gern gesehen, wenn eigene finanzielle Interessen gefährdet waren. Chrispollo musste mit seiner Familie Mindanao verlassen und siedelte nach Bohol über.
Der Polizeioffizier gab Gas und kurvte an einem Trupp Arbeitern vorbei, die Kabel für das Fernsehen verlegten. Dafür fanden sich Finanziers! Doch vernünftige Telefonleitungen gab es immer noch nicht in Alburquergue.
Eine alte Frau, die barfuß an der Straße entlang lief und süßgekochten, in Bananenblättern eingewickelten Reis verkaufte, winkte den Polizeioffizier zu. „Kumusta, Polo“, rief sie ihm bei seinem Nicknamen zu. Chrispolo stoppte den Jeep. „Kumusta. Was willst Du? Ich habe keine Zeit.“
Die Frau beugte sich in den Jeep hinein. „Du kümmerst Dich doch um die tote Amerikanerin?“ fragte sie.
„Das war keine Amerikanerin“, antwortete er unwirsch. „Lass mich jetzt. Ich habe keine Zeit.“
Die Frau blickte sich um und flüsterte dann: „Aswang!“
„Was sagst Du da?“
„Aswang, sagte ich. Eine Aswang war da! Ich habe sie gespürt. Sie holte sich das Baby von der Amerikanerin.“
„Lass mich mit Deinen abergläubigen Gefasel in Ruhe. Im ganzen Bario kennt man Deine Geistergeschichten“, knurrte Chrispolo und gab ohne ein Abschiedswort Gas.
Wieder zurück an seinem Schreibtisch gab er Jose auf, die Frauenärztin in Tagbilaran ausfinden zu machen. Jose telefonierte per Handy mit den Kollegen in der Provinzhauptstadt und trat dann an den Schreibtisch von Crispollo. „Du hast kein Glück, heute,“ sagte er.
Crispollo blickte erstaunt auf. „Wieso. Was sagt die Ärztin?“
„Nichts, Sie kann nichts mehr sagen. Vor ein paar Tagen lief sie vor einen St. Jude-Bus und ..., na ja, Du kannst Dir denken, was von ihr übrig blieb.“
„Scheiße“, sagte Chrispolo, er stützte nachdenklich den Kopf in seine Hände. „Ruf noch einmal in Tagbilaran an. Ich will genau wissen, wie es passiert ist. Zwei Tote, die sich kannten. Ist das nicht seltsam?“
Jose schüttelte den Kopf. „Du kennst den Verkehr in Tagbilaran. Da kommt so etwas immer vor. Wenn es kein Bus ist, dann ist es eben ein Auto. Aber passieren tut es.“
„Trotzdem, ich will alles darüber wissen. He, halt, Jose – kommt noch mal. Was weißt Du über eine Aswang?“
Jose Calipan spitzte die Lippen. „Jesus! Den bösen Geist, der die Kinder im Mutterleib frisst? Was soll das jetzt? He – Du willst doch nicht etwa damit die fehlende Schwangerschaft erklären? Pass auf, dass Du nicht für verrückt erklärt wirst. Ich sag Dir etwas. Die tote Französin und ihr deutscher Mann haben sich ein Kind gewünscht. Klar, viele Kinder wünscht sich jeder. Sie haben es sich so sehr gewünscht, dass beide schließlich glaubten, es sei so weit. Dann fuhr sie zu der Ärztin um sich untersuchen zu lassen. Doch die Frau Doktor sagte, es ist nichts, kein Kind, keine Schwangerschaft. Die Frau kam ärgerlich zu ihren Mann zurück, warf ihm vor, ihr noch nicht einmal ein Kind machen zu können, der Mann flippte aus und...“ Jose machte eine Handbewegung, als steche er mit einem Messer.
Chrispolo lächelte. „Du hast bestimmt recht. Aber ich will mir die Sache mit der Ärztin doch noch einmal genauer anschauen.“
Am Nachmittag fuhr Crispollo selbst in die Provinzhauptstadt von Bohol. Das Gespräch mit den dortigen Kollegen brachte ihn jedoch nicht weiter. Der Fahrer des Busses hatte ausgesagt, die Frauenärztin sei urplötzlich aus einer Menge am Straßenrand auf die Straße getreten. Er habe nicht mehr rechtzeitig bremsen können. Die Ärztin sei sofort tot gewesen. Das war einen Tag, bevor Michelle Kaufmann er-stochen wurde. Nach dem Protokoll hatte ein Zeuge – nach etwas Besonderem befragt – angegeben, eine junge Ausländerin in der Nähe gesehen zu haben. Aber Chrispollo wollte nicht spekulieren. In Tagbilaran gab es relativ viele Fremde. Es musste sich nicht unbedingt um die tote Französin gehandelt haben. Und überhaupt, das Ganze gab keinen Sinn. Chrispollo klappte die Akte zu. Weitere Erkenntnisse konnte er daraus nicht gewinnen. Bei einem Verkehrsunfall wurden nicht allzu viele Ermittlungen durchgeführt; entsprechend mager waren die Protokolle.
Crispollo lies sich von einem der örtlichen Polizisten zur Praxis der Ärztin fahren. Sie befand sich in einem neueren Bürohaus in der Innenstadt im ersten Stock. Die beiden Polizisten stiegen die Treppe hinauf. Chrispollo klopfte an der Tür ohne große Hoffnung. Er war darauf vorbereitet, den Eingang aufbrechen zu müssen. Doch der erwies sich als unverschlossen. „Hallo, Kumusta!“ rief er in die leeren Räume aber niemand war da. Crispollo besah sich die Eingangstür näher und deutete auf das Schloss. „Es scheint aufgebrochen zu sein“, stellte er mit einem fachmännischen Blick fest. „Lass uns einmal in der Praxis umsehen.“ Die Beamten streiften durch die Zimmer, Chrispollo steuerte in der Büroecke auf den Kasten mit den Karteikarten zu. Offenbar die Patientendaten. Vielleicht stand etwas über die Tote darinnen. Er begann zu blättern. „Sie wird sie doch wohl alphabetisch sortiert haben“, murmelte er. Aber weder unter dem Buchstaben K noch an anderer Stelle fand er einen Hinweis darauf, dass eine Michelle Kaufmann jemals als Patientin in dieser Praxis gewesen war.
Der andere Polizist kam auf Chrispollo zu. „Die medizinischen Instrumente sind noch da und selbst der Medikamentenschrank ist verschlossen und wurde nicht aufgebrochen. Offenbar hat der Einbrecher nur Geld gesucht“, sagte er. Auf der Wache werden wir ein Protokoll aufnehmen und die Angehörigen der Frau Doktor informieren.“
Der Polizeibeamte aus Alburquerque starrte auf den Karteikasten. „Irgendwie verstehe ich alles nicht mehr“, murmelte er. Dann erhob er sich. „Lass uns gehen. Ich glaube nicht, dass wir hier noch etwas finden werden.“
Sie stiegen wieder in den Polizeiwagen. „Setz mich bitte beim Bohol Quality ab, bat Crispollo seinen Kollegen aus Tagbilaran, „Ich will noch etwas kaufen. Wir haben bald Hochzeitstag und ...“
Im Kaufhaus fand Crispollo jedoch nichts passendes, jedenfalls nichts, was er hätte bezahlen können. Er streifte noch etwas durch die angrenzenden Geschäftsstraße, ging auch durch die Gänge des Kaufhauses Alturas und wollte sich schon ein Tricycle nehmen, um zu seinen Jeep zurückzugelangen, als ihm eine Idee kam. In der Nähe lag ein Restaurant, dass deutsche und schweizer Spezialitäten – oder zumindest das, was der philippinische Koch dafür hielt – anbot. Für einen normalen Filippino war das Lokal viel zu teuer, aber Ausländer, vor allem Deutsche, trafen sich dort häufig. Es gab dort nur wenige Tage alte deutsprachige Zeitungen, die immerhin über Ereignisse in der Heimat informierten. Vielleicht hatte er Glück und Welf Kaufmann war dort. Irgendwo musste er ja stecken, wenn er nicht schon längst auf einer anderen Insel war. Chrispollo zog das Foto, das er von Dr. Baseler erhalten hatte, aus seiner Hemdtasche und betrachtete es kurz. Der Deutsche war selbst für europäische Verhältnisse ein großer Mann. Er würde ihn ohne Zweifel sofort erkennen. Chrispollo Dayon machte sich auf den Weg.
Im Restaurant war nicht viel los. Ein hellhäutiger Mann saß in Gedanken vertieft vor einem Tisch und starrte in sein halbvolles Bierglas. Daneben stand eine Flasche. Immerhin hatte der Mann einen guten Geschmack. San Miguel war das beste Bier, was es in Tagbilaran gab „He Jo“, sprach ihn Chrispollo an. Der Mann blickte auf. Es war nicht Welf Kaufmann. Chrispollo winkte ab. „Sorry."
„Ich hatte mir gedacht, dass Sie kommen“, hörte der Polizeioffizier eine englischsprachige Stimme mit starkem Akzent hinter sich. Er wirbelte herum und blickte Welf Kaufmann ins Gesicht. Als er einen Schritt auf ihn ging, hob dieser abwehrend die Hände. „Nein, bitte halten Sie Abstand. Es ist wichtig. Kommen Sie bitte mit nach draußen. Ich muss allein mit Ihnen reden. Es ist gut, dass Sie gekommen sind. Eigentlich hätte ich zu Ihnen kommen müssen. Aber so viel Macht hat es bereits über mich, dass es mich daran hindern konnte. Vielleicht bin ich auch nur zu feige. Aber nun bin ich froh, dass Sie da sind. Bitte, kommen Sie“
Seine Hand locker auf den Griff der im Halfter steckenden Pistole gelegt, folgte Chrispollo den Deutschen. Sie gingen um das Haus herum und bleiben in einem Hinterhof stehen. Wieder hob der Ausländer die Hände. „Bitte – nicht näher kommen. Es springt über.“
„Was meinen Sie?“ fragte Chrispollo verwirrt.
Der Deutsche, der sich Welf Kaufmann nannte, machte einen gequälten Gesichtsausdruck. „Es ist jetzt in mir. Es will mich beherrschen. Sie müssen mich erschießen, eher es ganz die Macht über mich erlangt!“
„Wenn Sie Ihre Frau umgebracht haben, wird ein Gericht über Sie urteilen. Kommen Sie. Ihre Archäologen-Freunde werden sicherlich einen guten Anwalt für sie finden. Und ich werde dafür sorgen, dass Ihre Botschaft informiert wird.“
Kaufmanns Gesicht verzerrte sich. „Nein, nein. Sie verstehen überhaupt nichts. Es ist in mir. Sie müssen mich erschießen!“
„Mr. Kaufmann, haben Sie ihre Frau getötet?“
„Bitte. Ich habe sie nicht getötet, nur ihren Körper. Es hat sie schon vorher umgebracht, sie und unser Kind. Nun ist es in mir.“
„Was ist in Ihnen?“
„Ich, ich weiß nicht. Etwas, etwas sehr Altes, sehr Böses. Es hat lange geschlafen in dieser versunkenen Stadt. Als Michelle die Steinkiste öffnete, ist es in sie gedrungen. Es hat sie langsam zerstört, sie und unser Kind. Es will leben und herrschen. Es lebt von den Menschen, die es besitzt. Es hat Michelle zu einer Hülle gemacht.“
Der große Mann begann zu weinen. „Es hat ihre Persönlichkeit innerlich aufgefressen. Es muss langsam gegangen sein. Es hatte anfangs noch nicht die Kraft, sie voll zu übernehmen. Michelle hatte immer wieder klare Augenblicke und gemerkt, dass da irgendetwas vollkommen Fremdes in ihr war. Sie hat gemerkt, wie es zuerst unser Kind aufgefressen hat. Sie hat um unser Kind geweint. Und ich habe es nicht glauben können. Aber Michelle alleine konnte sich nicht mehr richtig wehren. Es war zu stark. Michelle versuchte mir Hinweise zu geben, soweit das Ding sie noch nicht steuerte, aber sie konnte es sich nicht mehr aufhalten und ich, ich habe nichts gemerkt, obwohl es doch so offensichtlich war. Ihr Verhalten, ich habe mir nichts dabei gedacht. Aber dann, ihre Augen, ihre Augen...“ Tränen strömten aus seinen Augen, er schluckte. „Und dann waren wir bei ihrer Frauenärztin. Die Ärztin muss irgendetwas festgestellt haben. Sie wollte jedenfalls noch einmal mit mir allein sprechen, ohne Michelle. Wir haben uns für den nächsten Tag verabredet, aber sie ist nicht gekommen. Sie ist einfach nicht in ihre Praxis gekommen. Ich habe vor ihrer Tür gewartet, aber sie kam nicht.“
„Die Ärztin ihrer Frau ist tot“, sagte Chrispollo.
„Das war es! Es hat Macht, es tötet! Ich weiß nicht, weshalb ich diesem Etwas noch widerstehe, obwohl es nun in mir ist und mich beherrschen will. Vielleicht macht mich mein Hass auf dieses Ding so stark. Aber seine Macht wird immer größer. Bald kann ich nicht mehr wiederstehen. Dann wird es auch mich zerstört haben und nur noch meinen Körper nutzen. Bitte, Michelle ist tot, unser Kind ist tot, schießen Sie, solange es noch in mir ist. Aber halten sie Abstand, damit es mit mir stirbt.“
„Haben Sie Ihre Frau erstochen?“ fragte Chrispollo noch einmal.
„Wir wollten zusammen im Pool schwimmen. Michelle war da scheinbar fast wieder normal. Dann hatte sie plötzlich – ich weiß nicht woher – ein Messer in der Hand. „Töte mich, ich bin nicht mehr ich!“ hat sie gesagt, „etwas Böses ist in mir. Es hat mein Kind gefressen.“
„Und dann haben Sie sie erstochen? Einfach so, weil Ihre Frau es gesagt hat?“
Der Deutsche schüttelte heftig seinen Kopf. „Nein, natürlich nicht. Was denken Sie denn? Ich wollte ihr das Messer wegnehmen. Sie wehrte sich und dann – irgendwie ist es passiert. Ich weiß nicht ...“
Zögernd streckte Chrispollo seine linke Hand aus. „Kommen Sie, ich werde dafür sorgen, dass sich ein Arzt um Sie kümmert.“
„Nein! Kein Arzt kann mir helfen. Niemand mehr kann mir helfen und dieses Ding vertreiben. Es wird immer stärker. Ich kann nicht mehr. Sie müssen schießen!“ Der Deutsche knickte ein und sank auf die Knie. Dann schrie er kurz, Speichel bildete Schaum vor seinem Mund, er wälzte sich kurz auf den dreckigen Boden. Danach erhob er sich, als wäre nichts geschehen, wischte mit dem Handrücken über den Mund und klopfte den Staub von seiner Hose ab. „Verzeihen Sie“, sagte er dann zu dem Polizisten. „Ich habe mich nicht wohl gefühlt. Aber nun bin ich wieder in Ordnung. Wir können jetzt gehen. Ich denke, ich bin verhaftet.“
„Sind Sie okay, Mann?“ Chrispollo blickte misstrauisch. Welf Kaufmann nickte. „Sicherlich. Ich komme mit und mache keine Schwierigkeiten.“ Er breitete seine Hände aus und kam auf Chrispollo zu. „Sehen Sie, ich bin unbewaffnet.“
Der Polizist aus Alburquerque schaute Kaufmann beim näher kommen ins Gesicht. „He, was ist das? Was ist mit Ihren Augen? Sie sehen so seltsam aus, wie ...“
Es klapperte. Ein Küchengehilfe des Restaurants, fast noch ein Kind, brachte einen Eimer Müll heraus. Chrispollo drehte sich kurz nach den Jungen um. Der Deutsche nutzte die Gelegenheit, griff nach der Waffe des Polizeioffiziers und versuchte, sie in die Hand zu bekommen. Chrispollo war nicht schwach, aber der Deutsche schien über Kräfte zu verfügen, die es dem Polizisten nicht leicht machten. Es kam zu einem Handgemenge. Chrispollo versuchte, seinem Gegner die Pistole wieder zu entwinden. Mit einem kurzen scharfen Knall löste sich plötzlich ein Schuss. Er traf den deutschen Archäologen in die Stirn. Im Fallen berührte der Mann kurz Chrispollos Hand, dann sank er zu Boden.
Chrispollo trat einen Schritt zurück. Dann fühlte er etwas Kaltes von seiner Hand in sich herauf kriechen. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. „Was ist das?“ dachte er noch, dann starben seine Gedanken in einem eisigen Wind, der nur in seinem Kopf stürmte und brodelte.
Der Polizeioffizier bückte sich und hob die Waffe auf. Er drehte sich zu dem vor lauter Angst erstarrten Küchengehilfen um. „Was stehst Du da dumm herum und glotzt mich an? Verschwinde! Ich habe nur einen Mörder erwischt“, herrschte er den verdatterten Jungen an. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, drehte sich der junge Mann um und lief wieder in den Hintereingang des Hauses.
Nun zog der Polizeioffizier einen kleinen Taschenspiegel aus seiner Hemdtasche und betrachtete seine Augen. Sie leuchteten tatsächlich etwas seltsam. Das konnte andere irritieren. Er würde wohl nun ständig eine Sonnenbrille tragen müssen, damit er nicht auffiel. Schließlich hatte er noch sehr viel vor.