- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Astrids kleines Abenteuer
„Heutzutage spielen die Kinder ja kaum noch mit Holz. Dabei ist es der natürlichste Werkstoff und …“
Astrid seufzte. Sie befürchtete, dass sich ihr Vater von dem bärtigen Verkäufer mit den strähnigen Haaren bequatschen lassen würde. Die beiden schienen jedenfalls gut miteinander auszukommen, so angeregt wie sie sich unterhielten. In ihren Gedanken sah sie bereits die Hälfte des Ladeninventars unter ihrem Weihnachtsbaum liegen. Bauklötze und Murmelbahnen, dafür war sie doch schon viel zu alt! Sie wünschte sich einen eigenen Fernseher für ihr Zimmer. Doch je länger der Bärtige ihrem Vater seine Vorstellungen von „pädagogisch wertvollem Spielen“ näher brachte, desto mehr sah sie die Chancen dahinschwinden. Trotzig kämpfte sie sich einen Weg durch Pappkartons frei und schüttelte mühsam ein Mobilé ab, das sich in ihren langen blonden Haaren verfangen hatte. Seinen Sinn für Unordnung sollte der Bärtige ihrem Vater vermitteln, dann müsste sie vielleicht nicht mehr so oft ihr Zimmer aufräumen.
Der Laden war größer, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Von dort aus, wo sich Astrid nun befand, konnte sie die Stimmen der beiden nur noch gedämpft hören. Vor ihr befand sich eine schmale Tür, die einen Spalt breit offen stand. Astrid zögerte. Der Raum dahinter gehörte ganz sicher nicht mehr zum eigentlichen Laden. Doch es konnte nicht schaden, sich dort etwas umzusehen. Ihr Vater war beschäftigt und sie würde zurück sein, bevor jemand etwas bemerkte. Sie gab sich einen Ruck und trat ein. In dem Raum war es fast völlig duster. Nur eine von der Decke baumelnde Glühlampe, der die Verkleidung abhanden gekommen war, spendete etwas Licht. Unzählige Kartons und Kisten waren zu meterhohen Türmen aufgestapelt, die fast bis an die Decke reichten. Astrids Schritte wirbelten eine Menge Staub auf und sie musste husten. In einem Regal standen einige schmutzige Glasbehälter. Sie sahen aus wie die Einmachgläser, in denen Astrids Oma selbst gemachte Marmelade aufbewahrte. Für einen kurzen Moment blitzte es in einem der Gläser grell auf. Es war so schnell vorüber, dass Astrid sich fragte, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Trotzdem trat sie näher heran und versuchte im Dämmerlicht etwas zu erkennen. In dem Glas bewegte sich etwas. Vielleicht eine Fliege, dachte Astrid. Und wenn es keine Fliege war? Vorsichtig nahm sie das Glas aus dem Regal und kletterte auf einen der Kartons, der unter ihrem Gewicht glücklicherweise nicht zusammenbrach. Mit beiden Händen hielt sie das Glas unter die Glühlampe. Der Anblick ließ Astrid beinahe vom Karton purzeln. Ein winziges Wesen flatterte im Inneren des Behälters auf und ab. Es war mit Sicherheit kein Insekt. Das Geschöpf sah wie ein Mädchen aus. Es war nur viel kleiner und hatte bunte Flügel wie ein Schmetterling.
„Astrid!“ Die Stimme ihres Vaters klang gereizt. Eilig stopfte sie sich das Glas unter die Jacke und hielt es mit einer Hand fest, damit es nicht hinunterfiel und zerbrach. Ihr Vater empfing sie an der Tür.
„Da darf man nicht rein, das ist der Lagerraum“, schalt er und packte Astrid am Arm. Neben ihrem Vater stand der Verkäufer und lächelte verständnisvoll.
Als sie das Geschäft verließen, hatte Astrid ein flaues Gefühl im Magen. Etwas einfach mitzunehmen, ohne zu bezahlen, das war Diebstahl! Der Bärtige würde das Glas wohl nicht verkaufen wollen, dazu war es viel zu dreckig. Zudem hatte sich das Wesen in dem kalten und dunklen Lagerraum bestimmt nicht besonders wohl gefühlt. Doch alle Beteuerungen halfen nichts. Als Astrid schließlich in den Wagen stieg, fühlte sie sich noch immer schlecht.
Ihr Vater sprach die Heimfahrt über kaum ein Wort. Als der Wagen nicht sofort angesprungen war, hatte er sie immer wieder mit düsteren Blicken gemustert, als ob sie absichtlich Eiswürfel unter der Motorhaube platziert hätte. Astrid blickte aus dem Fenster und sah zu, wie zahllose Schneeflocken die Umgebung in strahlendes Weiß tauchten. Sie dachte an das Wesen unter ihrer Jacke und wie gerne sie nachschauen würde, ob es ihm gut ging. Doch die Autofahrt schien sich endlos in die Länge zu ziehen. Astrid platzte beinahe vor Ungeduld.
„Du sollst dich doch nicht immer mit Kuchen voll stopfen.“ Ihre Mutter deutete auf die Wölbung, die sich unter Astrids Winterjacke deutlich abzeichnete.
„I-Ich hatte einen Bärenhunger“, stotterte Astrid und beeilte sich die Treppe zu ihrem Zimmer hoch zu stürmen, bevor ihre Mutter die Gelegenheit dazu hatte, nachzuhaken. Hastig verriegelte sie die Tür hinter sich und ließ sich erschöpft aufs Bett sinken. Nachdem sie einige Male tief durchgeatmet hatte, holte sie das Glas hervor. Hatte sie sich vielleicht doch alles nur eingebildet? Kleine Menschen mit Flügeln auf dem Rücken gab es doch gar nicht …
Erleichtert stellte sie fest, dass das Geschöpf noch immer in dem Glas umherflatterte. Es sah traurig aus. Fühlte es sich in der engen Behausung unwohl? Mit aller Kraft versuchte sie den Deckel abzuschrauben, aber ihre Finger rutschten immer wieder ab. Doch schließlich gelang es ihr.
„Danke“, ertönte eine helle Stimme. Das Wesen schwebte jetzt direkt vor Astrids Nase.
„Gern geschehen“, erwiderte sie verdutzt.
„Darf ich?“ Das winzige Geschöpf blickte zu der Tulpe hinüber, die in einer Vase auf Astrids Fensterbrett stand.
„Ja, natürlich.“
Gierig knabberte es an den Blütenblättern und seufzte: „Die ist ja schon fast vertrocknet. Aber es ist immer noch besser als gar nichts.“
„Ich besorge morgen frische Blumen für dich. Aber was bist du überhaupt? Du siehst aus, wie ein kleiner Mensch.“
„Mensch?“ Das Wesen rümpfte das zierliche Nässchen. „Der uralte Baum möge mich behüten. Ich bin eine Fee. Wir Feen sperren keine anderen Lebewesen in Einmachgläsern ein.“
„Dafür essen wir keine Blumen.“ Die Fee warf ihr einen gekränkten Blick zu.
„Tut mir leid“, beeilte sich Astrid. „Aber wer hat dich denn in das Glas gesperrt?“
„Naja“, die Fee senkte verlegen den Kopf.
„Ein bisschen war es meine eigene Schuld. Wir leben am Fuße eines großen Baumes und sorgen dafür, dass er immer genügend Wasser bekommt. Die anderen jungen Feen und ich sollen uns nicht zu weit von seinen Wurzeln entfernen. Doch ich war es Leid, immer nur um den Baum herum zu schwirren. Ich wollte sehen, was es sonst noch gibt auf der Welt. So flog ich eines Tages viel weiter fort, als ich es je zuvor getan hatte und entdeckte schließlich eine wundervolle Wiese.“ Die Augen der Fee leuchteten.
„Dort wuchsen ganz andere Blumen, die herrlich dufteten. Der Anblick hatte mich so gefesselt, dass ich keine Augen mehr für das hatte, was um mich herum geschah. Das war mein Fehler.“ Ihr winziges Antlitz verdüsterte sich.
„Ein kleiner Junge sprang im Gras umher und versuchte mit einem Netz Schmetterlinge zu fangen. Die Schmetterlinge waren zu flink. Aber mich hat er schließlich erwischt. Ich kämpfte wie eine Löwin, doch es half nichts. Schließlich packte mich der Junge mit seinen groben Fingern und stopfte mich in das Glas. Ich habe noch immer blaue Flecken wegen dieses Barbaren“, empörte sie sich.
„Dann musst du aber lange in dem Glas eingesperrt gewesen sein“, wunderte sich Astrid. „Jetzt im Winter blühen keine Blumen.“
„Dort wo ich herkomme, ist es das ganze Jahr über Frühling.“ Die Fee klang wehmütig.
„Und wie bist du in den Lagerraum von dem Spielwarenladen gekommen?“
„Irgendwann warf die Mutter des Jungen beim Aufräumen das Glas auf den Müll. Es war ziemlich schmutzig und mich hatte sie nicht bemerkt. Das Nächste an was ich mich erinnern kann, ist das dunkle modrige Loch, in dem du mich gefunden hast.“ Sie schüttelte sich.
„Zum Glück war ich nicht allzu lange dort.“
„Was hast du jetzt vor?“, fragte Astrid die Fee.
„Ich denke, es ist Zeit für mich heimzukehren.“
„Du willst schon gehen?“
Die Fee bemerkte Astrids enttäuschtes Gesicht und seufzte.
„Die anderen Feen machen sich bestimmt große Sorgen um mich. Außerdem vermisse ich die Wärme und den Sonnenschein.“
„Findest du denn alleine zurück?“
„Wir Feen wissen immer, wo wir uns auch befinden mögen, in welcher Himmelsrichtung unser Baum liegt.“
„Wie ein Radar“, staunte Astrid.
Die Fee zögerte.
„Du lässt mich doch gehen, oder?“
„Natürlich“, sagte Astrid leise.
Behutsam zog sie die Vorhänge beiseite und öffnete ihr Fenster. Kalter Wind drang in das Zimmer. Kleine, weiße Flocken glitten in der Dunkelheit vorüber.
„Ich komme dich irgendwann besuchen. Versprochen. Du hast mir das Leben gerettet und das werde ich nie vergessen.“
Die Fee schwebte in der Fensteröffnung und winkte Astrid ein letztes Mal mit ihrer winzigen Hand zu. Dann flog sie davon. Traurig blickte Astrid aus dem Fenster und versuchte die Fee zwischen den Schneeflocken auszumachen. Die Kälte blies ihr ins Gesicht. Schließlich gab sie auf. Sie schloss das Fenster und murmelte ein leises Lebewohl.