Aschenputtel und der Sinn des Lebens
Aschenputtel und der Sinn des Lebens – oder: Als die Welt ohne Aschenputtel noch in Ordnung war.
Wir waren wieder einmal zu Besuch bei unseren zwei Enkelkindern, Anna und Kathi, herzige blonde Prinzessinnen, zum verwechseln ähnlich, bei eineiigen Zwillingen tut sich ein jeder schwer, selbst für die Elternteile oftmals ein Rätselspiel.
Im Sommer werden sie 5 Jahre alt, dementsprechend aufgeweckt und wißbegierig, freudig uns zu sehen, gab ja bei jedem Besuch entweder Malstunden mit mir oder Märchenvorlesungen durch die Oma.
Ich hatte das leichtere Los gezogen, meine zwei Mädchen wollten nur Pferde, so mußte ich stets Pferde zeichnen, Papapferde und Mamapferde, aber auch viele kleine Pferdchen, schließlich haben Papapferde und Mamapferde auch Nachwuchs.
Werde auch deswegen von den beiden liebevoll Pferdeopa genannt, warum die Liebe zu den Pferden so ausgeprägt ist, kann keiner erklären, als Spielzeug sind ihnen Pferde lieber als Puppen.
Überall müssen Pferde sein, auf den Pullovern oder Tellern, kaum ein Gegenstand, wo nicht ein Pferdemotiv darauf zu erkennen ist.
Oma hatte es jetzt schon schwerer mit ihren Märchenerzählungen, ja früher war es noch leicht, man stellte keine Fragen, aber nun kamen sie pausenlos über die Lippen der Kleinen.
Oma liest du uns heute ein Märchen vor?
Selbstverständlich lese ich euch ein Märchen vor, heute habe ich euch ein schönes Märchen über Aschenputtel mitgebracht.
Anna und Kathi rückten in freudiger Erwartung nahe an Oma dran.
Oma schlug die erste Seite des Märchenbuches auf und begann zu lesen.
Gespannt hingen die Augen der beiden Mädchen an ihren Lippen.
Oma begann nun vorzulesen.
Aschenputtel besuchte das Grab ihrer Eltern, brachte Blumen mit, die Raben auf dem Grabstein blickten ihr neugierig entgegen.
Die Eltern von Aschenputtel sind jetzt tot und liegen unter der Erde begraben.
„Warum sind die Eltern tot?“ fragte Kathi.
Oma stockte kurz und sah mich wortringend und hilfesuchend an.
„Was ist tot?“ bohrend kam die nächste Frage von Anna.
Noch immer kam keine Antwort, Oma blickte in die Runde, fand aber nur gesenkte Blicke vor.
Ungeduld machte sich bei den Kindern breit, warum sind die tot, kam nochmals die Frage?
Na ja, weil sie gestorben sind, und jetzt liegen sie unter der Erde und die Raben sitzen auf den Grabstein und passen auf.
„Warum passen die Raben auf?“
Später vielleicht erkläre ich euch das, jetzt lese ich euch das Märchen weiter.
Weil die Eltern gestorben sind, ist jetzt Aschenputtel so arm und hat gar nichts zu essen.
„Warum hat die nichts zu essen?“ kam schon wieder die nächste Frage.
Na, weil die Eltern gestorben sind und Aschenputtel jetzt ganz alleine auf der Welt ist und jetzt um ein Stück Brot betteln muß.
„Warum muß man sterben?“ „Mußt du auch sterben?“
Na ja, ich muß auch einmal sterben.
„Mama auch?“ „Und Papa?“
Wir kommen gar nicht weiter mit dem Märchen, jetzt werde ich weiterlesen und ihr hört mir brav zu.
Gedankenverloren und fragend blicken nun die zwei Mädchen mich an.
„Müssen wir auch sterben Opa?“ fragten sie mich nun direkt.
Hätten sie mich um die Einsteintheorie gefragt, ich hätte kein Problem gehabt, aber was soll ich nun antworten?
Oma kommt gar nicht dazu euch das Märchen vorzulesen wenn ihr dauernd Fragen stellst, meinte damit, mich vor einer Antwort zu drücken.
„Wenn Papa und Mama gestorben sind, haben wir da auch nichts zu essen?“
Ich wünschte, ich könnte Pferde zeichnen, der traurige Blick in den Kinderaugen machte mir zu schaffen.
Also Anna und Kathi, das ist doch nur ein Märchen, keiner von uns muß sterben, wir sind doch alle da, war meine verlegene Antwort.
Dachte mich gerettet zu haben und Oma kann jetzt endlich das Märchen weiter erzählen.
„Aber die Eltern sind doch tot und Aschenputtel ist jetzt so alleine und hat Hunger“, Anna wollte es genau wissen.
Na ja, tot sind sie schon, aber das ist doch nur ein Märchen, alle Versuche von dem Thema wegzukommen schlugen fehl.
Anna und Kathi waren völlig aus dem Gleichgewicht geworfen, irgendwie war eine Welt in ihrer naiven Phantasie zusammengebrochen.
Ich versuchte zu retten was zu retten war.
Mein Versuch, ihnen zu erklären, wenn man ein hohes Alter erreicht, ja dann müssen alle Menschen einmal sterben, brachte keine Entspannung der Situation, im Gegenteil, es kamen neue hinzu.
„Und wenn du tot bist, liegst du dann auch am Friedhof?“
Es schien ausweglos zu sein, man mußte sich den Fragen stellen, die so ein Kinderherz bewegten.
Ja, wenn man tot ist, dann kommt man am Friedhof und findet dort seine letzte Ruhestätte.
Aber es liegt dort nur der Körper, und der Körper fühlt nichts mehr, keine Kälte und die Finsternis bemerkt man auch nicht mehr, die Seele ist aber schon längst beim lieben Gott im Himmel.
Neue Überlegungen las ich in den Augen der Kinder ab, sie gaben sich einfach mit den gegebenen Antworten nicht zufrieden.
Ich mußte die Verworrenheit die bei den Kindern entstanden ist entflechten.
Wir kommen alle in den Himmel und alle Menschen würden sich dort wiedersehen, war schwierig für mich, ihnen den Begriff der Seele verständlich zu machen.
Eine Weile war es still, Oma war schon am Verzweifeln, wollte ja ihr Märchen zu Ende lesen, ich blickte auch ein wenig ratlos, starrte auf ein Bild, als wäre es Mona Lisa, bis Kathi wieder den faden aufnahm.
„Kommen Pferde auch in den Himmel?“
Die nächste Hürde gab es zu nehmen, wie sollte ich Kathi erklären, daß nur Menschen in den Himmel kommen und keine Pferde.
Hier eine Antwort zu finden schien mir noch schwerer zu sein als die vorangegangenen.
Was soll ich bloß antworten, sich ständig räuspern, verzögert zwar etwas die Zeitspanne, abwenden und ein neues Thema beginnen hilft wahrscheinlich auch nicht wirklich, zaghaft nach Worten ringend, erklärte ich, daß es einen eigenen Himmel für alle Pferde gibt, genauso einen eigenen für Elefanten oder Krokodile, sonst würden die ja noch zum streiten anfangen, wenn man sie alle zusammen läßt.
Zwar etwas skeptisch dreinblickend, aber meine Antwort dürfte doch befriedigend ausgefallen zu sein.
„Wie kommen denn die Tiere in den Himmel, kommen die auch auf einen Friedhof?“
Irgendwie wollte ich davonlaufen, hätte Oma bloß keine Märchenbücher gekauft, wir könnten Karten spielen oder Zeichentrickfilme gucken, aber nein, Märchen mußte sie vorlesen.
Alle Tiere haben einen eigenen Friedhof und wenn sie gestorben sind, dann fliegt auch ihre Seele in den Himmel.
„Wie fliegen die Tiere in den Himmel?“ kam die nächste Frage von Kathi.
Verzweifelt sah ich mich um, entdeckte aber nirgends hochprozentiges, in dieser Situation hätte ich einen oder gar zwei vertragen, na gut, da muß man durch und suchte schon wieder eine plausible Antwort.
Da gibt es doch die Engeln die euch immer beschützen, ihr kennt sie doch, man sieht sie nicht, aber sie sind ständig um uns.
Und wenn jetzt ein Mensch oder ein Tier stirbt, dann nehmen die Engel uns mit, und wir fliegen mit ihnen in den Himmel.
„Wir haben im Kindergarten viele Pferde, wenn die dann alle im Himmel sind, können wir die Pferde dann auch besuchen?““
Die Fragen hörten nicht auf, was für ein seelisches Dilemma hat die Oma mit dem Aschenputtel da nun angerichtet.
Na klar könnt ihr die Pferde besuchen, ihr könnt stundenlang auf ihnen durch den Himmel reiten ohne das euch etwas passiert, die Engeln beschützen euch doch.
Einige Augenblicke war es still, die Kinder schienen sehr nachdenklich zu sein, es dauerte lange bis eine Bemerkung kam, aber die machte mich dann doch ein wenig stutzig, Kathi meinte mit einem verklärten Blick, „im Himmel muß es wunderschön sein.“
Ich lächelte, darauf hatte ich keine Antwort mehr.